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Monsieur Cactus
Hervé Pignon öffnete die Schranktür, liebevoll das Paket betrachtend, das darin mit einer festen Schnur umwickelt stand. Seine Hand zitterte, als seine Finger über das Packpapier glitten. Wirklich, das Objekt war in seinem Besitz, beinah konnte er es nicht glauben. Es kostete ihn Überwindung, den Gegenstand darin nicht erneut auszupacken.
War es Zufall, dass er in der Savoy Bar mit jenem elegant gekleideten Herrn ins Gespräch kam? Dessen beigefarbener Sakko, mit breiten Nahtstichen am Revers, deutete auf die Arbeit eines Massschneiders hin. Der Foulard war Ton in Ton dazu abgestimmt. Gruber, wie er sich vorstellte, ein für Pignon ungewohnt auszusprechender Name. Sie sprachen über belanglose Dinge, sorgsam allzu persönliche Informationen ausklammernd. Irgendwann erwähnte der Herr beiläufig, dass sich ein Bekannter von ihm, der in gleichen gesellschaftlichen Kreisen verkehre, verspekuliert habe. Deshalb verkaufe er Teile seiner luxuriösen Wohnungseinrichtung, um schnell zu liquiden Mitteln zu gelangen. Er sei zwar vermögend, doch längerfristig in festen Anlagen gebunden. Pignon besass kein Interesse, hörte aber höflich zu, er wohnte nicht hier und würde in vier Tagen nach Hause fliegen. Gruber sprach unverdrossen weiter, deutete beiläufig ein Objekt an, bei dessen Erwähnung Pignon wie elektrisiert zusammenfuhr. Hatte er sich verhört? Giacometti? Der Herr bestätigte ihm den Namen nochmals, wobei er ihn sorgfältig aussprach. Dieser Tage hatte Pignon im Kunsthaus, Giacomettis eigenständiges Schaffen bestaunt. Es wäre für ihn unbezahlbar, aber die Vorstellung, ein Original berühren zu können, die Kraft und das labile Gestaltelement in der von ihm geschaffenen Skulptur mit eigenen Händen zu fühlen, war zu verlockend. Gruber fädelte für morgen Vormittag telefonisch bei seinem Bekannten einen Termin für Pignon ein.
Das gediegene Mehrfamilienhaus in Zollikon war Erste Adresse, wie er bemerkte, als er durch die sich automatisch öffnende Tür des Glasportals in die Eingangshalle schritt. Hinter einer Empfangstheke stand ein Portier, der ihn taxierte. Auf seine Frage nach Herrn Wildhaber bestätigte der Portier, er werde erwartet und zeigte auf den Lift: Zweiter Stock sagte er.
Wildhaber empfing ihn selbst. Ein hochgewachsener Mann, um die dreissig, was ihn etwas verwunderte, da er anscheinend sehr vermögend war. Wildhaber reichte ihm die Hand und bat ihn einzutreten. Der grossräumige Wohnbereich war dezent mit ausgewähltem Design und einigen Kunstobjekten eingerichtet. Da stand die Figur von Giacometti, dunkles Metall, vor dem linken Teil der lang gezogenen Glasfront zur Terrasse. Den herrlichen Ausblick auf den See nahm er nicht wahr.
Herr Wildhaber erlaubte Pignon die Figur, Gehender im Schritt verharrend, zu berühren. Der Moment, als seine Hände das Metall spürten, bewegte in ihm eine Verbundenheit mit dem Künstler, die ihn das visionäre Entstehen nachfühlen liessen.
Der Preis, den Wildhaber ihm nannte, lag unter dem Marktwert für Objekte dieses Künstlers. Pignon hatte sich vorab erkundigt, in welchen Preisklassen sich Werke von Giacometti bewegten. Durchschnittlich machte es ein Viertel seiner Vermögenswerte bei seiner Schweizer Bank aus. Es wäre für ihn erschwinglich, dieser Gedanke gab ihm ein Hochgefühl, doch seine Vernunft dämpfte es nach einem kurzen Moment. Nein, diesen Betrag könne er leider nicht aufbringen, gab er vor. Wildhaber schien enttäuscht, doch drängte er ihn nicht und gab ihm Zeit, sich von der Skulptur wehmütig zu trennen.
