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Mordito
„Das ist er?“ fragte Pondio sein Gegenüber, den Blick auf die geballte Muskelmasse des Stieres gerichtet.
„Ja, Senor Pondio, das ist er! Ein wahrlich riesiges Gebilde unsäglicher Kraft und Wildheit, Senor, sehen sie?“ Piedro wischte sich hastig seinen von der Stirn herunter laufenden Schweiß mit einem seiner Hemdärmeln ab. Es war stickig in diesem Stall. Das kleine, vergitterte Fenster reichte nicht aus, die hier stehende, schlechte Luft und die düstere Dunkelheit zu vertreiben. Ein heller Sonnenstrahl beleuchtete einen tellergroßen Fleck auf dem hellbraunen Fell des Stieres. Dort tanzten dicke Fliegen ihre Reigen.
„Na, groß ist er schon, sehr groß sogar, Piedro…. aber Wildheit und Kraft? Schau Dir Deinen Stier mal an, der bewegt nicht mal seinen Schwanz, um die Fliegen zu vertreiben!“
Piedro schwitzte noch mehr. Er musste diesen Stier an Senor Pondio verkaufen. Piedro war arm. Ein Bauer mit einer Frau, die ihm sechs Kinder geschenkt hatte. Eigentlich sollte er glücklich sein, aber die Zeiten waren schlecht und Piedro hatte alle Mühe und Anstrengungen, seine Familie zu versorgen. Sein Hof war klein und es reichte ihnen meist nur, um gerade zu überleben. Mordito, der Stier den er seit dessen Geburt aufgezogen, gepflegt und gefüttert hatte, sollte ihm nun durch dessen Verkauf an Senor Pondio endlich den Lohn für seine Mühen sein. Ein guter Stier war sehr viel Wert, und es würde seine Familie über lange Zeit ernähren. Aber er musste Senor Pondio überzeugen.
„Bring ihn nach draußen, Piedro, ich möchte ihn mir genauer ansehen, Angelo wird ihn sich ansehen!“ Pondio war immer auf der Suche nach guten Stieren, als Bürgermeister hatte er dafür zu sorgen, daß das alljährliche Stadtfest gebührend gefeiert wurde. Höhepunkt an solch einem Tag war immer der Stierkampf in der Arena.
Es stimmte, dieser Stier war groß gebaut und verdammt gut genährt. Aber Pondio hatte bedenken. War der Stier zu sanft? Es nutzte nichts, wenn der Torro sanft wie eine großeutrige Kuh durch die Arena laufen würde. Ein Torro musste etwas ausstrahlen, das die Zuschauer frösteln ließ, etwas, das böse und nach Unheil aussah. Dieser Stier war ihm zu ruhig. Außerdem schmälerte sein braunes Fell das Ansehen eines aus der Hölle entsprungenen Bullen, den sich die Menschen in der Arena gerne vorstellen. Angelo war einer seiner Männer, ein Picadore, bei Corridas war es seine Aufgabe, den Stier mit seiner Lanze so zu verletzen, dass dieser genug Blut verlor, damit es für den Matador einfacher war, den Bullen zu töten. Angelo hatte schon über Jahre an Stierkämpfen teilgenommen, so hatte er schon viel Erfahrung und Wissen über die Stiere sammeln können und Pondio hielt viel von ihm.
Er glitt durch die Stalltür, trat in die heiße Sonne und winkte Angelo zu sich.
„Angelo, hör mir zu: Piedro wird nun den Stier ins Freie bringen. Schau ihn Dir an und gib mir Deine Meinung zum Besten!“ Angelo nickte. Er kannte sich aus mit Stieren. Schon seit Jahren verdiente er sich sein Geld auf der Hazienda von Senor Pondio und der Arena, die seinem Herrn gehörte.
Piedro tätschelte den Nacken seines Stieres. Mordito stand ruhig da. Er vertraute Piedro und nahm es gelassen hin, dass ihm ein dicker Strick durch seinen Nasenring gezogen und dann verknotet wurde. Er wurde etwas aufgeregter. Immer wenn er einen Strick durchgezogen bekam, wurde er nach draußen geführt, wo er die Sonne sehen konnte und mehr Bewegungsfreiheit hatte. Nun war es wieder soweit. Willig folgte er Piedro hinaus vor den Stall.
