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Mitternacht in Dublin
Mitternacht
„Soll ich Sie mitnehmen? Steigen Sie ein.“ Ein Geländewagen. Nur ein Fahrer, keine weiteren Insassen. Dieser musterte David neugierig aber nicht misstrauisch. David sah nicht aus wie ein Straßenschläger. Zu hübsch, zu jung. Nicht zu jung für einen normalen Achtzehnjährigen, aber zu jung, um einer von jenen zu sein, die normalerweise um diese Zeit in diesem Teil der Stadt ihr Unwesen trieben.
David stieg ein. Sein Atem ging noch immer flach, die rechte Hand zitterte. Was hatte er für ein Glück. Mehr als er verdiente. Er war nie zuvor per Anhalter gefahren. Und jetzt hatte es sofort geklappt, ein Fluchtfahrzeug, das ihm die angenehme Rolle des passiven Mitfahrers ermöglichte, ihm den aktiven Part abnahm.
„Wohin soll es denn gehen, junger Freund, so spät am Abend?“ Ein komplizenhafter Blick. Was sah er? Einen David, den es vielleicht zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort gegeben hätte, jemand, der er nur äußerlich war. Auf dem Weg zu einer Freundin, zu einer Party, vielleicht, und gewissermaßen war das gar nicht so abwegig, nur das die Party für ihn bereits vorbei war und sie wie auch Penelope ihm bereits so irreal vorkamen, wie andere Feste und andere Mädchen damals in jenem Leben, das immer mehr aus seinem Bewusstsein entschwand. Und auch die Nacht war unwirklich, die Stadt, der Geländewagen mit seinem Fahrer. Genau wie David selber und die Dinge, die er getan hatte und die er vielleicht noch tun würde. Und auch jene Sachen, die man ihm angetan hatte. Das einzige, was in diesem Moment existierte, war die abgrundtiefe Verzweiflung und Traurigkeit, die seinen Geist erfüllte.
„Können Sie mich zum Flughafen bringen?“ Er würde zu früh sein. Sie rechneten nicht vor Mitternacht mit ihm. Aber sie hatten gelernt, zu improvisieren. Um 23 Uhr ging eine Maschine nach Montreal, die konnte er nehmen.
Unverhohlene Neugier. „Sie sind nicht von hier? Sie sprechen wie ein echter Ire.“
Schweigen. David fiel darauf keine passende Antwort ein. Es gab wahrscheinlich keine passende Antwort. Der Fahrer zuckte mit den Schultern und stellte das Radio an. David suchte im Rückspiegel nach Verfolgern. Niemand. Möglicherweise hatte es noch gar keiner gemerkt. Vielleicht feierten sie fröhlich und rissen ihre Witze über Penelope und ihren neuen Freund Daniel, die auffällig lange in Penelopes Zimmer verschwunden waren.
„Sie haben doch Ihren Ausweis dabei?“ Unsanft wurde er aus seinen finsteren Gedanken in die andere, reale Dunkelheit zurückgeholt. „Die Polizei macht hier häufig Straßensperren. Die Zwischenfälle rund um den Flughafen haben sich in letzter Zeit gehäuft. Jede Menge unerwünschter Besuch aus dem Norden.“
Scheiße. David hatte natürlich keinen Ausweis dabei. Zumindest keinen gefälschten, mit dem anderen Gesicht, der anderen Nation, dem anderen Namen. Die neue Identität, die man für ihn erschaffen hatte. Nur den echten Ausweis trug er bei sich. David O'Raghailligh aus Portadown in Nordirland mit einem Photo, auf dem er sich noch nicht vollkommen aufgegeben hatte. Der letzte Beweis seiner Existenz, nachdem alles andere zerstört war. Bevor er mit diesem Ausweis in eine Polizeikontrolle geriet, konnte er sich genauso gut mit Maschinengewehr und Sturmhaube vor die nächste Polizeiwache stellen. Er musste raus aus dem Auto, wieder die aktiven Rolle übernehmen.
„Nein. Kein Ausweis. Was bin ich doch für ein Trottel, den zu vergessen. Ich steige wohl besser aus, nicht, dass Sie wegen mir noch Ärger bekommen.“ Der Fahrer sah ihn seltsam an. Es gefiel David nicht, warum konnte er nicht erklären.