Sie waren an der Tür, als Wildhaber mit leiser Stimme sagte: «Ich könnte Ihnen im Preis noch etwas entgegenkommen.» Pignon blieb stehen, er hatte kurz zuvor noch innerlich mit sich gekämpft, ob das Kunstwerk eine bessere Wertanlage wäre, als das Geld auf der Bank zu horten. Wildhaber nannte eine tiefere Summe. Pignons Herzschlag setzte einen Moment aus, um dann nur noch schneller zu pochen.
Als sie sich trennten, war Pignon Eigentümer der Skulptur. Wildhaber versprach ihm, sie würde noch heute ins Hotel Savoy Baur en Ville in Zürich gebracht werden. Erst hatte er angeboten, sie ihm nach Toulouse zu schicken, doch Pignon zögerte wegen der Einfuhrbestimmungen für Vermögenswerte. Dieses Problem musste er noch klären, in seiner Euphorie hatte er diesen Aspekt völlig ausser Acht gelassen.
In einem Blumengeschäft sah er am nächsten Tag einen hochgewachsenen Felsenkaktus, der in der gebeugten Form eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Giacometti zeigte. Nebeneinander würden sie einen eigenwilligen Kontrast bilden, dachte er, ging aber weiter.
In zwei Tagen war sein Rückflug gebucht und das Problem, wie er die Skulptur diskret und zollfrei nach Frankreich einführen könnte, noch ungelöst. Er hatte überlegt, sie in einem Mietwagen über die Grenze zu schaffen, aber auch verpackt wäre sie zu auffällig. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sie bei seiner Schweizer Bank im Tresor zu deponieren, ein Gedanke, der ihn schmerzte.
Auf dem Weg ins Hotel kam er wiederum an dem Blumengeschäft vorbei, in dem der Kaktus stand. Bereits wollte er vorbeigehen, als ein Gedanke ihn zögern liess. Er betrat das Geschäft und erkundigte sich. Natürlich könne man ihm den Kaktus durch eine internationale Spedition auch nach Frankreich liefern, zusammen mit dem von ihm erwähnten andern Objekt. Es sei überhaupt kein Problem, sie kämen beide in einen Holzverlad, der sie fachgerecht schütze. Eine bekannte Speditionsfirma, mit der sie seit Jahren zusammenarbeiteten, sei auf den Transport von Pflanzen spezialisiert. Pignon war überglücklich, doch noch einen Ausweg gefunden zu haben. Ein Kakteenliebhaber der zwei Pflanzen importieren liess war ja nichts Ungewöhnliches.
Zu Hause wartete er auf die Ankunft seines Monsieur Cactus, wie er die Skulptur inzwischen übermütig und scherzhaft nannte. Man hatte die Lieferung auf heute Nachmittag vereinbart. Es war genau vierzehn Uhr, als das Telefon klingelte. Die Speditionsfirma teilte ihm mit, dass sich der Transport leider verzögere. Einen neuen Termin könne man leider noch nicht nennen. Pignon war sehr ungehalten und forderte eine Erklärung. Da sich die Disponentin herumzierte, verlangte er den zuständigen Direktor zu sprechen, was sie veranlasste ihm mitzuteilen, der Lastwagen werde am Zollübergang in Genf festgehalten. Ihm wurde übel, man hatte seine Skulptur entdeckt. Die Frau am Telefon, welche sein Schweigen anders deutete, gab ihm vertraulich die Auskunft: «Der Chauffeur hatte unter dem Fahrersitz ein Paket mit synthetischen Drogen versteckt und wurde deshalb festgenommen. Der Lastwagen ist von der Zollfahndung inzwischen aber freigegeben worden, doch wir müssen erst einen andern Chauffeur dorthin schicken, um die Lieferungen auszuführen.» Pignon stöhnte, der Schock hatte ihn vorerst gelähmt, nun verspürte er Hilflosigkeit, auch wenn die Gefahr anscheinend vorüber war. Panisch überlegte er, ob und wie er sich aus der Sache hätte herausreden können, wenn sie aufgeflogen wäre. Am plausibelsten wäre zu behaupten, dachte er, Herkunft und Besitzer dieser Figur nicht zu kennen. Wenn man dies akzeptierte, wäre mein Verlust der Kaufpreis. Nein, dies war zu viel. Ihn schauderte! Befindet man mich jedoch der Einfuhr nicht deklarierter Kunst für schuldig, müsste ich mit einer mehrfachen Geldstrafe des Wertes des Objektes rechnen. Auch würde man über die Herkunft und die Finanzierung Auskunft verlangen. Es heisst, die Zollfahndung habe sehr harte Verhörmethoden. Man würde aus mir meine anonyme Bankverbindung in der Schweiz herauspressen, dann käme eine weitere Strafe wegen Steuerhinterziehung dazu. Sein verstorbener Vater hatte seinerzeit dieses Konto eröffnet und ihn als einzigen Erben frühzeitig darüber orientiert.
