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- 11.09.2003
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Er hatte sich nie wirklich auf den Tod vorbereitet. Es gibt zahlreiche Leute in seinem Alter, die den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, sich Gedanken zu machen, wie es ist, wenn man nicht mehr ist. Einige seiner besten Freunde waren durchaus religiös. Einer seiner Freunde ging sogar in die Kirche. Sporadisch. Aber wenigstens nicht nur an Ostern und Weihnachten. Er schien damit glücklich zu sein. Jedenfalls machte er den Eindruck, als wäre es so. Ob er wirklich ernsthaft über den Tod und das Leben im Himmel nachdachte, wusste Daniel nicht. Vielleicht hätte auch er einmal in die Kirche gehen sollen. Es hätte mit Sicherheit nicht schaden können. Es musste ja etwas daran sein, wenn Millionen von Menschen in die Kirche gehen und Texten aus der Bibel Glauben schenken. Glauben war wohl das Zauberwort. Ist der Tod anders, wenn man glaubt? Viele Fragen kreisten durch Daniels Kopf. Oder vielleicht irrten sich alle Kirchengänger? Alle Katholiken, Protestanten, Baptisten, Mönche, Nonnen, Priester, Bischöfe und Päpste?
Daniel hatte eine Tante. Sie wohnte nicht in Berlin. Eines Tages jedoch wurde sie von einem Wagen angefahren. Bis zu diesem Tag hatte sie ihr Heimatdorf in Bayern nie verlassen. Sie war Single. Die Ärzte sagten hinterher, sie wäre für einige Minuten klinisch tot gewesen, sei aber dann wieder aufgewacht. Sie selbst beschrieb bei jeder Gelegenheit, die sich ihr bot, diesen Tunnel mit dem hellen Licht am Ende. Sie war wie besessen. Aber sie war nie sehr religiös gewesen. Und das in Bayern. Dann entdeckte sie die Esoterik: Naturheilkunde, Biokost, Tarotkarten und solcherlei Dinge mehr. Außerdem fing sie an, ihr lang gespartes Geld auszugeben. Sie besuchte erst halb Deutschland, dann Europa, und ging schließlich auf Weltreisen. Sie schickte uns Postkarten aus Portugal, Italien, Ägypten, Island, Chile, Madagaskar und schließlich aus Australien. Sie genoss ihr neues Leben und schrieb, dass sie sich erst jetzt wirklich lebendig fühlte. Das Flugzeug, das sie von Sydney zurückbringen sollte, stürzte ab und versank im Meer.
Vielleicht hatte sie sich gefreut, wieder den Tunnel zu sehen und sich diesem Licht zu nähern. Vielleicht versuchte sie auch in den letzten Sekunden ihres Lebens, das Meer mithilfe von bunten Edelsteinen um Gnade zu bitten.
Daniel hatte nichts dergleichen dabei.
Für Daniel war es jetzt definitiv Zeit, über den Tod als Solches und seinen eigenen im Speziellen nachzudenken. Aber er kam zu keinem Ergebnis. Die Frage nach dem Danach sprengte auf in viele kleine Fragen, die ihm kein Bisschen weiterhalfen. Was ihn allerdings am meisten beschäftigte, war die Frage, ob er sich hätte besser vorbereiten können. War denn Religiosität die einzige Möglichkeit, sich das Ende der körperlichen Existenz irgendwie zu erklären und die Angst davor zu nehmen?
Durch einen gewaltigen Ruck fühlte Daniel, wie ihn der Fallschirm bremste. Unter ihm wirkte die Welt klein und zerbrechlich. Er konnte keine Menschen erkennen, aber Siedlungen, Straßen und Häuser. Hätte er seinen Fuß nur weit genug ausstrecken können, hätte er die kleinen Häuser zertreten können, wenn er gewollt hätte. Aber ihm war absolut nicht danach. Er fühlte sich an seine alte Modelleisenbahn erinnert. Er fühlte sich wohl und war beeindruckt von der Welt, in die er gerade hineinfiel.
