- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.170
Mitternachtssnack
Sechs Tage waren seit Kais Beerdigung vergangen. Ich lag wach und starrte auf die Ziffern des Radioweckers. Drei Uhr fünfzehn. Vor einer Stunde hatte Marias Schluchzen aufgehört und war in das gleichmäßige Atmen des Schlafes übergegangen. Manchmal flüsterte sie den Namen unseres Sohnes und das Wort Nein, das sie so verzweifelt herausgeschrieen hatte, während der Sarg in das Grab hinabgelassen worden war. Der Pastor hatte ihr dabei ins Ohr geflüstert, vermutlich, dass unser Kind nun in Gottes Schoß ruhe, etwas in der Art. Ich hatte nie viel von Gott gehalten, aber als ich die Hand voll Erde in das Grab meines einzigen Sohnes warf, hatte er endgültig verschissen. Marias Atmen verfiel wieder in seinen monotonen Rhythmus.
Eine Zeit lang lag ich noch da und stellte mir vor, Kai wäre älter als drei geworden. Ich sah uns zusammen auf dem Rasen hinter dem Haus Fußball spielen. Sah mich ihm Pässe, Einwürfe und die Abseitsregel erklären. Dann legte sich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals und Tränenbäche brachen durch meine geschlossenen Lider. Ich schlug die Hand vors Gesicht und weinte, so leise es ging. Als ich merkte, dass ich anfangen würde zu schluchzen, stand ich auf und schlich die Treppe runter in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, nahm Milch heraus, wischte mit dem Oberteil meines Schlafanzuges Rotz und Tränen aus meinem Gesicht, stellte die Milch zurück, nahm mir ein Bier und schloss den Kühlschrank wieder.
Das Bier leerte ich in zwei Zügen. Es schmeckte zum Kotzen. Mein Blick fiel auf den Küchentisch, auf dem noch immer der Entschuldigungsbrief des Unfallfahrers lag. Von Trauer betäubt hatten wir offenbar vergessen, das Geschmier zu verbrennen. „Ich weiß, dass ich niemals gutmachen kann, was...“ Natürlich wusste er das. Darum hatte er einen Brief geschrieben und war nicht persönlich hergekommen.
Ich öffnete gerade eine zweite Halbliterdose Becks, als ein Schrei aus dem Garten mich herumfahren ließ. Fast hätte ich das Bier fallen lassen und wäre um ein Haar gestürzt bei dem Versuch, es festzuhalten. Ich sah aus dem halb geöffneten Fenster, und meine Vermutung, dass es sich bei dem Urheber des furchtbaren Geräuschs um eine Katze handeln musste, bestätigte sich.
In einem Loch im Rasen in einer entlegenden Ecke des Gartens sah ich das getigerte Fell des nun scheinbar leblosen Katers verschwinden, den meine Frau durch gelegentliche Zuwendungen in Form von Essensresten an uns gebunden hatte. Napoleon, wie wir ihn getauft hatten, bewegte sich, ohne dass sich seine Glieder rührten. Etwas, das ich nicht sehen konnte, verschleppte ihn. Mein Verstand begrüßte die Ablenkung von der Tatsache, dass mein Sohn in dieser Sekunde in einem Erdloch verfaulte. Ich beschloss nachzusehen, welches Mistvieh dem armen Napoleon den Rang in der Nahrungskette abgelaufen hatte.
Während ich eine Sommerjacke über meinen Schlafanzug warf, schlüpfte ich gleichzeitig ohne Socken in meine Jogging-Turnschuhe. Dann ging ich mit einer Taschenlampe und einem Nudelholz bewaffnet hinaus in den Garten. Der Bereich, in dem Napoleon verschwunden war, lag zum Teil hinter einer Pergola, wo eine alte Schubkarre langsam vom Rost aufgefressen wurde, das großzügige Erbe der Vorbesitzer des Hauses, das ich nun zum ersten mal zu Gesicht bekam. In den zwei Wochen, die wir hier gewohnt hatten, war ich kaum im Garten gewesen. Zuerst hatte meine Arbeit bei der Boston Consulting Group, die uns den Kauf des Hauses überhaupt ermöglicht hatte, mich bis zu zwölf Stunden am Tag in Anspruch genommen und abends todmüde ins Bett fallen lassen. Dann hatten mich das Geräusch quietschender Reifen und der Anblick meines Sohnes, dessen weit aufgerissene Augen in den Himmel starrten, obwohl er mit dem Bauch auf der Straße lag, in meine Träume verfolgt und mich von der Spießbürgerpflicht Gartenarbeit abgelenkt.