Vage erinnerte er sich plötzlich auch an eine Zeitungsnotiz in der La Dépêche du Midi vor einigen Monaten. Es war eine kurze Meldung, in Deutschland sei eine Fälscherbande aufgeflogen, die Kopien von Giacometti-Skulpturen herstellte und sie als Originale verkaufte. Wildhaber hatte ihm kein Echtheits-Zertifikat mitgegeben, er würde dies nachfordern. Der Gedanke einer Fälschung war absurd und könnte an der Sache auch nichts ändern. Der grosse Schluck Cognac vermochte sein Unbehagen nicht zu dämpfen, der Schock des Anrufs hatte ihn durcheinandergebracht.
Es wurden mehrere unruhige Tage, in denen er befürchtete, der Lastwagen könnte doch nochmals genau inspiziert werden. Als er Freitagsabend nach Hause kam, stand vor seiner Wohnungstür ein Lattenverschlag mit dem Kaktus und der in Packpapier verhüllten Figur. Sein Herz klopfte stark bei diesem Anblick. Monsieur Cactus ist die Emigration gelungen. Aber eigentlich ist es ja eine Heimkehr, Giacometti lebte und arbeitete schliesslich in Paris. Schnell öffnete er die Wohnungstür und zerrte den Lattenverschlag hinein. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ein dazutretender Nachbar, der sich neugierig nach dem Inhalt des Pakets erkundigt.
Auf dem Sofa sitzend betrachtete er zufrieden die neue Raumgestaltung. Für Monsieur Cactus hatte er einen Platz vor der Fensterfront gewählt, Wildhaber imitierend, und den Kaktus am anderen Ende der Front als Kontrast platziert. Die Umstellung anderer Dinge hatte sich gelohnt, es wirkte auf ihn stimmig. Ein Hochgefühl baute sich auf, die Ängste, welche er ausgestanden hatte, waren endgültig beseitigt. Er hob sein Rotweinglas und prostete Monsieur Cactus zu.
Ein Klingeln an der Tür liess ihn zusammenfahren, es war länger als Besucher sich normal ankündigen und wirkte dadurch ungewohnt heftig. Nur Beamte treten so massiv auf, war sein Gedanke. Seine Nerven, die in letzter Zeit überstrapaziert wurden, liessen ihn erzittern, kalter Schweiss trat auf seine Stirn und Tränen bildeten sich in seinen Augen.
Nun klopfte es an der Wohnungstür, eine weibliche Stimme rief seinen Namen, es war Frau Bouchard eine Nachbarin, wie er erkannte. Sie stand mit ihrem Sohn draussen. «Entschuldigen Sie bitte Herr Pignon. Mein Kleiner hat, als wir nach Hause kamen, an der Haustürglocke unten gedrückt. Ich hatte meine Hände voll mit Einkaufstaschen und merkte dies zu spät.» Verwundert sah sie, wie Pignon aus beiden Augen je eine Träne floss.