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Monsieur Cactus

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29.01.2010
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Monsieur Cactus

Hervé Pignon öffnete die Schranktür, liebevoll das Paket betrachtend, das darin mit einer festen Schnur umwickelt stand. Seine Hand zitterte, als seine Finger über das Packpapier glitten. Wirklich, das Objekt war in seinem Besitz, beinah konnte er es nicht glauben. Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht erneut auszupacken.

War es Zufall, dass er in der Savoy Bar mit jenem elegant gekleideten Herrn ins Gespräch kam? Dessen beigefarbener Sakko, mit breiten Nahtstichen am Revers, deutete auf die Arbeit eines Massschneiders hin. Der Foulard war Ton in Ton dazu abgestimmt. Gruber, wie er sich vorstellte, ein für Pignon ungewohnt auszusprechender Name. Sie sprachen über belanglose Dinge, sorgsam allzu persönliche Informationen ausklammernd. Irgendwann erwähnte der Herr beiläufig, dass sich ein Bekannter von ihm, der in gleichen gesellschaftlichen Kreisen verkehre, verspekuliert habe. Deshalb verkaufe er Teile seiner luxuriösen Wohnungseinrichtung, um schnell zu liquiden Mitteln zu gelangen. Er sei zwar vermögend, doch längerfristig in festen Anlagen gebunden. Pignon besass kein Interesse, hörte aber höflich zu, er wohnte nicht hier und würde in vier Tagen nach Hause fliegen. Gruber sprach unverdrossen weiter, deutete beiläufig ein Objekt an, bei dessen Erwähnung Pignon wie elektrisiert zusammenfuhr. Hatte er sich verhört? Giacometti? Der Herr bestätigte ihm den Namen nochmals, wobei er ihn sorgfältig aussprach. Dieser Tage hatte Pignon im Kunsthaus, Giacomettis eigenständiges Schaffen bestaunt. Es wäre für ihn unbezahlbar, aber die Vorstellung, ein Original berühren zu können, die Kraft und das labile Gestaltelement in der von ihm geschaffenen Skulptur mit eigenen Händen zu fühlen, war zu verlockend. Gruber fädelte für morgen Vormittag telefonisch bei seinem Bekannten einen Termin für Pignon ein.

Das gediegene Mehrfamilienhaus in Zollikon war Erste Adresse, wie er bemerkte, als er durch die sich automatisch öffnende Tür des Glasportals in die Eingangshalle schritt. Hinter einer Empfangstheke stand ein Portier, der ihn taxierte. Auf seine Frage nach Herrn Wildhaber bestätigte der Portier, er werde erwartet und zeigte auf den Lift: Zweiter Stock sagte er.

Wildhaber empfing ihn selbst. Ein hochgewachsener Mann, um die dreissig, was ihn etwas verwunderte, da er anscheinend sehr vermögend war. Wildhaber reichte ihm die Hand und bat ihn einzutreten. Der grossräumige Wohnbereich war dezent mit ausgewähltem Design und einigen Kunstobjekten eingerichtet. Da stand die Figur von Giacometti, dunkles Metall, vor dem linken Teil der lang gezogenen Glasfront zur Terrasse. Den herrlichen Ausblick auf den See nahm er nicht wahr.

Herr Wildhaber erlaubte Pignon die Figur, Gehender im Schritt verharrend, zu berühren. Der Moment, als seine Hände das Metall spürten, bewegte in ihm eine Verbundenheit mit dem Künstler, die ihn das visionäre Entstehen nachfühlen liessen.

Der Preis, den Wildhaber ihm nannte, lag unter dem Marktwert für Objekte dieses Künstlers. Pignon hatte sich vorab erkundigt, in welchen Preisklassen sich Werke von Giacometti bewegten. Durchschnittlich machte es ein Viertel seiner Vermögenswerte bei seiner Schweizer Bank aus. Es wäre für ihn erschwinglich, dieser Gedanke gab ihm ein Hochgefühl, doch seine Vernunft dämpfte es nach einem kurzen Moment. Nein, diesen Betrag könne er leider nicht aufbringen, gab er vor. Wildhaber schien enttäuscht, doch drängte er ihn nicht und gab ihm Zeit, sich von der Skulptur wehmütig zu trennen.