Mordito blinzelte, als die Sonne in seinen Augen stach. Für einen Moment blieb er stehen und versuchte klarer zu sehen. Die Luft war warm, aber angenehmer. Und er roch so viele Sachen. Die Luft hier war ganz anders als in seinem Stall. Frischer, besser und interessanter.
Der Stier wurde an einem dicken Pflock angebunden. Angelo trat einen Schritt auf den Stier zu und blickte ihm direkt in die Augen. Wildheit? Feuer? Leidenschaft? Nein! Der Stier war lammfromm. Unsicher blickte er zu Senor Pondio. Er erhaschte ein kurzes Nicken seines Herrn, dann zog er plötzlich ein kleines Messer hervor und stieß es dem Stier in die Schulter. Mordito brüllte auf. Etwas hatte ihn gestochen. Etwas Großes. Er gewahr einen Mann neben sich, der soeben seine Hand von ihm wegzog und ihn erwartungsvoll anblickte. Angelo lief Richtung Flanke, holte aus und stach nochmals zu. Mordito schlug aus. Das war zu viel. Der Mann war schuld! Dieser Schmerz! Die Augen rollten und der Stier merkte, dass er immer wütender wurde. Angebunden und ohne Ausweg auf Flucht spürte der Bulle immer mehr Wut in sich aufkeimen, als wieder zugestochen wurde. Das war zu viel! Mordito fing an zu rasen!. Diese Pein! Wäre er nicht an diesem Pflock gebunden, würde die Schnauze bei seinem Reißen nicht so sehr schmerzen, er hätte den Mann schon längst niedergetrampelt.
Angelo war zufrieden. Ja, es würde gehen. Wenn der Bulle genug gereizt würde, könnte dieser zum Satan werden. Angelo nickte in Richtung seines Herrn. Dieser trat schließlich auf Piedro zu.
„800 Peseten, Piedro. Ein guter Preis, mein einziges und letztes Angebot!“
Es war schon dunkel, als Piedro in den Stall des Bullen ging. Seine Öllampe erhellte diesen dunklen Ort nur vage. Langsam, voller Schuldgefühle trat Piedro an den angebundenen Stier heran, eine Träne rann an seiner durchfurchten Wange herab.
„Es tut mir so leid, alter Freund, so leid!“ würgte Piedro hervor und tätschelte noch einmal den muskulösen Körper des Stieres. Morgen würde er geholt werden.
Bunte, im Wind schaukelnde lustige Fähnchen waren zwischen den Häusern der kleinen Stadt gespannt. Spielende Kinder, lachende Menschen und Marktleute, die allerlei Tand anzupreisen hatten, füllten die Straßen mit Leben. Alles zog Richtung Arena, es war Feiertag! Heute freuten sich die Menschen nicht nur wegen der vielen Festchen, der Musikanten und des ganzen Trubels, nein heute gab es wieder einmal ein richtiges Spektakel mitzuerleben. Eine wahre Menschentraube wanderte zur Corrida, darunter auch ein Mann mit hängenden Schultern und schleppenden Schritt. Piedro war ebenfalls auf dem Weg dort hin. Er wusste nicht einmal genau, wieso er dies tat, denn je näher er kam, desto mehr stand ihm der Schweiß auf der Stirn, desto mehr spürte er eine Übelkeit in sich aufsteigen. Die Schritte wurden immer langsamer, immer kürzer, doch trotzdem kam die Arena viel zu schnell näher.
Mordito war aufs Höchste unruhig. Er hatte die letzten Tage immer wieder Stockschläge hinnehmen müssen, seine Hörner waren gekürzt worden, dabei waren Nervenstränge durchtrennt worden und er empfand starke Schmerzen, die ihn, vielleicht auch weil er schon seit Tagen kein Wasser mehr bekommen hatte, manchmal vor Ohnmacht schwanken ließen. Vor einigen Tagen war er geholt worden, hinausgetrieben aus seinem Stall, verladen in ein Vehikel und irgendwann ausgeladen in fremder Umgebung. Er war eingepfercht worden, zusammen mit anderen Stieren und alle rollten mit den Augen, und schnaubten wie toll. Es war eine gefährliche Situation, denn die anderen Bullen war ebenfalls gepeinigt worden und vor Schmerzen stießen sie sich gegenseitig mit ihren gekürzten, aber spitz geschliffenen Hörnern immer wieder in ihre Körper. Mit der Zeit lichtete sich der Stall, denn immer wieder wurde ein Bulle nach dem anderen hinausgetrieben. Mordito wurde plötzlich wieder mit Stöcken geschlagen. Er versuchte den Schlägen zu entkommen und sah plötzlich einen Ausweg durch einen schmalen Gang. Instinktiv bewegte er sich auf das Licht zu, nur um seiner Pein zu entgehen.