Ich leuchtete mit der Taschenlampe in dem Bereich herum, in dem Napoleon verschwunden war, und entdeckte schließlich eine nur unzureichend getarnte und mit Rasen überwachsene Falltür. Unter der Tür befand sich eine Treppenstufe, deren Proportionen aber nicht zu der des Loches im Boden passten. Bevor ich wusste, was ich tat, griff ich in das Loch und tastete darin umher. Ich bekam etwas zu fassen, das sich wie dürre Stützstreben anfühlte, riss daran und spürte, wie der Boden nachgab. Jetzt, wo das Erdreich drum herum zusammengefallen war, war die Öffnung groß genug für einen erwachsenen Mann. Die Falltür war nur ein kleiner Teil des verdeckten Loches im Boden gewesen. Darum hatte das Größenverhältnis zur Treppe nicht gestimmt, der man jetzt diagonal in die Unterwelt folgen konnte.
Auf der zweiten Stufe lag eine Katzenkralle, an der blutiges Fleisch hing. Napoleon hatte offensichtlich versucht, sich festzuhalten, war aber von einer übermächtigen Kraft die Treppe hinuntergeschliffen worden. Also lebte der Kater vielleicht noch! Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, so absurd, dass ich trotz feuchter Augen grinsen musste: Wenn ich meinen Sohn schon nicht hatte retten können, dann könnte ich jetzt wenigstens den blöden Taschentiger retten, der mir mit liebevoller Hingabe jeden Morgen eine massakrierte Feldmaus auf die Motorhaube meines Firmen-BMWs legte.
Ich leuchtete die Treppe hinab, so weit es ging. Der Lichtkegel der Taschenlampe reichte nicht bis zu ihrem Ende aus. Das Nudelholz fest umklammernd schritt ich die Stufen herab und ließ ich mich von der Finsternis umarmen.
Es schien, als wäre ich eine Ewigkeit auf dieser Treppe unterwegs gewesen, so lange, dass ich mich fast nicht mehr erinnern konnte, warum ich sie zunächst überhaupt betreten hatte. Wie hypnotisiert setzte ich einen Fuß vor den anderen, leuchtete mit der Taschenlampe von Wand zu Wand und geradeaus. Zunächst war ich noch sehr vorsichtig gegangen, denn die Treppe war feucht und moosig und von allerlei Insekten bevölkert. Die Chitinpanzer knackten und quietschten unter meinen Schuhen wie Popcorn. Gelangweilt jedoch vom immer gleichen Stufenrhythmus schritt ich letztendlich so unaufmerksam, dass ich die Treppe eher hinab glitt. Ich dachte gerade darüber nach, ob dieser Tunnel vielleicht Überbleibsel eines alten Stollensystems sein könnte und der Makler aus verkaufsstrategischen Gründen verschwiegen hatte, dass das Gebiet irgendwie unterhöhlt sei, als die Taschenlampe ihren Geist aufgab. Laut fluchend schlug ich sie ein paar Mal gegen meinen Oberschenkel, gefangen in der vollkommensten Dunkelheit meines Lebens.
Schon hatte ich damit begonnen, vorsichtige Schritte zurück zu unternehmen, als ich vor mir ein ängstliches Miauen vernahm. „Napoleon!“ rief ich, lief los, rutschte aus und schlidderte auf dem Hintern die Stufen hinab bis ich gegen eine Tür prallte, die durch den Aufschlag geöffnet wurde.
Sofort sprang ich auf die Beine, das Nudelholz über dem Kopf schwingend wie ein Ritter sein Schwert. Ich stand in einem von Kerzen hell erleuchteten Raum, dessen Wände mit Holz vertäfelt waren. Von der Decke hing Napoleon, mit dem Kopf nach unten ca. einen Meter über dem Boden baumelnd. Er miaute flehend und zuckte wie unter Krämpfen. Seine Hilferufe – genau das waren sie – wurden noch lauter und hysterischer, als er mich sah. Es war, als hätte er erkannt, dass sein Geschrei nicht umsonst gewesen war.