Sie waren an der Tür, als Wildhaber mit leiser Stimme sagte: «Ich könnte Ihnen im Preis noch etwas entgegenkommen.» Pignon blieb stehen, er hatte kurz zuvor noch innerlich mit sich gekämpft, ob das Kunstwerk eine bessere Wertanlage wäre, als das Geld auf der Bank zu horten. Wildhaber nannte eine tiefere Summe. Pignons Herzschlag setzte einen Moment aus, um dann nur noch schneller zu pochen.

Als sie sich trennten, war Pignon Eigentümer der Skulptur. Wildhaber versprach ihm, sie würde noch heute ins Hotel Savoy Baur en Ville in Zürich gebracht werden. Erst hatte er angeboten, sie ihm nach Toulouse zu schicken, doch Pignon zögerte wegen der Einfuhrbestimmungen für Vermögenswerte. Dieses Problem musste er noch klären, in seiner Euphorie hatte er diesen Aspekt völlig ausser Acht gelassen.

In einem Blumengeschäft sah er am nächsten Tag einen hochgewachsenen Felsenkaktus, der in der gebeugten Form eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Giacometti zeigte. Nebeneinander würden sie einen eigenwilligen Kontrast bilden, dachte er, ging aber weiter.

In zwei Tagen war sein Rückflug gebucht und das Problem, wie er die Skulptur diskret und zollfrei nach Frankreich einführen könnte, noch ungelöst. Er hatte überlegt, sie in einem Mietwagen über die Grenze zu schaffen, aber auch verpackt wäre sie zu auffällig. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sie bei seiner Schweizer Bank im Tresor zu deponieren, ein Gedanke, der ihn schmerzte.

Auf dem Weg ins Hotel kam er wiederum an dem Blumengeschäft vorbei, in dem der Kaktus stand. Bereits wollte er vorbeigehen, als ein Gedanke ihn zögern liess. Er betrat das Geschäft und erkundigte sich. Natürlich könne man ihm den Kaktus durch eine internationale Spedition auch nach Frankreich liefern, zusammen mit dem von ihm erwähnten andern Objekt. Es sei überhaupt kein Problem, sie kämen beide in einen Holzverlad, der sie fachgerecht schütze. Eine bekannte Speditionsfirma, mit der sie seit Jahren zusammenarbeiteten, sei auf den Transport von Pflanzen spezialisiert. Pignon war überglücklich, doch noch einen Ausweg gefunden zu haben. Ein Kakteenliebhaber der zwei Pflanzen importieren liess war ja nichts Ungewöhnliches.