Ruth hatte ihn dazu überredet. Sie waren nun schon fast ein ganzes Jahr zusammen. Ständig hatte sie versucht, ihn dazu zu bringen auch zu springen. Sie hatte ihren ersten Sprung schon vor Jahren gemacht, war schon oft gesprungen und war dementsprechend routiniert.
Die Stimme des Trainers drang an sein Ohr. „Hey, wie geht’s dir? Alles fit?“
Na ja, fit war er ganz und gar nicht. Er war nassgeschwitzt und er hätte fast in die Hose gemacht. „Ja, alles klar. Wie lange fallen wir noch?“
Er hörte, dass der Trainer hinter ihm noch etwas rief, aber der Wind pfiff zu laut. Daniel beschloss, still die Aussicht zu genießen, während er sich unaufhaltsam dem Boden näherte.
Als sie gelandet waren, lief Ruth auf ihn zu und umarmte ihn heftig.
„Und, wie war’s? Hat’s dir gefallen? Also bei meinem ersten Sprung konnte ich nicht abwarten aus dem Flieger zu kommen. Das Schönste ist dieser Moment, während du frei fällst, bis sich der Fallschirm entfaltet. Das schönste Gefühl auf Erden. Na ja, das zweitschönste.“
Sie grinste frivol. Daniel war erschöpft und hatte Hunger.
„Lass’ uns etwas essen gehen.“
Sie gingen in ein Café direkt auf dem Flugplatz. Es hieß ‚Startbahn 03’. Daniel fand den Namen peinlich und war froh, dass innen nicht Reinhard Mey lief. Sie setzten sich und Daniel bestellte Pommes frites. Ruth wollte nichts. Sie blickte ihn nur fragend und neugierig an. Auf ihrer linken Wange bildete sich Daniels Lieblingsgrübchen und brachte ihn dazu zu erzählen. Er erzählte von seinen Gedanken; von dem Moment, nachdem er den Boden des Flugzeugs unter den Füßen verlor. Er berichtete, und Ruth schaffte es still zuzuhören. Als das Essen kam, war er fertig und blickte sie an. Ausdruckslos.
„Was? Wirklich?“
Daniel nickte verschämt und stocherte mit der Gabel auf seinem Teller herum.
„Das meinst du nicht ernst! Du hattest wirklich Angst?“
Das Grübchen war weg. Daniel überraschte es nicht, dass Ruth es lächerlich fand. Aber die Art, wie sie es zeigte, gefiel ihm nicht. Er betrachtete sie. Ihre kleinen braunen Augen wirkten kalt; nicht so lieb und herzlich wie sonst; nicht so feurig kämpferisch. Einfach kalt und seltsam. Er liebte es, ihre Augen zu beobachten und zu versuchen, ihre Stimmung darin abzulesen. Aber er schaffte es nicht. Er blickte auf ein Buch, das verschlossen blieb. Er hatte keinen Appetit.
„Ich dachte, du hast Hunger?“
„Jetzt nicht mehr.“
„Wieso? Doch nicht etwa weil ich...? Daniel, doch nicht etwa deswegen, oder? Hey, Schatz...“
„Doch, genau deswegen! Verdammt noch mal, ich bin da oben nicht fast gestorben, ich bin da oben gestorben. Verstehst du das nicht?“
„Du hattest doch nur ein bisschen Angst. So geht es vielen.“
„Ein bisschen? Du hast ja keine Ahnung!“
Sie hielt einige Sekunden inne. Er war zu aufgebracht, um ihre Augen zu beobachten.
„Schatz, beruhige dich!“
„Ach, lass mich!“
„Jetzt hör aber auf! Nur wegen so einer Sache gleich wieder einen Streit vom Zaun zu brechen. Das kann doch echt nicht wahr sein.“
Daniel sagte nichts dazu. Langsam stand er auf, legte das Geld für die Pommes auf den Tisch und ging. Ruth blieb noch sitzen. Sie atmete tief ein und aus.