Von der Decke seilte sich Napoleons Peiniger, eine Spinne von der Größe eines Schäferhundes. Als sie den Boden erreicht hatte, kam sie auf ihren acht Beinen huschend direkt auf mich zu und fauchte mich durch ihren zangenförmigen Kiefer an.
Zorn ließ mich den Schock vergessen, der mich beim Anblick der Spinne zunächst gelähmt hatte. Es war die unbändige Wut auf einen Schöpfer, der sich nicht damit zufrieden geben wollte, mir meinen Sohn genommen zu haben, sondern der darüber hinaus die Existenz einer abscheulichen Kreatur wie dieser hier duldete, damit sie auch noch meinen Kater fressen konnte. Die Spinne hatte mich erreicht und bäumte sich vor mir auf, ihre vier Vorderbeine griffen nach mir. Sie hatte fünf große, schwarze Augen, mit denen sie mich fixierte, und in die ich so fest ich konnte das Nudelholz stieß.
Es brauchte nur einen einzigen Schlag. Die Spinne jaulte auf wie ein Hund und zog sich zurück. In Rage machte ich mich an die Verfolgung. „Was?“ schrie ich. „Was? War das schon alles? War das alles? MEHR HAST DU NICHT DRAUF? WAR...“
„HÖREN SIE AUF!“ schrie eine kindliche Stimme und ließ mich erstarren.
Die Spinne hatte sich in die Arme eines kleinen Mädchens gerettet. Sie war kein Mensch, aber in ihrer Form so menschenähnlich, dass ich sie als Mädchen erkennen konnte. Ihre Augen waren genau so schwarz wie die der Spinne und bedeckten, ähnlich wie bei dem Achtbeiner, gut siebzig Prozent ihres Gesichtes. Sie hatte eine Glatze, auf der vereinzelt graue Haare wuchsen, die ihr strähnig ins Gesicht hingen. Ihre Haut war grau wie ein Tage altes Steak und sie trug ein zerrissenes rosa Kleid. Auch das freundliche, warme Licht der Kerzen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um das mit Abstand hässlichste Geschöpf handelte, dass ich je gesehen hatte. Dadurch, dass sie in mancherlei Hinsicht – zwei Arme, zwei Beine, ungefähr die Größe eines sechsjährigen Kindes – dem Menschen ähnlich war, schien sie mir noch abstoßender als die Spinne.
„Bitte hören sie auf.“ wiederholte sie leise und streichelte durch das borstige Fell ihres achtbeinigen Freundes. Tränen ließen ihre pechschwarzen Augen schimmern wie Ebenholz. „Er hat niemandem etwas getan. Morleak folgt nur seiner Natur.“
Ich sah zu Napoleon, der aufgehört hatte, zu miauen. Er hing da und beobachtete abwechselnd mich, das Mädchen und die Spinne.
„Er wollte meinen Kater fressen,“ sagte ich und sah die Kleine an.
„Und frisst ihr Kater keine Mäuse? Oder andere Lebewesen, die vielleicht jemand anderem etwas bedeuten? Und lieben sie ihn deshalb weniger?“
Ich ließ das Nudelholz sinken. Die Riesenspinne, die eben noch eine so unheimliche Bedrohung dargestellt hatte, kauerte nun sichtlich verängstigt zu den nackten, amphibienartigen Füßen des Mädchens und winselte erbärmlich. Ich sah mich um und bemerkte, dass ich mitten in einem Esszimmer stand.
Der Boden war mit rotem Teppich ausgelegt, an den Wänden hingen Gemälde von Persönlichkeiten mit der Fratze der Kleinen in Erwachsenenversionen. Ein langer Tisch stand in der Mitte des Raumes und war gedeckt, so edel wie bei einem Bankett in einem fünf Sterne Hotel. Fast die Hälfte der Tischfläche wurde von einem Tablett mit einer Glocke darüber eingenommen, und ich fragte mich, wie sie wohl ein Tier für einen Braten von dieser Größe hier runter schafften.