Zu Hause wartete er auf die Ankunft seines Monsieur Cactus, wie er die Skulptur inzwischen übermütig und scherzhaft nannte. Man hatte die Lieferung auf heute Nachmittag vereinbart. Es war genau vierzehn Uhr, als das Telefon klingelte. Die Speditionsfirma teilte ihm mit, dass sich der Transport leider verzögere. Einen neuen Termin könne man leider noch nicht nennen. Pignon war sehr ungehalten und forderte eine Erklärung. Da sich die Disponentin herumzierte, verlangte er den zuständigen Direktor zu sprechen, was sie veranlasste ihm mitzuteilen, der Lastwagen werde am Zollübergang in Genf festgehalten. Ihm wurde übel, man hatte seine Skulptur entdeckt. Die Frau am Telefon, welche sein Schweigen anders deutete, gab ihm vertraulich die Auskunft: «Der Chauffeur hatte unter dem Fahrersitz ein Paket mit synthetischen Drogen versteckt und wurde deshalb festgenommen. Der Lastwagen ist von der Zollfahndung inzwischen aber freigegeben worden, doch wir müssen erst einen andern Chauffeur dorthin schicken, um die Lieferungen auszuführen.» Pignon stöhnte, der Schock hatte ihn vorerst gelähmt, nun verspürte er Hilflosigkeit, auch wenn die Gefahr anscheinend vorüber war. Panisch überlegte er, ob und wie er sich aus der Sache hätte herausreden können, wenn sie aufgeflogen wäre. Am plausibelsten wäre zu behaupten, dachte er, Herkunft und Besitzer dieser Figur nicht zu kennen. Wenn man dies akzeptierte, wäre mein Verlust der Kaufpreis. Nein, dies war zu viel. Ihn schauderte! Befindet man mich jedoch der Einfuhr nicht deklarierter Kunst für schuldig, müsste ich mit einer mehrfachen Geldstrafe des Wertes des Objektes rechnen. Auch würde man über die Herkunft und die Finanzierung Auskunft verlangen. Es heisst, die Zollfahndung habe sehr harte Verhörmethoden. Man würde aus mir meine anonyme Bankverbindung in der Schweiz herauspressen, dann käme eine weitere Strafe wegen Steuerhinterziehung dazu. Sein verstorbener Vater hatte seinerzeit dieses Konto eröffnet und ihn als einzigen Erben frühzeitig darüber orientiert.

Vage erinnerte er sich plötzlich auch an eine Zeitungsnotiz in der La Dépêche du Midi vor einigen Monaten. Es war eine kurze Meldung, in Deutschland sei eine Fälscherbande aufgeflogen, die Kopien von Giacometti-Skulpturen herstellte und sie als Originale verkaufte. Wildhaber hatte ihm kein Echtheits-Zertifikat mitgegeben, er würde dies nachfordern. Der Gedanke einer Fälschung war absurd und könnte an der Sache auch nichts ändern. Der grosse Schluck Cognac vermochte sein Unbehagen nicht zu dämpfen, der Schock des Anrufs hatte ihn durcheinandergebracht.

Es wurden mehrere unruhige Tage, in denen er befürchtete, der Lastwagen könnte doch nochmals genau inspiziert werden. Als er Freitagsabend nach Hause kam, stand vor seiner Wohnungstür ein Lattenverschlag mit dem Kaktus und der in Packpapier verhüllten Figur. Sein Herz klopfte stark bei diesem Anblick. Monsieur Cactus ist die Emigration gelungen. Aber eigentlich ist es ja eine Heimkehr, Giacometti lebte und arbeitete schliesslich in Paris. Schnell öffnete er die Wohnungstür und zerrte den Lattenverschlag hinein. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ein dazutretender Nachbar, der sich neugierig nach dem Inhalt des Pakets erkundigt.

Auf dem Sofa sitzend betrachtete er zufrieden die neue Raumgestaltung. Für Monsieur Cactus hatte er einen Platz vor der Fensterfront gewählt, Wildhaber imitierend, und den Kaktus am anderen Ende der Front als Kontrast platziert. Die Umstellung anderer Dinge hatte sich gelohnt, es wirkte auf ihn stimmig. Ein Hochgefühl baute sich auf, die Ängste, welche er ausgestanden hatte, waren endgültig beseitigt. Er hob sein Rotweinglas und prostete Monsieur Cactus zu.

Ein Klingeln an der Tür liess ihn zusammenfahren, es war länger als Besucher sich normal ankündigen und wirkte dadurch ungewohnt heftig. Nur Beamte treten so massiv auf, war sein Gedanke. Seine Nerven, die in letzter Zeit überstrapaziert wurden, liessen ihn erzittern, kalter Schweiss trat auf seine Stirn und Tränen bildeten sich in seinen Augen.

Nun klopfte es an der Wohnungstür, eine weibliche Stimme rief seinen Namen, es war Frau Bouchard eine Nachbarin, wie er erkannte. Sie stand mit ihrem Sohn draussen. «Entschuldigen Sie bitte Herr Pignon. Mein Kleiner hat, als wir nach Hause kamen, an der Haustürglocke unten gedrückt. Ich hatte meine Hände voll mit Einkaufstaschen und merkte dies zu spät.» Verwundert sah sie, wie Pignon aus beiden Augen je eine Träne floss.