Daniel verließ das Café und ging in Richtung Parkplatz. Sauer war er nicht. Auch nicht enttäuscht. Er war einfach überrascht. Er dachte eigentlich seine Freundin zu kennen. Natürlich hatte er im Stillen eine ähnliche Reaktion erwartet. Schließlich hatte sie immer von ihren Sprüngen erzählt; von dem Adrenalin und von den Gefühlen. Von Angst erzählte sie nie. Daniel hätte auch nicht erwartet, dass sie jemals Angst gehabt hätte, vor einem Sprung. Das liebte er an ihr. Dachte er zumindest. Jetzt war er sich in dem Punkt nicht mehr so sicher.
Er schlurfte über den Kies, der den Parkplatz bildete. Die Steine knirschten unter seinen Füßen, einige flogen über den fast leeren Platz, als er dagegen trat. Er steuerte langsam in Richtung seines Autos. Er wusste genau, dass Ruth jemanden finden würde, der sie nach Hause bringt. Sie kannte genug Leute vom Platz. Er wollte nur noch ins Bett.
„Hey, das ist nicht fair! Du kannst nicht einfach abhauen!“
„Warum nicht? Du kommst schon nach Hause. Frage doch deine Freunde.“
Er drehte sich nicht um. Er hörte, dass sie stehen geblieben war, ging weiter, stieg ins Auto und fuhr los.
Er erwachte weil jemand an seiner Tür Sturm klingelte. Er war sich sicher, dass Ruth vor der Tür stand. Er hatte extra das Telefon aus der Wand gezogen und sein Handy abgeschaltet. Die Türklingel allerdings hatte er vergessen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 4 Uhr morgens war. Er trug noch immer die Klamotten, mit denen er gestern nach Hause gekommen war.
Während er in Richtung Tür ging, verhandelte er mit sich selbst, ob er sie hereinlassen sollte. Er wollte sie nicht sehen. Sie hatte ihn verletzt. Er hatte ihr sein Herz geöffnet. Er hatte ihr seine Angst offenbart, und sie hatte es lächerlich gefunden. Mittlerweile war die Überraschung darüber einem Gefühl von Fremdheit und Enttäuschung gewichen. So, wie Ruth ihm begegnete, kannte er sie nicht. Er war es gewohnt sich ihr öffnen zu können. Sie war die erste Frau in seinem Leben, mit der er wirklich reden konnte. Er hatte vor ihr schon ein paar Freundinnen gehabt. Die meisten jedoch gingen schon nach den ersten Wochen, weil ein anderer Typ besseren Sex versprach. Von anderen wiederum trennte er sich, als er durch ihre Fassade geschaut und entdeckt hatte, wie diese Frauen wirklich waren. Er suchte jemanden, bei dem er sich fallen lassen konnte. Eine Frau, dessen Äußeres nicht ihr Inneres versteckte, sondern mehr ein Zierde einer guten Seele war. Eine Frau, deren Leben er mit-leben und mit-erleben wollte. Eine Frau, die ihn braucht, weil er jemand ist und nicht, weil er etwas kann. Er fand dies alles in Ruth.
Kennen gelernt hatten sie sich auf dem Geburtstag eines gemeinsamen Bekannten. Als er sich daran erinnerte, wie er sie damals vor dem besoffenen Gastgeber zu retten versuchte, flog ein kurzes warmes Lächeln über sein müdes Gesicht.
Er erreichte die Tür und betrachtete sie. Die Tür wirkte mehr wie eine dicke Mauer. Er war sich nicht sicher, ob der den ersten Stein herausbrechen sollte, doch er tat es. Als er die Tür geöffnet hatte, war er fassungslos.
„Herr Uhland?“ Die tiefe Männerstimme klang freundlich aber bestimmt.
„Ja!?“
„Polizei, bitte kommen Sie mit. Wir haben versucht Sie zu erreichen.“
„Was ist denn passiert?“
„Frau Jenitz sitzt bei uns auf der Wache. Sie wurde überfallen. Sie hat nach Ihnen gefragt.“
Regen lief an der Scheibe des Streifenwagens herunter. Daniel betrachtete jedes einzelne Rinnsal genau. Sein Kopf lehnte am Fenster und schien schwerer als sonst. Er machte sich Sorgen. Vorwürfe. Er erhob Anklage. Gegen sich, gegen den Trainer, gegen Ruth, gegen den unbekannten Täter, gegen die unbekannten Täter, dann wieder gegen sich. Aus Mangel an Beweisen schloss er die Augen.