Plötzlich hörte ich schnelle Schritte und von irgendwoher schoss ein Mann in einem schwarzen Smoking, ungefähr eins dreißig groß und augenscheinlich zu derselben bizarren Art wie das Mädchen gehörend, in den Raum. Sein Mund stand offen und ich konnte weit auseinanderstehende, spitze Zähne erkennen. Er sah mich voller Entsetzen an und reckte mir beschwörend die Hände entgegen, als wolle er beten.
„Oh! Oh, bitte...“ Seine Stimme klang merkwürdig erwachsen und kindlich zugleich. „Ich wusste, dass früher oder später Oberlinge hier unten auftauchen würden. Ich flehe sie an, tun sie meiner Tochter nichts. Wir haben niemandem etwas getan. Es... Es ist nun einmal die Art, wie wir leben. Wir können nichts dagegen tun, so wie der Fisch sich nicht dagegen entscheiden kann, im Wasser zu leben...“
„Moment...“ Ich hob die Hände, als würde man mich mit einer Pistole bedrohen. „Ich tue hier sowieso niemandem was. Aber ihr...“ Mit der erloschenen Taschenlampe deutete ich nach der Spinne. „Morlock da hat meinen Kater entführt, und ich habe... genug verloren.“
Der erwachsene Zwerg sah mich an. „Ich höre Schmerz in Eurer Stimme.“ Seine Anteilnahme schien echt. Mit respektvoller Geste nahm er seinen Zylinder ab. „Es tut mir leid, dass ihnen scheinbar etwas widerfahren ist, dass...“
„Er heißt Morleak,“ sagte die Kleine und blitzte mich verächtlich an.
„Halt den Mund, Tarla!“ rief der Erwachsene erbost. „Hol’ deine Mutter und deine Brüder. Sag’ ihnen, das keine Gefahr besteht.“ Mit beleidigter Miene lief das Mädchen in denselben Gang, aus dem der Zwerg im Smoking gekommen war. Der gab ihr im Laufen einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Als sie weg war, sah er mich wieder an, betrachtete dann sorgenvoll das Nudelholz und sagte: „Es besteht doch keine Gefahr, oder?“
Wieder hob ich die Hände und sagte: „Ich will bloß den blöden Kater, dann bin ich weg, ich... ich...“ Ich sah die Spinne an, dann den Zwerg. „Was zum Teufel seid ihr?“ fragte ich.
„Ich bin Ruckan.“ Er lächelte, schob zwei der mit rotem Samt bezogenen Stühle zusammen, so dass sie mir genügend Platz bieten würden, und deutete mir mit höflicher Geste, mich zu setzen. Ich nahm Platz.
Ihr Volk, so erklärte Ruckan, nannten die Menschen einst Tittels. Sie hatten schon immer unter der Erde gelebt, aber es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie dann und wann die Welt der Oberlinge betreten hatten, um mit ihnen Handel zu treiben. Die Lebensweise der Tittels jedoch hatte einen König mit dem Namen Perzeferon (Geschichte ist in der Schule mein Lieblingsfach gewesen, aber von diesem König und seinem Reich – Klartanas Ded – hatte ich noch nie gehört, was mich stutzig machte, wann genau Ruckans Vorfahren mit den meinen co-existiert hatten) veranlasst, die Tittels aus den Städten der Menschen zu jagen.
König Ammott, Perzeferons Nachfolger, hatte sich nicht mehr nur damit zufrieden gegeben, die Tittels nicht an der Oberfläche zu dulden. Die Schar der Menschen, die die liebenswerten Gnome regelrecht hassten, hatte sich seit Perzeferons Tagen noch einmal vervielfacht; hauptsächlich, weil sich eine für sie kaum erträgliche Wahrheit über die Tittels mittlerweile bis in die äußersten Peripherien des Königreiches verbreitet hatte. Es begannen die Jahre, die als „Tage des blinden Verderbens“ in die Annalen von Ruckans Volk eingegangen waren.
Der Mann, den Ammott mit dem Aufspüren und Töten der Tittels beauftragte, hatte bis dahin viele Jahre in den Kerkern Klartanas Deds geschmachtet, wo er neben anderen Foltern das Ausbrennen seines rechten Auges erlitten hatte. Es war ein Raubritter, ein Dieb und Mörder mit dem Namen Dolgan, den der König wegen seiner Gnadenlosigkeit und seines unbändigen Blutdurstes entließ, mit dem Versprechen von Freiheit und Gold, sollte es ihm gelingen, die Tittels gründlich und für alle Zeit vom Antlitz der Erde zu tilgen. Dolgan ließ diejenigen seiner eingesperrten Gefolgsleute, die noch nicht im Kerker ihr Leben gelassen hatten, befreien, und begab sich mit ihnen auf einen fünfzehn Jahre währenden Feldzug.