„Olé! Olé! Olé!“ Die Menge tobte. Dies war ein guter Tag. Die Matadore wussten, wie sie die Menge bei Laune halten konnten. Der Sand in der Arena war rot getränkt von Stieren, die hier nach langen Kämpfen den Lebenswillen verloren hatten und durch mehr oder weniger gute Stiche mit einem Schwert durch den Nacken endlich erlöst wurden. Bitter blickte Piedro hinunter auf das Schlachtfeld, früher war er gern zu den Corridas gekommen und auch er war jedes Mal von Jubel erfüllt, wenn ein Matador seinen Stier erlegt hatte. Aber nicht so heute. Still saß der Mann auf seinem Platz, zusammengesunken mit Tränen in seinen Augen. Bald war es soweit, dann würde Mordito auf den Platz getrieben werden, ein Freund, den er verkauft hatte, um qualvoll hingerichtet zu werden.
„Olé! Olé! Olé!“ Mordito trabte in die Arena. „Olé!“ Der Stier war kurz davor den Verstand zu verlieren. Es war so unglaublich laut, die Sonne so grell und die Schmerzen in seinem Kopf unerträglich. Da gewahr er einen Reiter auf seinem Pferd, es war Angelo, der eine Lanze auf ihn gerichtet hatte und nun auf ihn zugaloppierte. Mordito war überrascht worden, kurz darauf spürte er den ersten tiefen und schmerzhaften Stoß in seiner Schulter...
Piedros Augen wanderten schmerzvoll nach oben, in die Wolken und suchte um die Gunst Gottes für seinen Freund. Er schloss seine Augen und bat seinen Herrn still, aber insbrünstig um Rettung für Mordito.
„Herr, schenke ihm das Leben! Gib ihm die Kraft, den Kampf zu bestehen und diesen verfluchten Matador zu besiegen! Nimm von mir, was Du willst, ich bin Schuld, ich bin ein Verräter!“
Mordito, nun schon von einer zweiten Lanze durchbohrt sah rot. Wut kroch in ihm hoch, animalische Wut, die ihm die Sicht vernebelte und zu grenzenlosem Hass erwuchs. Der Stier explodierte förmlich, als er auf den Reiter und sein Pferd zustieß und beide niederrannte. Ein kurzes Wiehern des Pferdes und ein kurzer Aufschrei des Reiters, dann war dieser unter dem Pferd begraben. Erschreckte Schreie auf der Tribüne hallten durch die Arena, als Mordito auf den Matador zuraste und diesen auf seine Hörner spießte. Der Matador wurde durch die Luft geschleudert, kam mit gebrochenen Genick zu Boden auf und wurde unter dem Gewicht des Stieres schrecklich zertrampelt.
Stille war eingekehrt, Mordito stand blutend in der Mitte der Arena. Die Zuschauer, zu wahren Salzsäulen erstarrt, blickten hinunter in das Schlachtfeld des Chaos. Erst leise, dann immer lauter klatschten einige in die Hände.
„Torro! Torro! Torro!“ Immer mehr Schaulustige begannen zu klatschen und den Stier zu rufen.
„Torro! Torro! Torro!“ Die Rufe schwollen erst zu einem Rauschen, dann zu einem wahren Getöse an. Der Stier hatte den Matador besiegt und damit sein Recht auf Leben und Freiheit erkämpft.
„Torro! Torro! Torro!“ Ein Lächeln glitt über das Gesicht von Piedro. Er war stolz und glücklich. Er dankte Gott. Dann öffnete er die Augen…….
In diesem Moment wurde der tote Stier hinausgezogen.
„Wie hieß das Vieh noch mal?“ fragte sich Senor Pondio, und kratzte sich am Kopf, als der Kadaver an ihm vorbeigeschleppt wurde, eine breite Blutspur hinter sich herziehend.
„Mordito?“