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Mondscheinsonate in Weiss
Noch ehe der letzte Akkord im Marmorsaal verhallt war, setzte begeisterter Applaus ein. Der Pianist stand auf, schob den Klavierstuhl zur Seite, wandte sich dem Publikum zu, verneigte sich, verneigte sich nochmals - und während seine Gesichtszüge sichtlich verrieten, dass er den Beifall zu geniessen schien, stahl er sich langsam, mit dem Rücken der Kontur des Steinway Flügels folgend, zur Türe in der rechten Ecke des Raums. Er tastete nach rückwärts, öffnete und trat, seine blinden Augen immer noch ins Publikum gerichtet, unter den Türrahmen. Er verneigte sich, verneigte sich nochmals - und dabei …
Der Vollmond hing blass am dämmernden Himmel über dem Hügel von Bellagio, als wir auf der kurvenreichen Seestrasse Richtung Tremezzo fuhren. Der milde Spätsommerabend begann sich zu neigen und als wir bei der Villa Carlotta ankamen, mischte sich auf ihrer Fassade bereits das Licht der Scheinwerfer unter die gedämpfte Reflexion der roten Dämmerung. Leute in eleganter Garderobe und andere in Urlaubskleidung standen beim Kassenhäuschen an, um sich Eintrittskarten für das ‛Recital di Pianoforte’ mit Luciano Lanfranchi zu kaufen.
"Due, per favore", sagte ich, als wir an der Reihe waren.
Wir betraten den Park und flanierten den Sommermagnolien entlang hinüber zu dem Platz, wo sich sorgfältig geschnittene Buchsbaumbeete strahlenförmig um einen moosbewachsenen Brunnen ordnen. Wir schauten nach den Goldfischen im Seerosenteich, wandelten durch die Laube mit den Zitrusfrüchten und stiegen über die ausgetretene Sandsteintreppe hinauf zur Eingangsterrasse der Villa. Nur wer ihn kennt, kann die Begeisterung über den traumhaften Ausblick teilen, den man hier über den Park, den Barockgarten, hinaus zum See und hinüber zum Städtchen Bellagio geniesst.
Das Mondlicht lag wie ein glitzernder Teppich auf dem von einem leichten Wind gekräuselten Wasser. Zikaden zirpten. Die Turmuhr von Tremezzo schlug halb neun. Das Konzert im Marmorsaal sollte in einer guten halben Stunde beginnen und so blieb noch ausreichend Zeit, die kunstvolle Decke, das Fries mit der Darstellung des Alexanderzugs und die Bildhauerei in der Mitte des Saals etwas näher zu betrachten. Er erhielt seinen Namen nach dieser übergrossen Skulptur aus blendend weissem Marmor, den römischen Kriegsgott Mars und seine Geliebte Venus, Göttin der Liebe, darstellend. Luigi Acquisti hatte sie vor zweihundert Jahren im Auftrag des Grafen Sommariva aus Carraramarmor gehauen und auf einen schwarzen Granitsockel gestellt. Venus trägt nichts - ausser einem Armband - und auch Mars hat lediglich ein Schwert in seiner rechten Hand. Wir erlaubten uns trotzdem, auf den Stühlen neben dem Sockel der Götter Platz zu nehmen und in deren Aura bis zum Beginn des Konzerts einige Augenblicke im Zeitsprung zu hüpfen.
Die Villa Carlotta wurde Ende des siebzehnten Jahrhunderts von einem Bankier aus Mailand erbaut, gelangte später in den Besitz des Grafen Sommariva und wurde schliesslich an die Prinzessin Marianne von Nassau verkauft, welche den Besitz ihrer Tochter Charlotte zur Heirat mit dem Kronprinzen von Sachsen-Meiningen schenkte. Ein paar Jahrzehnte nach dessen Tod ging die Villa in den Besitz der Gemeinde Tremezzo über und ist heute dem Publikum zugänglich, welches die Villa wegen ihre wechselvollen Geschichte, ihrer aparten Innenarchitektur, wegen ihres einzigartigen Parks und botanischen Gartens und während den Sommermonaten nicht zuletzt wegen den 'Klavierkonzerten am Freitagabend' besucht.