 
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Voilà tout.

A.

 
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Hallo niname

Es freut mich, dass das kleine Abenteuer von Monsieur Pignon Deinen Gefallen fand. Ich fürchtete schon, der Hintergrund von Bankgeheimnis und das angedeutete Milieu von Reichen könnte arrogant und einen Abwehrreflex erzeugend wirken. Herr Steinbrück hatte mit seinem zupfen an den in Helvetien deponierten Geldbeuteln seiner Bürger ja doch für ein Politikum und Imagewerbung gesorgt.

Der Name war keine grosse Fantasieleistung von mir, da er mir beim Betrachten der Figurengruppe vom Sofa aus einfiel. Die Skulptur steht bei mir, Gott bewahre, kein echter Giacometti, nur eine Hommage à Giacometti eines unbedeutenden südfranzösischen Plastikers, neben einem über dreissigjährigen Felsenkaktus mit eben dieser analogen Neigung.

Das abrupte Ende war im Entwurf noch kürzer, endete mit dem Klingeln. Da dies jedoch zu jäh war, hatte ich es dann mit der Sequenz der Nachbarin erweitert. Ich hatte lange Zeit darüber nachgedacht, doch schien es mir in dieser Form am realistischsten. Auch hatte Pignon ja seine Strafe. Er lebt mit der Angst, doch noch entdeckt zu werden und die Herkunft des Giacometti nachweisen zu müssen.

Auf die direkte Rede verzichtete ich, nachdem ich es mit verschiedenen Wendungen versuchte. Es wäre raumfüllend geworden, inhaltlich aber nicht sonderlich ansprechend. Ich weiss, viele Leser bevorzugen das ausgewogen durchsetzte, deshalb am Schluss wenigstens noch kurz einen Satz. – Als Reverenz an meine Kritiker, die unzureichende Dialoge immer wieder mal ankreiden, die nächste Geschichte welche ich bringen werde, ist bis auf eine kurze Einleitung fast ausschliesslich Dialog.

Danke für Deine korrigierenden Hinweise, ich werde sie bei der Überarbeitung der Satzlängen, auf welche Gisanne mich hinwies, ebenso berücksichtigen. Beim Namen der Skulptur Gehender im Schritt verharrend, wollte ich es kursiv setzen, verpasste dies aber. Dies hole ich nach. Das Original von Giacometti, welches ich für diese Geschichte adaptierte, heisst übrigens schlicht „Gehender“.

Gruss

Anakreon

Nachtrag:

Bei der Überarbeitung habe ich doch noch einzelne Passagen entdeckt, die mir im gleichen Rahmen eine direkte Rede und die Darstellung eines inneren Monologs erlauben.

 

Eine an sich schöne Geschichte, die Du uns in gewohntem Stile darbietest,

lieber Anakreon,

die ich freilich besser vor dem Satyrspiel gelesen hätte, denn sie wirkt auf mich wie eine Fingerübung zu diesem.

Wie dem auch sei, ein schöner Schlamassel, in den M. Pignon, der Protagonist der Geschichte, sich hineinbugsiert. Der glaubt nämlich, einen ungewöhnlichen Coup zu landen, als er die mutmaßlich stabähnliche Skulptur <Gehender im Schritt verharrend < (ein Titel, der dem Ganzen einen surrealistischen Anstrich verleiht) als Schnäppchen ergattern kann. Das gute Stück soll nicht unnötig verteuert werden, weshalb M. P die Skulptur um eine Stammsukkulente bereichert, die das Objekt der Begierde schützen soll vor neugierigen Augen, unbedarften Fingern

[wozu mir der kleine Reim einfällt: „das Berühren / der Figüren / mit den Pfoten / ist verboten“]

und dem Zoll. Weil M. P nicht nervenstark genug ist – wie wir im Verlauf der Geschichte erfahren – wird der grenzüberschreitende Transport einem Spediteur anvertraut, der weniger kostet als die Steuer betrüge [ein Lob dem Konj. II in aller Mehrdeutigkeit!]. Das Projekt zerrt arg an den Nerven des Schnäppchenjägers – mit recht, denn wie nebenbei erfahren wir, dass Fälschungen Giacomettis … - aber halt, gelesen sollte es schon auch von andern werden.