„Nicht nötig. Ich kenne eine kleine Abkürzung durch den Wald, die der Polizei fremd ist. Bleiben Sie sitzen.“ Er bog links ab. Tatsächlich ein Wald, der Weg war eher ein Pfad als eine Straße. Das konnte nicht wahr sein. Eine Falle. Normalerweise würde niemand einen wortkargen, halbwüchsigen Touristen ohne Papiere durch halb Dublin kutschieren, sondern ihn an der nächsten Polizeiwache abliefern. Der Fahrer musste ein Polizist sein, der in diesem einsamen Wald einen Hinterhalt für seinen Antagonisten erdacht hatte. Automatisiert zog David seine Pistole aus der Jackentasche und richtete sie auf den Fahrer. „Halten Sie an! Sofort!“ Eine Vollbremsung. Entsetzt blickte der Fahrer in die Mündung von Davids Waffe.
„David O'Raghailligh?” Verwunderung. David war irritiert. Wieso war er überrascht?
„Was haben Sie denn gedacht?“ Der aggressive Tonfall, den er beabsichtigt hatte, gelang ihm nicht. Seine Stimme klang nur traurig. Was sollte er tun? Er konnte ihn nicht erschießen, selbst wenn seine Hände nicht so gezittert hätten, wäre das unmöglich gewesen. Er vermochte einfach nicht länger seine Rolle in diesem Spiel zu spielen, das er nicht erfunden hatte. Es war nicht sein Spiel, das war ihm heute klar geworden.
„Du bist zu jung und zu hübsch um ein Terrorist zu sein.“
„Ich bin auch kein Terrorist. Ich bin der Sohn meiner Eltern.“ Seine Stimme war die perfekte Symbiose von Selbstverachtung und Selbstmitleid. In den 18 Jahren seines verschwendeten Lebens hatte er diesen Tonfall perfektioniert und es gelang ihm nur selten, ihn abzulegen.
Der Fahrer musterte David jetzt genau, ihm waren die Emotionen in Davids Stimme nicht verborgen geblieben, er versuchte wahrscheinlich zu sehen, was für ein Mensch sich hinter der hübschen Hülle, die Davids Körper war, verbarg.
„Ich bin kein Polizist“, sagte er schließlich. „Ich arbeite bei einem privaten Sicherheitsdienst, den der Botschafter für die Geburtstagsparty seiner Tochter engagiert hat, zusätzlich zu der normalen Polizei. Ich sollte draußen warten und Alarm schlagen, wenn ich etwas Auffälliges bemerke. Wir wussten, dass etwas geplant ist, aber wir rechneten damit, dass es erst nach Mitternacht passiert, wenn der offizielle Teil der Geburtstagsfeier vorbei ist.“
„In meinem Herzen ist immer Mitternacht.“ Was sollte David tun? Hatte er eine Chance? Wie sah ihr Plan aus? Der Fahrer schien keine Angst vor ihm zu haben. Es war alles ziemlich seltsam. „Wieso haben Sie mich mitgenommen, wenn Sie dachten, dass ich es nicht bin?“
Der Fahrer lachte kurz und humorlos. „Sie sagen mir, es reicht, wenn ich kurz vor Mitternacht meinen Posten einnehme. Ich wollte noch schnell zu einer Tankstelle fahren, etwas zu essen kaufen. Dann sah ich dich und habe dich eben mitgenommen. Ich hatte keine Ahnung, wer du bist. Während der Fahrt sind mir dann ein paar Zweifel gekommen. Ich habe Bilder bekommen von möglichen Attentätern, aber du siehst dem Jungen auf meinem Photo nicht mehr sehr ähnlich. Du hast etwas Neurotisches, Paranoides an dir, das war es vielmehr, was mich nervös machte. Aber ich konnte es nicht glauben. Erst dann, als du die Waffe gezogen hast, war alles klar.“ Es begann zu regnen. Sehr stark. David zuckte zusammen, als die Regentropfen lautstark auf die Scheiben prasselten. Neurotisch. Paranoid. Der Fahrer hatte nicht Unrecht.
„Hast du sie getötet?“
„Ja.“ Seine Stimme war fest, doch ihm wurde übel, als das schreckliche Bild wieder in seinem Kopf erschien. Penelopes weit aufgerissene, verwunderte Augen.