Er sah ihr in die Augen. Riesige Regale von Büchern öffneten sich. Er sah Freude, Trauer, Zorn, Liebe, Schmerz, Mitgefühl, Verzweiflung und Kampfgeist. Aber keine Angst.
Ein Polizist weckte ihn, als der Wagen schon längst angehalten hatte. Zusammen gingen sie die langen weißen, neongefluteten Gänge der Polizeiwache hinunter.
„Sie wurde direkt vor ihrer Haustür mit einer Waffe bedroht. Aber der Täter hat ihr nichts angetan. Sie kann Sie jetzt gut gebrauchen. Aber seien Sie vorsichtig. Wir haben schon eine Psychiaterin angerufen, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Sie müsste in Kürze auch eintreffen“, sagte die Stimme hinter ihm.
Daniel drehte bei jeder offenen Tür den Kopf und versuchte Ruth in einem der Räume auszumachen. Die Gänge schienen wie ein Labyrinth angelegt zu sein. Ein Falle? Er konnte sich den Weg nicht merken. Er war müde. Was war passiert? Warum hatte er sein Telefon nicht angelassen? Er ärgerte sich, war wütend auf sich selbst. Jetzt hatte er ein Indiz, aber für eine Verurteilung genügte es seinem Gewissen noch lange nicht.
„Herr Uhland, hier ist es.“ Der Polizist war an einer Tür stehen geblieben und hatte die Hand auf der Klinke. Daniel ging einige Schritte den Gang zurück und stand direkt vor Tür, als der Polizist diese öffnete.
Ruth lehnte von hinten an einem Stuhl und blickte aus dem Fenster. Vielleicht beobachtete sie auch das Regenwasser, das daran herunterlief. Sie drehte sich zur Tür um. In ihren Augen konnte Daniel nicht viel erkennen, sie stand noch zu weit weg. Nachdem er einige Schritte in den Raum hinein gegangen war, hörte er, wie der Polizist hinter ihm die Tür wieder schloss.
Ruth löste sich von dem Stuhl und ging ein paar Schritte auf Daniel zu. Ihre Augen waren verweint, müde und erschöpft. Er erkannte sofort, was sie durchgemacht haben musste. Einen Moment lang hätte er schwören können, dass ihre Augen glänzten. Genauso, wie sie taten, wenn sie sich freute, ihm etwas Schönes berichten zu können. Wie sie es immer taten, wenn er sie überraschte, indem er ihr das Frühstück ans Bett brachte. Genauso wie immer, wenn er ihr sagte, dass er sie liebe. Genau so.
Er suchte nach dem Grübchen auf ihrer Wange. Es war nicht da. Es überraschte ihn nicht. Er trat einen Schritt auf sie zu. Als auch sie einen weiteren machte, standen sie direkt voreinander. Er konnte ihren schwachen Atem spüren. Er fühlte, dass ihr kalt war. Er hörte ihren Herzschlag und roch den getrockneten Schweiß auf ihrem Gesicht.
Ruth schloss langsam die Augen.
Daniel ließ die Anklage fallen.
„Wie geht es dir?“
Sie sagte nichts.
Im gleichen Moment, in dem sie ihre Augenlieder hob, bildete sich, erst zaghaft und kaum erkennbar, aber dann immer deutlicher, das Grübchen auf ihrer linken Wange. Sie blickte ihn nicht an.
Dann hob sie die Arme. Langsam. Und sie umarmte ihn, wie noch nie. Ihr Kopf lag an seiner Brust und sie lauschte seinem Herzschlag. Er war langsam und gleichmäßig wie ihrer. Sie umarmte ihn so lange wie noch nie. Wie einen unermesslichen Reichtum, wie eine wunderbare Erinnerung an ein einmaliges Gefühl. Als ob sie das Leben selbst festhielte. Genau so.
Christoph Villis