Ein paar Bemerkungen, wobei ich diesmal nur einzelne Stellen anzeig, da die Kakophonie wieder ruft:

Kommas

Pignon besass kein InteresseKOMMA hörte aber höflich zu.
… der Portier ihm bestätigte, er werde erwartetKOMMA und auf den Lift zeigte.

Bleiben wir beim Portier, denn zum ersten Mal störte mich die Partizipienreiterei:
… ein Portier, der ihn taxierend musterte.
M. E. änderte der Relativsatz nicht seinen Inhalt, wenn eines der Verben beurlaubt würde: „… ein Portier, der ihn taxierte“ oder „… ein Portier, der ihn musterte.“

Ein sachlicher Fehler bei der Unterscheidung von Eigentum (der rechtlichen) und Besitz (der tatsächlichen Gewalt über eine Sache, in dem Fall) der Skulptur ist anzuzeigen:

Als sie sich trennten, war Pignon Besitzer der Skulptur.
Da die Figur erst einmal bei W verbleibt, besitzt der sie. M. P ist Eigentümer.

So viel oder wenig in aller Eile und zudem noch einen Dank, denn bis zu M Cactus wusst ich nic von den Giacomettis, was ich nachholen werde.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel

Die Fingerübung war mir ein liebes Stück, an Poesie etwas angelehnt. Vor Augen hatte ich dabei für Pignon – kaum wage ich es einzugestehen - die ulkige Figur von Prof. Tournesol (Bienlein) aus Tintin (Tim und Struppi) :sealed:. Doch um deshalb meinen Nimbus nun nicht ganz zu verlieren, sei erwähnt, Hergé liess sich für die Figur vom Äusseren von Auguste Picard inspirieren.

Schön, dass ich Dein Kompendium mit Giacometti erweitern konnte.

Danke für Deine kommatöse Massregelung. Tja, die Kommasetzung wurde mit der neuen Rechtschreibung zwar vereinfacht, doch die Gewissheit wurde dabei nicht gestärkt, wie ich immer wieder mal merke. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass das Wort Komma im Idiotikon (Schweizerdeutsches Wörterbuch) ebenso fehlt wie das bündnerische Wort Chuma, was aber nicht Komma bedeutet. Natürlich entschuldigt dies meine Fehlleistung nicht, doch vielleicht hebt es meine narzisstische Homöostase.

Auch ich bin wieder in Eile, um den neuen Pinselstrich am Hippokrates zu vollziehen.

Gruss

Anakreon

 
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Na, wenn das kein Zufall wäre, Tintinologie - Warhol und Spielberg werden von Wiki Tintinologen genannt - hierorts ist was feines, wenn schwergewichtige Fragen daherkommen wie die, ob & wie Literatur einen beeinflusse,

lieber Anakreon,

wo die Antwort doch überall offen liegt. Piccards Lebenserinnerung ("Über den Wolken, unter den Wellen) ist selbst für jüngere und ältere Knaben lesbar.

Aufs Satyrspiel komm ich Anfang der Woche zurück. Erste eigene Konsequenz: werd wohl beim Gesellen die Haar- um eine Satzspaltung anreichern.

Gruß & schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 
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Lieber Anakreon,

ich hab mir erlaubt, eine ältere (28.09.2010 um 23:38 Uhr) mit der neueren Fassung (05.10.2010; 18:39 Uhr) des M. Cactus zu vergleichen.