Kopfschütteln. „Oh mein Gott“, murmelte der Fahrer. David wurde bewusst, dass er wohl gehofft hatte, David hätte vorzeitig die Party verlassen, weil er glaubte, seinen Auftrag nicht ausführen zu können. „Wie hast du es geschafft, dass Haus unbemerkt zu betreten? Und die Waffe? Sie haben doch die Besucher nach Waffen durchsucht.“
„Das war einfach. Penelope hat seit einigen Wochen einen neuen Freund. Daniel O`Shaughnessy, den wir eigens für sie erschaffen haben. Keiner hat gemerkt, wer er wirklich ist. Und was die Waffe angeht-“ Er stockte. „Ich habe es nicht mit der Pistole getan, das wollte ich erst, ich habe sie im Garten versteckt und wollte sie später nachts dann holen. Daher auch Ihre Informationen mit Mitternacht. Aber ich konnte nicht. Erst feiern, tun, als ob alles normal ist und sie dann töten. Sie hat sich die Nägel geschnitten. Die Schere lag noch in ihrem Zimmer. Als ich sie gesehen habe, war es eine Affekthandlung. Wenn du jetzt die Schere nimmst, hast du es hinter dir und kannst abhauen. Ich habe ihr das Ding in die Halsschlagader gerammt. Das war einfach. Mein Vater hat mir so was beigebracht. Nicht mit einer Nagelschere, aber es macht keinen großen Unterschied.“ Er musste Schluchzen. Das war einfach. Oh ja, es war einfach, viel zu einfach, so etwas Grauenhaftes.
Der Fahrer sah ihn ungläubig an. „Du hast dich an sie rangemacht, du hast wochenlang ihren Freund gespielt? Du hast mit ihr geschlafen. Sie hat dich geliebt. Und du wolltest sie von Anfang an nur töten! Und mit einer Nagelschere? Warum diese Brutalität.“ Er klang fassungslos. Sein Blick drückte Ekel und Abschaum aus.
David schluckte. Ihm war schlecht. Das psychedelische Klopfen des Regens bereitete ihm Kopfschmerzen. Es erinnerte ihn an ein Klavierstück, dass er früher einmal gespielt hatte. Der Tod und das Mädchen. Schubert. Er war der Tod und Penelope das Mädchen, vielleicht. Eher fühlte er sich wie das hilflose Opfer. „Ich habe sie weder geliebt noch gehasst. Als ich vor einigen Jahren gemerkt habe, dass ich zu solch einem grenzenlosen Hass wie meine Eltern ihn empfinden nicht in der Lage bin, musste ich mir abgewöhnen, wahre Gefühle zu empfinden um in dieser Welt leben zu können. Ich habe gelernt, Hass und Liebe perfekt zu imitieren. In den meisten Fällen klappt es gut. So schwer ist es auch gar nicht, denn der Grad zwischen beiden ist oft nur sehr schmal.“
„Du siehst aus wie ein Engel, aber du sprichst wie ein Monster.“
Ein ironisches Lachen. „Wirklich? Schauen Sie genauer hin. Der Teufel steckt im Detail. In Wirklichkeit bin ich sehr hässlich.“
Der Fahrer sah David etwas versöhnlicher an. Diese Antwort schien ihm gefallen zu haben. „Aber warum hast du sie getötet? Penelope ist doch so unschuldig. Sie kann nichts dafür. Tötest du aus Rache? Befriedigt dich das?“
„Ein Racheakt, ja. Du hast meine Eltern getötet, also töte ich deine Tochter. Ich dachte vielleicht, dass es mich befriedigen würde, mich an ihm zu rächen. Ich wollte sein Leben zerstören, so wie er meins zerstört hat. Ich hoffte, dass es mir danach besser gehen würde, doch jetzt weiß ich, dass das Unsinn ist. Es ist viel zu einfach, einen Menschen zu töten, als dass man danach Triumph empfinden könnte. Vor allem nicht mit einer Nagelschere. Es war grässlich. Ich dachte, es macht keinen Unterschied, aber es macht einen. Es ist abscheulich. Ekelhaft, das weiß ich jetzt selber. Ich verstehe nicht, wie ich glauben konnte, dass es egal ist, ob man einen Menschen einfach nur tötet oder ob man ihn noch dazu entwürdigt. “