So nannten es zumindest die Menschen. Da aber die Tittels schon immer friedfertige Kreaturen gewesen waren, lief es darauf hinaus, dass Dolgan und seine Bande die Wege in die Unterwelt der Tittels aufspürten, um dann ein Massaker an den hilflosen Gnomen zu verüben. In diesen Tagen war es nichts Besonderes, an Bäumen am Wegesrand Tittels beiderlei Geschlechtes und jeden Alters hängen zu sehen. Sie baumelten dort mit einem Strick um den Hals oder auch mit dem Kopf nach unten, manchmal ausgeweidet, enthauptet, oft noch schlimmer. Nicht immer waren sie auch bereits tot, wenn der Geruch von Blut und Verwesung schließlich die Krähen anlockte. Und manchmal teilten sie sich die Bäume mit qualvoll stöhnenden Menschenfrauen und Männern, hochgezogen an den Handgelenken und mit abgeschnittenen Nasen und Ohren. Es war die offizielle Strafe für jene, die versucht hatten, noch lebende Tittels runterzuschneiden.
Das Letzte, was die wenigen überlebenden Tittels von der Geschichte der Menschen mitbekamen, war, dass Dolgan das erhaltene Blutgeld zum Aufbau einer Söldnerarmee nutzte, um mit ihr in Klartanas Ded ein Gemetzel zu verüben, dass die Untaten an den Tittels noch in den Schatten stellte. Aus König Ammotts Haut ließ Dolgan sich eine Weste fertigen.
Generationen von Tittels lebten und starben, ohne jemals die Oberwelt betreten zu haben. Sie lebten in kleinstmöglichen Gruppen – meist Familien – um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Und so hatten einige wenige bis in die heutige Zeit überlebt.
Ruckans Familie betrat den Raum. Eine Frau und zwei Jungen, einer davon noch so klein, dass die Frau ihn auf dem Arm hielt. Und natürlich Tarla, die mich misstrauischer als die anderen zusammen beäugte. Die Frau hatte hohe Wangenknochen und ich vermutete, dass sie nach den Maßstäben der Tittels sehr schön sein musste.
„Familie!“ Ruckan stand auf und zog erneut seinen Zylinder. „Ich darf euch den Oberweltler...“ Er sah mich fragend an. „Oh!“ sagte ich. „Äh, Jens.“
„Jins vorstellen.“ beendete Ruckan seinen Satz, ohne dass ich ihn korrigierte. Die Frau neigte ihren Kopf zum Gruß, wobei der Kleine auf ihrem Arm an ihrem lichten, grauen Haarbüschel zog.
„Das ist meine Familie, Jins. Meine Frau Oleas, meine Söhne Faran und Rat, und die etwas vorlaute...“ „Tarla,“ fiel Ruckans Tochter ihrem Vater ins Wort. „...kennst du ja bereits.“ Die Spinne Morleak näherte sich mir schnüffelnd und verzog sich, als ich mich zu ihr umdrehte, jaulend in eine Ecke des Raums. Ich stand auf und befreite Napoleon von den klebrigen Fäden, die sich wie warme Innereien anfühlten und einen unangenehmen Ammoniak-Geruch verströmten. Als Morleak sah, dass ich im Begriff war, mich mit seinem Abendessen aus dem Staub zu machen, fand er offensichtlich eine Idee Restmut in seinem Arachniden-Herzen (Wenn er denn ein Arachnide war) und krabbelte auf mich zu. Ruckan klatschte in die Hände und fauchte Worte in einer Sprache, die klang, als müsste man mindestens drei Zungen im Mund haben, um sie zu sprechen. Wieder zog Morleak sich wimmernd in seine Ecke zurück. Heute war definitiv nicht sein Tag.