Was schon mit dem ersten Abschnitt ins Auge fällt, ist eine Straffung, denen auch alle statistischen Werte wie die Anzahl der Zeilen (alt: 147, neu: 141) und der Wörter (1.586 / 1.511) und Zeichen – ob mit oder ohne Leerzeichen – entspricht: formal hastu den Text um 5 % gekürzt. Ich will nur am ersten Absatz zeigen, dass gleichwohl einerseits gekürzt, andererseits aber genau entgegengesetzt gearbeitet wurde:

Heißt es vordem

Hervé Pignon öffnete die Schranktür. Liebevoll betrachtete er das braune Packpapier, das darin über einen Meter hochragend mit einer festen Schnur umwickelt stand. Seine Hand zitterte leicht, als seine Finger sanft über das Papier glitten. Wirklich, es war in seinem Besitz, beinah konnte er es nicht glauben. Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht erneut auszupacken,
so nun
Hervé Pignon öffnete die Schranktür, liebevoll das Paket betrachtend, das darin mit einer festen Schnur umwickelt stand. Seine Hand zitterte, als seine Finger über das Packpapier glitten. Wirklich, das Objekt war in seinem Besitz, beinah konnte er es nicht glauben. Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht wie schon bei der Ankunft, erneut auszupacken.

Ist der erste Hauptsatz unverändert geblieben, so wird bereits der zwote Satz zu einem Nebensatz verwandelt und zugleich um jene Informationen gekürzt, die für den weiteren Verlauf der Geschichte entbehrlich sind – wie das braune Packpapier und die Höhe des Pakets, sei’s auch um den Preis der Partizipienreiterei
Liebevoll betrachtete er …
/
…, liebevoll … betrachtend …
.
Nun finden wir aber die erste Inkonsequenz: Ob nun das Paket von einer „festen“ Schnur umwickelt war oder nicht tut recht wenig zur Sache und fügt nichts zur Geschichte an Information hinzu. Im Folgesatz gelingt die Straffung wieder, indem die zitternde Hand vom Grade ihrer Heftigkeit befreit wird: das „leicht“ ist mehr als abkömmlich, wie ja auch das „sanfte“ gleiten der Finger übers Papier. Warum dieses freilich zum „Packpapier“ geadelt wird – obwohl wir’s uns denken können bei einem Paket (ja sicher, ’s hätt’ auch Packpappe sein können) – bedürfte der Nachforschung und würde erst gegen Ende aufgeklärt.
Dass M. Pignon noch staunen & sich wundern kann, halt ich schon für erzählenswert, was dann aber geschieht, verwundert mich umso mehr, denn nun folgt der Satz, der vielleicht die ganze Malaise der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufzeigt:

Heißt es ursprünglich

Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht erneut auszupacken,
so nun
Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht wie schon bei der Ankunft, erneut auszupacken,
das eineinhalbfache des ursprünglichen Satzes (10 / 15 Wörter) – und bei Gott: es steht doch schon darin, dass M. P. das Paket schon ausgepackt hatte und wann sollte das geschehen sein, wenn nicht nach der Lieferung? Auch wird nach der Lieferung nichts von einem wiedereinpacken erzählt, nachdem die Figur erst Mal "heimgekehrt" sei, selbst da nicht, als die Türklingel "versehentlich" für einige Aufregung bei . P. sorgt.

Hätte ers doch ausgepackt lassen sollen/können/müssen! Nein, er packt’s Objekt der Begierde heimlich, dass niemand es merke (incl. Leser) wieder ein – als wäre M. P. verhaltensgestört. Hat er nicht das Eigentum am

Gehenden im Schritt verharrend
erworben, um an seinem Besitz Freude zu finden? Offensichtlich nicht!

Soll es sein Geheimnis bleiben, welchen Schatz er da gehoben hat? Oder ist der Prot ein Seelenverwandter (und damit m. E. ebenso rittiti wie) Christo Javacheff ohne eine Jeanne-Claude und bewertet Verpackung (und somit potentiellen Müll) für höher(e Kunst) ein als das Verpackte?