Schweigen. Der Fahrer dachte über Davids Worte nach. David hatte immer noch das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, vor sich selbst und vor diesem Mann, für den ein Phänomen wie David schwer zu ergründen war. „Vielleicht bin ich wirklich ein Monster, aber wenn dem so ist, dann vergessen Sie nicht, dass die Gesellschaft mich dazu gemacht hat. Welche andere Chance hat der Sohn zweier Terroristen? Sagen Sie mir, was Sie an meiner Stelle anders gemacht hätten? Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen.“
Gedankenverlorenes Nicken. Der Fahrer sah auf die dunkle Straße. Der Regen wurde stärker. David hatte keinen Antrieb mehr, seine Flucht auszuweiten. Er wusste, dass seine Chancen zu überleben mit jeder Sekunde schwanden, die er in dem Auto seines Gegenspielers verbrachte, den er nicht töten konnte, nicht verabscheuen konnte, denn die Fähigkeit, Hass zu kreieren und auszuleben, das wurde ihm bewusst, hatte er in dieser Nacht verloren, als er Penelope getötet hatte. „Was sollen wir jetzt machen? Sie und ich.“
Der Fahrer fixierte Davids Augen. „Geh! Steig aus und vollende das, was du vollenden willst.“
David war verwundert. „Gehen? Sie lassen mich einfach so gehen? Wohin? In eine Falle? Rufen Sie dann Ihre Leute an?“
„Nein. Ich will nicht, dass noch mehr unschuldige Leute sterben. Du würdest schießen, David und deine Freunde, die auf dich warten, würden auch schießen. Es würden Leute sterben. Du würdest in eine weitere sinnlose Schießerei geraten, die du vielleicht irgendwann einmal, wenn du und dein Land Frieden gefunden haben, bereuen wirst.“
David war unschlüssig. Frieden? Würde er irgendwann einen Frieden finden, für den es sich lohnte, seine absurde Flucht jetzt fortzusetzen. Es war einfacher, zu sterben.
Der Fahrer legte ihm eine Hand auf die Schulter. David zuckte zusammen. „Man hat uns erzählt, dass David O'Raghailligh gefährlich und hinterhältig ist. Sie haben von jener Schießerei erzählt, in der seine Eltern, die der Führungsetage der IRA angehörten, getötet worden sind und dass David auch in diese Schießerei verwickelt war und er überlebt hat und geflohen ist. Dass er plant, das Handwerk seiner Eltern fortzusetzen. Aber das stimmt nicht. Sie haben eine Sache vergessen. Du hast ganz Recht, du bist der Sohn deiner Eltern, du hast deine Eltern geliebt, also musst du ihre Mörder hassen. Ich habe einen Sohn in deinem Alter. Wenn du mich jetzt töten würdest, würde er vielleicht etwas Ähnliches tun wie du es tust, auf einem andern Level, dass der Gesellschaft, in der wir leben, entspricht.“
„Ich habe meine Eltern sehr geliebt. Sie waren gute Eltern in vielen Punkten, dennoch habe ich sie auch gleichzeitig gehasst. Aber dann diese Schießerei. Ich war im Haus, als sie meine Eltern festnehmen wollten. Sie wollten mir meine Eltern nehmen. Wie soll ich die Welt lieben, wenn die Welt mich hasst! Ich habe mich verteidigt, ich habe geschossen, weil ich keine andere Wahl hatte. Alles andere wäre Verrat gewesen.“ David begann zu weinen. Er trauerte um seine Eltern, um Penelope und die namenlosen, toten Polizisten, um all die anderen Toten und um David O'Raghailligh, den es nicht mehr gab, der eigentlich schon vor vielen Jahren gestorben war.
Ein unergründlicher Blick des Fahrers. „Du musst jetzt gehen, wenn du eine Chance haben willst. Folge immer diesem Weg und du kommst zum Flughafen. Ich halte dich nicht auf. Und ich wünsche dir, dass du im Leben einen Sinn findest, denn du kannst nur überleben, wenn du im Töten keinen Sinn mehr siehst.“
David nickte. Er öffnete die Tür und stieg aus. Der Regen durchdrang sofort seine Kleidung. Er fror. „Ich kann nicht überleben. Denn ich bin schon tot, David O'Raghailligh ist tot. Aber vielleicht gelingt es mir ja, einen neuen David zu erschaffen, den das Leben noch nicht zerstört hat.“ Doch er zweifelte stark, ob er wirklich die Kraft hatte, jetzt noch einmal ganz von vorne zu beginnen.