Durch das Bogenfenster über dem Eingangsportal schien der Mond auf die polierten Fussbodenplatten der Vorhalle und spiegelte sich verspielt zusammen mit dem Licht Dutzender, kerzenförmiger Lampen des Kronleuchters. Der Marmorsaal füllte sich zusehends - ja, Leute in eleganter Garderobe und andere in Urlaubskleidung erlaubten sich sogar, auf der samtbezogenen Sitzbank, welche eigentlich ein Ausstellungsstück ist, Platz zu nehmen. Ob im Park immer noch Zikaden zirpten, konnte man wegen des Raunens im Raum nicht mehr hören; aber man hörte die Turmuhr von Tremezzo schlagen. Es war neun Uhr. Nach ein paar Minuten dunkelte die Beleuchtung im Saal ab und durch die Türe in der rechten Ecke, welche vom Ankleideraum in den Marmorsaal führt, trat ein Mann in Schwarz. Seine Augen waren geschlossen. Er tastete sich, mit dem Rücken der Kontur des Flügels folgend, zum Klavierstuhl, setzte sich, verharrte konzentriert, streckte dann die Arme, spreizte die Finger und liess diese sanft auf die Tasten nieder. Aus dem Schleier der musikalischen Unendlichkeit verdichteten sich die Akkorde spannungsgeladen zum Thema. Dieser erste Satz atmet immer eine seltsame Ruhe, eine Ruhe vor dem Unwirklichen und ich fragte mich bald, ob das denn alles Zufall sei. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstand doch die plakative Fabel um die Entstehung dieses berühmten Musikstücks. Beethoven soll einem blinden Mädchen am Klavier begegnet sein. Ergriffen von ihrem Schicksal hätte er sich selbst ans Instrument gesetzt und dabei sollen sich die durch das Fenster dringenden Strahlen des Mondes mit den Tönen verflochten haben. Beethoven wäre dann nach Hause geeilt, um die Mondscheinsonate niederzuschreiben ...
Ein Spot beleuchtete die Finger, welche über die Tasten des Steinway Flügels flogen. Aus kristallklaren Tönen wurde wunderbare Musik. Der Mondscheinsonate folgten Walzer von Chopin, Sonaten von Sgambati - und nach jedem Stück spendeten die Zuhörer begeisternden Beifall. Als der blinde Pianist dann, nach zwei Zugaben, nochmals den ersten Satz der Mondscheinsonate anstimmte, atmete wieder jene seltsame Ruhe vor dem Unwirklichen. Aus dem Schleier der musikalischen Unendlichkeit verdichteten sich die Töne zum Thema. Das Publikum war fasziniert und noch ehe der letzte Akkord verhallt war setzte begeisterter Applaus ein.
Der Pianist stand auf, schob den Klavierstuhl zur Seite, wandte sich dem Publikum zu, verneigte sich - und verneigte sich nochmals. Während seine Gesichtszüge verrieten, dass er den rasenden Beifall sichtlich genoss, stahl er sich langsam, mit dem Rücken der Kontur des Flügels folgend, zur Türe, welche zum Ankleideraum hinüberführt. Er tastete nach rückwärts, öffnete und trat, seine blinden Augen immer noch ins Publikum gerichtet, unter den Türrahmen. Er verneigte sich, verneigte sich nochmals und dabei geschah es. Neben mir fiel, durch das Tosen des anhaltenden Applaus offensichtlich von niemandem sonst bemerkt, ein Marmorschwert zu Boden. Ich schaute auf zu den Göttern. Mars hatte sein Kriegswerkzeug verloren und er schien es nicht einmal sonderlich zu vermissen, denn er versuchte, seinen Marmorkopf in Richtung des sich verbeugenden Pianospielers zu drehen. Als er und Venus dann aber ansetzten, ihre steinernen Arme und Hände zum Applaus anzuheben, breiteten sich auf den glattgeschliffenen Flächen ihrer weissen Körper in Bruchteilen einer Sekunde netzartige Risse aus - und tosend zerbarsten ’Mars und Venus’, rieselten wie Zucker vom Sockel. Der Applaus im Saal wich einem chaotischen Geschrei, Stühle fielen um, Staub füllte den Marmorsaal. Weiss gepuderte Leute in eleganter Garderobe und andere in Urlaubskleidung flüchteten hinaus, drängten die ausgetretene Sandsteintreppe hinunter und eilten dem Barockgarten zu.
Die Lichter der Kronleuchter suchten vergebens ihr Spiegelbild auf den angezuckerten Fussbodenplatten der Vorhalle, Zikaden zirpten im Park, die Turmuhr von Tremezzo schlug elf. Der blendendweisse Vollmond stand höher am nachtblauen Himmel - und über dem Hügel von Bellagio gingen die Planeten Mars und Venus auf …