Mit Napoleon auf dem Arm bewegte ich mich Richtung Tür. Die Kälte, mit der ich Ruckan stehen ließ, tat mir ein wenig Leid, da er nett zu mir gewesen war. Aber ich wollte schnell ins Bett, und morgen früh in dem festen Glauben aufwachen, dass Schlafmangel und Sauferei mich kleine graue Männchen und ihre Riesenspinnenhaustiere hatten sehen lassen. Aber etwas musste ich noch wissen.
„Ruckan?“
„Mein Freund? Ich darf euch doch...“
„Die Menschen haben doch nicht Jagd auf euch gemacht, weil eure Haustiere ihre gefressen haben, oder?“
„Nein, Jins, ich, ich fürchte, es ist... komplizierter.“
„Wie kompliziert?“
„Jins, es ist, wir, wir ess...“ Ruckans Frau rief in der seltsamen Sprache der Tittels etwas dazwischen. Ruckan seufzte, dann sagte er: „Vielleicht hat Orleas recht, Jins. Sie sollten gehen. Lassen sie mich Euch versichern, dass mein Volk nie einem lebenden Wesen etwas zu Leide getan hat. Es ist, wie Ihr sagtet: Unsere Haustiere fressen eure Haustiere, so wie eure Hunde und Katzen Kaninchen oder vielleicht Eichhörnchen jagen und fressen, aber wir tun genauso wenig jemandem ein Leid an wie ihr.“
Ich dachte an Schlachthöfe und Konzentrationslager und drückte Napoleon so fest an mich, dass das Schnurren des Katers in ein empörtes, unzufriedenes Miauen überging. Also lockerte ich meinen Griff und öffnete die Tür.
„Mach’s gut, Ruckan.“
„Lebt wohl, Freund Jins! Wenn ihr jemals etwas...“
Ich schloss die Tür hinter mir und stand im Dunkeln. Der Kater krallte sich an meinem Jackenärmel fest. „Napoleon, du Idiot,“ lachte ich, „Warum hast du denn nichts gesagt. Die unappetitlichen Zwerge werden uns mit Sicherheit irgendwas zum Leuchten geben, so wie der gute Ruckan uns in den Arsch gekrochen ist.“ Dennoch wollte ich dieses merkwürdige und hoffentlich unreale Erlebnis so schnell wie möglich hinter mir lassen. Also wog ich noch eine ganze Weile den Heimweg in völliger Dunkelheit gegen eine kurze Rückkehr in die absonderliche Stube der Tittels ab. Schließlich drehte ich mich noch einmal um, öffnete die Tür und betrat erneut den bizarren Speisesaal tief unter der Erde.
„Äh, Ruckan, ich würde gerne auf das Angebot von eben...“ Ich ließ Napoleon fallen, der sich sogleich mit verängstigtem Blick auf seinen achtbeinigen Entführer an mein Hosenbein krallte. Meine Hand schloss sich fest um das Nudelholz, so dass sich meine Fingernägel tief ins Fleisch meiner Handfläche gruben. Die riesigen, schwarzen Augen der Tittels schienen noch größer geworden zu sein, und sie starrten mich damit an.
Auf dem Tisch war die Glocke von dem riesigen Tablett genommen worden. Und jetzt verstand ich auch, wie sie dieses große „Tier“ hier runter geschafft hatten. Sie hatten ihre Höhle dafür nicht einmal verlassen müssen. Irgendwo jenseits dieses Esszimmers musste es Tunnel geben, die zum örtlichen Friedhof führten. Dort gruben sie sich offenbar von unten an die kürzlich Verstorbenen. Die Tittels waren Aasfresser. Auf dem Tisch lag die nackte Leiche meines vor sechs Tagen beerdigten Sohnes. In seinem Mund steckten so viele Spargelstangen, dass man ihm deutlich sichtbar den Kiefer ausgerenkt hatte, um ihn servierfertig zu dekorieren.
Ruckans Familie starrte mich an. Nur der Kleine auf dem Schoß seiner Mutter aß unbekümmert weiter. Für ihn waren die Finger von Kais linker Hand abgeschnitten und von der Mutter durch einen silbern glänzenden Fleischwolf gedreht worden, der an der Tischkante befestigt war. Die kleinen Hände des jungen Tittels griffen gierig nach dem grünlich Gehackten, das bis gerade eben das verwesende Fleisch und die Knochen meines Kindes gewesen war. Ruckans Jüngster protestierte, als seine Mutter so weit vom Tisch wegrückte, dass er den Fleischbrei nicht mehr erreichen konnte.