Oder: Fürchtet er um sein Eigentum? Oder noch schlimmer: hat er die Wahnvorstellung, der im Schritt verharrende könnte gehen oder gar fortlaufen?

Du siehst, ich sorg mich ein wenig um M. P. Was kann man da tun? Den

Gehenden …
wegsperren? Das versucht uns ja dieser erste Abschnitt einzureden. Aber gehörte nicht eher bei den Verhaltensauffälligkeiten M. P. in Behandlung?

Ich weiß es nicht und fürchte doch, dass eine bestimmte Form von gesellschaftlich legitimierter Gier nach Besitz um des Besitzes Willen eher therapiert statt gepflegt werden müsste. Eine Gier, die Gottfried Keller bereits vor eineinhalb Jahrhunderten erkannt hatte, worüber ihm das Lachen verloren ging (was immerhin noch mit Witz geschah, der dann beim Salander nurmehr gelegentlich durchschaut).

Gruß

Friedel

 
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Lieber Friedel

Deinem Argusblick entgeht wahrhaft nichts, dabei hatte ich die Retuschen doch vermeintlich diskret den Lesern unterjubelt. Nicht nur das, Du verfügst sogar noch über die vorgehenden Versionen, im Gegensatz zu mir, wie ich bereits beim Hippokrates feststellen durfte. Ein Anteil von mir ist Minimalist, der insbesondere beim Aufbewahren zum Tragen kommt. Ich denke, ich sollte dies auf meinen Schreibstil übertragen, weitgehender mich auf das Wesentliche beschränken. Na ja, ich versuch es.

Dass Du Statistik zur Beweisführung vorab anführst, löste bei mir ein Schmunzeln aus. Statistiken haben mir stets etwas den Stellenwert von Parteipolitik, da kann alles hineininterpretiert werden, sie sind
dreh- und wendbar. Doch recht Interessant fand ich Deine philologische Akribie, mit der Du die Änderungen nachverfolgtest.

Natürlich hast Du recht, die Straffung an sich hatte ich wieder mit einer Ausschweifung beschämt. Ich habe den Akt im Hotelzimmer um die Phrase wieder gekürzt.

Ich schätze es sehr, wenn ich mit meinen kleinen Geschichten Emotionen zu wecken vermag. Es zeigt mir, dass sie auf der Gefühlsebene ansprechen. Doch irrst Du, wenn ich Dich recht verstehe. Ein Hang zu Christo und dessen Partnerin ist es nicht, der Pignon die Figur im Hotelzimmer wieder einpacken liess. Vielmehr um sie für den Transport vor fremden Blicken zu schützen. Zu Hause dann hatte Pignon die Skulptur Wildhaber imitierend vor die Fensterfront gestellt. Ich denke, das imitierend vermittelt dem Leser ausreichend den Anblick der ausgepackten Skulptur, eben wie bei Wildhaber. Den Vorgang des Auspackens habe ich den Lesern erspart resp. es ihrem Vorstellungsvermögen übertragen.

Die Frage einer Behandlung für M. P. würde ich verneinen. Es ist nicht einfach Gier nach Besitz, der ihn leitet, mehr ein anfängliches Glücksgefühl, diese Skulptur in seiner Nähe zu haben. Wohl macht ihn der Erwerb der Skulptur situativ zum Sonderling, doch aus purer Angst, da er sich eines Unrechts bewusst ist und die Folgen fürchtet. Der Zeitfaktor würde bei ihm diese Angst aber rasch abbauen, da später niemand mehr nach der Herkunft fragte. Insofern ist Pignon ein Durchschnittsmensch der durchschnittlich reagiert. Ausnahmesituationen verleiten Menschen manchmal dazu, die Kontrolle über ihre Handlungen zu verlieren.

Danke für Deine erneut kritische Auseinandersetzung mit dem Stoff.

Gruss

Anakreon

 

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