Was ist neu

Mondstraße

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29.09.2004
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Mondstraße

Seine Mutter würde bei der Beerdigung vermutlich weinen, stellte der Junge lächelnd fest. Er registrierte dies und versuchte dabei, den Zusammenhang zwischen diesem Weinen und dem kühlen Fahrtwind herzustellen, der quälend in seine Haut schnitt. Die Straße vor ihm glänzte aufgequollen im Licht eines bleichen, kranken Mondes, er war so kurz vor dem Ziel und jetzt fand er ihn nicht, den Zusammenhang. Er würde es anders versuchen müssen, entschied er und ersetzte die Vorstellung einer weißen Träne, die sich ihren geschwungenen Weg über die Wange seiner Mutter schnitt, durch ein Bild seines Bruders. In Großaufnahme. Sein Bruder würde auch weinen, das war nicht der Unterschied, das war nicht neu. Er würde aber versuchen, es zu verbergen, so lange, bis es sich durch alle krampfhaft kontrollierten Gesichtsmuskeln, durch alle zur Schau gestellte Wut hindurchgefressen hätte, um sich der Sonne zu präsentieren. Sehen Sie genau hin, meine Damen und Herren, das ist kein Schweiß, das ist kein Regentropfen, eine weitere Träne ist es. Vielleicht würden sie aufwachen, beide, alle, für einen ewigen Sekundenbruchteil einen Blick hinter die farblich auf alles, auf einfach alles abgestimmten Gardinen werfen und dort eine Wahrheit erkennen. Eine Wahrheit, von der sie sich bisher ohne Interesse weggedreht hatten. Und plötzlich sah er den Zusammenhang zwischen der glänzenden Straße und der Mutter und dem Bruder und dem Tod. In Österreich sagte man früher, dass man sich Heim wendet, wenn man sich tötet. Er beschloss stattdessen, das Wort Selbstmord jetzt offen zu benutzen. Sich selbst zu belügen war nämlich schlimm. Er würde sich jetzt nicht mehr Heim wenden. Belustigt wandte er den Blick von der Straße ab und starrte auf seine Fingerknöchel. Sie traten weiß hervor, so stark umklammerte er das Lenkrad. Sie traten weiß hervor und er fühlte sich nicht leicht, mit kraftvoller Entschlossenheit umklammerte er. Vor seinen Augen verschwammen die weißen Hände und die Straße, die begierig das infizierte Licht aufsog, und wurden zu einer Fläche. Einer weißen Fläche, das war ja logisch, denn Amandas T-Shirt war weiß gewesen und ihre Zähne auch, nur der Fluss unter ihnen nicht, der Fluss war eine dunkle, pulsierende Wunde. Er wollte nicht hineinspringen, aber Amanda hätte dann gelacht, abfällig gelacht, wie es nur Zehnjährige und dem Tod geweihte Menschen können. Und schließlich war es Amandas Lachen gewesen, das ihn dazu gebracht hatte, sich abzustoßen vom Brückengeländer, mit aller Kraft zu springen. Das Dunkel war über sie hereingebrochen und als sie an die Oberfläche kamen, hatte sie wieder gelacht. Wild war es aus Amanda herausgebrochen und er hatte mitlachen müssen, obwohl sein Knöchel wehtat, denn das Lachen war so wild und frei und kraftvoll. Jetzt war sie nicht mehr da, war nach New York gegangen, wo sich der Schnee manchmal wie ein Leichentuch über die wunden Straßen legt. Rufst du mich an? Logisch, besuch mich bald. Er hatte Amanda nie besucht, denn sie hatte nicht angerufen, so logisch war es also doch nicht. Der Sprung, der kurze, lachende Kindheitssprung von der Brücke war das Letzte, was kraftvoll gewesen war in seinem Leben, bis heute. Das T-Shirt war weiß, Der Mond glänzte wirr und bleich auf der Straße und heute würde er wieder springen. Denn sie hatte nicht angerufen und es führten nicht alle Wege nach Rom. Und auch nicht nach New York. Alle Wege, die er gegangen war, hatten letztendlich auf diese kranke, nasse Mondstraße führen müssen. Das waren die Tatsachen, die logischen Tatsachen. Rufst du mich an? Und dann war die Straße verschwunden, der Mond auch und seine Finger lösten sich ein wenig und er schloss die Augen. Seine Mutter würde weinen und die Straße starb im bleichen Mondlicht und er war gesprungen und sie hatte nicht angerufen und sein Wagen fuhr gegen den Baum. In der Dunkelheit, die dem Krachen des zersplitternden Metalls und der zersplitternden Knochen folgte, klingelte sein Telefon im Handschuhfach. Es hallte durch die Kälte, wo der Mond sein Licht über die nasse Straße ergoß, die ein bleiches, infiziertes Bild in den Himmel zurückschickte.

 

Hi Spectator!

Herzlich willkommen. :)

Zur Geschichte: naa... thematisch kommt "Selbstmord" so oft vor, dass es mich kaum mehr rausreißt. Allerdings hebt sich Deine Geschichte stilistisch von vielen anderen ab. Der eindringliche Schreibstil, immerwieder der blasse Mond, die Assotoationen - das ist Dir gelungen.
Der Schluss gefällt mir weniger - auch das schon zu oft gelesen. Zudem stellst Du es etwas so hin, dass er sich nur wegen ihr, weil sie nicht anruft, umbringen würde. Aber er weiß, dass Mutter und Bruder trauern würden ... Normalerweise ist Selbstmord aber doch nicht nur von einer Person/Situation/Grund abhänging. Du versuchst also, etwas auf sehr einfache Art zu erklären, was viel komplexer ist. So kommt es zumindest bei mir an.
Inhlatlich also nicht mein Fall, stilistisch bin ich gespannt auf mehr von Dir.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Spectator!

Selbstmordgeschichten triefen immer so vor Selbstmitleid, und deine ist da nicht wirklich anders. Immer sind die anderen böse, nie denkt einer der Selbstmörder ernsthaft darüber nach, ob es nicht vielleicht seine eigene Schuld ist, dass es zu der jeweiligen Situation gekommen ist, und was mich am meisten stört: Selbstmörder nehmen sich selbst immer so furchtbar wichtig. Alles muss sich nur um sie drehen! Lauter Egoisten!
Und vergessen wir nicht: Selbstmörder sind Verbrecher, denn sie sind feige Mörder!

Noch ein technischer Hinweis: Hie und da ein Absatz hätte nicht geschadet.


Liebe Grüße
Hubert

 

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