„Freund Jins... Bitte... Versteht doch, es ist einfach unsere Natur. Sie... sind doch längst tot, wenn wir sie ernten. Nie haben wir einem lebenden Wes...“ Mit zwei Schritten war ich bei Ruckan und ließ das Nudelholz mit aller Kraft auf seinen Schädel herabsausen. Der Kopf des Tittels war weich. Ich traf ihn über dem Auge, so dass der Knochen darüber eingedrückt wurde und der Augapfel platze, weil seine Höhle zusammenstürzte. Mit einem Stöhnen ging Ruckan zu Boden, während seine Frau und Tochter schrieen.
Mutig stürzte sein älterer Sohn sich auf mich. Ich packte ihn am Hals, warf ihn auf den Tisch und stieß mit einer Gabel so oft seitlich in seinen Brustkorb, bis er nur noch fast schwarzes Blut gurgelte und sich nicht mehr bewegte. Morleak kam aus seiner Ecke hervorgeschossen und fauchte, traute sich aber offensichtlich nicht an mich heran. Ich riss Orleas das Kind aus dem Schoß, worauf ihr Schreien um einige Oktaven anstieg. Wie eine Schlange wand sich das Tittelbaby kreischend in meinem Griff, während ich es mit den Füßen voraus in den Fleischwolf steckte und begann, an der Kurbel zu drehen. Orleas Fingernägel krallten sich in meinen Unterarm und sie biss ein Stück Fleisch heraus. Die Wunde war so tief, dass man den Knochen sehen konnte. Als nur noch der Kopf des Tittelbabys aus dem Fleischwolf guckte, packte ich Ruckans Frau am Hinterkopf und stieß sie viermal mit dem Kopf gegen die Tischkante, so fest ich konnte. Blut schloss aus einem Spalt in ihrer Stirn und spritze über die Teller und auf Kais Leichnam.
Ich schrie, als Morleaks Fänge sich durch meine Kniescheibe bohrten. Die Spinne hatte sich mir von hinten genähert, während ich mit ihren Besitzern beschäftigt gewesen war. Ich zog ein Messer aus dem offenen Brustkorb meines Sohnes, wo es zwischen Kartoffeln, Zwiebeln, krabbelnden Käfern und sich schlängelnden Würmern steckte. Blind hieb ich damit nach hinten und hätte fast Napoleon getroffen, der mir zur Hilfe geeilt war und mit seinen Krallen den haarigen Rücken der Riesenspinne bearbeitete. Morleak ließ mich los und schüttelte meinen Kater von sich.
Jaulend zog sich die Spinne wieder in ihre Ecke zurück. Ich nahm einen der Kerzenständer und warf damit nach ihr. Sofort stand der haarige Körper in Flammen, und quiekend raste Morleak nun von einer Eckes des Zimmers in eine andere, wobei er Vorhänge, die Tischdecke und die Kleidung seiner toten Herren in Brand steckte.
Ich griff Napoleon und einen Kerzenständer, dann lief ich zur Tür. Noch einmal drehte in mich um und sah Tarla, die weinend am Tisch saß, die Hände in den Schoß gefaltet. Mein Ausbruch hatte sie verschont, aber wenn sie nicht bald floh, würden sie stattdessen die Flammen holen. Ruckan hatten meine Schläge offenbar nicht den Rest gegeben. Er zog sich schwer atmend an der Tischkante hoch und rief dabei den Namen seiner Tochter. Dann sackte er in sich zusammen wie ein kaputtes Schlauchboot. Bis an den Rand des Zusammenbruchs gequält von den Schmerzen in meiner durchstochenen Kniescheibe und dem heißen Pulsieren meines frei gelegten Unterarmknochens machte ich mich auf den Weg.
Statt einen Krankenwagen zu rufen, schleppte ich mich zu Hause die Treppe hinauf und legte mich weinend ins Bett. Meine Frau erwachte, legte ihren Am um mich und sagte: „Ich habe Kai gesehen. Im Traum.“
„Ich weiß.“ flüsterte ich und küsste sie auf die Stirn.