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Morgen geht die Sonne wieder auf
Sie standen am Fenster und blickten hinunter auf die große Menge. So viele Menschen auf einem Haufen hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Es erschien ihnen fast unglaublich, dass sich so viele Menschen hier versammelt hatten, nur um sie zu sehen.
Es war ein schöner Tag heute. Die Sonne hatte den ganzen Tag über schon geschienen und die Vögel sangen fröhlich in den Bäumen. Ein leichter Wind blies durch die grünen Wipfel und machte die heißen Temperaturen erträglich.
Alles war perfekt an diesem Tag im Juli.
An diesem Tag.
An diesem Tag standen sie am Fenster und es erschien ihnen seltsam, dass sie seit Stunden hier stehen mussten und sich nicht vom Fleck rühren durften. Ob es etwas mit der Menge dort unten zu tun hatte? Vielleicht wollten die Menschen, dass sie am Fenster standen.
Vielleicht waren ihre Eltern in der Menge und blickten nun ganz stolz zu ihnen hinauf. Vielleicht war alles nur ein Traum, der bald enden würde.
„Nein“, sagte einer, ein etwas älterer. „Kein Traum, so sind Träume nicht.“
Ein kleines Mädchen nickte, aber man sah ihr an, dass sie nicht ganz sicher war, ob der Ältere Recht hatte.
Einer hatte ein Schild in der Hand, da stand etwas drauf. Aber das konnten sie nicht lesen, sie konnten ja nicht lesen, deswegen verstanden sie nicht, was auf dem Schild stand.
Aber das war nicht schlimm, sie standen ja einfach nur da vor dem Fenster und sahen hinaus auf die langsam sinkende Abendsonne, die die Häuser und Straßen der Stadt in ein warmes Dunkelrot tauchte.
„Ich mag Sonnenuntergänge“, sagte das kleine Mädchen und schniefte dabei. Sie hatte schon oft mit ihrer Oma im Garten gesessen und abends der Sonne zugesehen, wie sie sich langsam dem Horizont zuneigte. Ihre Oma hatte ihr dann immer in die Augen geblickt und gesagt: „Reni, mein kleiner Sonnenschein, morgen geht die Sonne wieder auf, ist das nicht wunderbar?“
Sie hatte nie ganz verstanden, was ihre Oma damit gemeint hatte, aber die Art wie sie es sagte hatte sie immer beruhigt. Deswegen liebte sie Sonnenuntergänge und sie liebte auch diesen hier.
Aber irgendwie war diesmal alles anders.
Die Sonne war anders.
Ganz anders.
Das kleine Mädchen schniefte noch einmal und ließ ein paar Tränen in den Mundwinkel kullern.
„Heul nicht“, kam es von ganz links, von dem großen Jungen. „Das bringt dir gar nichts, dann bringen sie dich gleich als erste um.“
Der etwas kleinere Junge neben ihm fing nun auch an zu weinen und zog die Nase hoch.
Der Ältere schüttelte den Kopf.
„Babies.“
Die Sonne schien ununterbrochen. Sie warf ihre heiße Glut von sich. Kümmerte sich nicht um das, was sie tat, sondern tat es einfach.
War das nicht seltsam? War es nicht sonderbar, dass die Sonne ganz einfach so schien, so als sei es nie anders gewesen und sich nicht im Geringsten darum scherte, ob es einen Sinn hatte, dass sie schien.
Rotflammend stand sie tief an diesem Julihimmel und verbrannte den entsetzten Passanten die Gesichter. Unbarmherzig brannte sie herab, machte den Tag heiß und schien sich heute besonders viel Zeit mit dem Untergehen lassen zu wollen.
Sie war grausam, furchtbar kaltherzig und ohne jede Regung für die Kinder am Fenster.
Einer winkte hinunter.
Ganz kurz nur, aber er winkte. Es war nicht kurz genug gewesen. Einer von den Männern hatte es gesehen und kam mit wütenden Schritten auf sie zu.
Mit starkem Griff packte er den Jungen am Kragen.
„Wenn du das nochmal tust, dann blase ich dir das Licht aus, verstanden?“
Der Junge brach in Tränen aus und nickte mit dem Kopf. Mit zufriedenem Grunzen stieß der Mann ihn von sich und ging zurück zu den anderen Männern.
Einer von ihnen hing schon die ganze Zeit am Telefon. Er schien sich sehr über irgendetwas aufzuregen, denn er lief die ganze Zeit wie ein Tiger im Raum herum und rief laut in das Telefon hinein.
Immer wieder drangen Wortfetzen zu ihnen am Fenster durch, aber sie konnten nicht verstehen, was der Mann mit der lauten Stimme sagte.
Es war ihnen auch egal. Sie standen ja schließlich am Fenster und blickten hinaus auf den Sonnenuntergang, der eigentlich noch gar keiner war, aber doch irgendwie so aussah. Rotgelb, fast lila.
Sie standen da und hatten Angst.
Unten stand ein anderer Mann am Telefon und war ähnlich erregt, wie der Mann oben. Er sprach wild gestikulierend in sein Telefon und schien die ganzen anderen, grün gekleideten Männer und Frauen um ihn herum gar nicht zu bemerken.
Der Mann hatte Sorgenfalten auf seinem Gesicht. Sie waren tief, die Falten. So tief, dass sie sein gesamtes Gesicht aussehen ließen wie eine Kraterlandschaft. Er machte sich Sorgen.
Um sie.
Um die Kinder.
Die Beine wurden schwer, wie sie so dort standen und nach unten blickten. Einer wollte einen Stuhl zum Hinsetzen, aber die Männer lachten nur.
Kein Stuhl, kein Hinsetzen. Sie mussten stehen und nach unten sehen. Nach unten, wo die vielen Menschen waren, wo wahrscheinlich auch ihre Eltern auf sie warteten, wo alles wieder in Ordnung sein würde.
Oder war denn etwas nicht in Ordnung? Warum standen sie hier, an diesem Fenster, so wie die Affen und sahen hinaus auf die Sonne, die nun schon fast untergegangen war?
Unten tat sich etwas. Sie sahen es, aber sie verstanden es nicht. Ein paar von den Männern da unten rannten plötzlich zum Eingang des Gebäudes und verschwanden darin. Sie beugten sich vor, schielten nach unten, um irgendetwas zu erkennen, aber die Männer waren weg. Einfach weg.
Plötzlich tat es einen Schlag und es wurde ohrenbetäubend laut im Raum. Die Männer schrieen und liefen wild durcheinander.
Maschinengewehre wurden laut und alles versank im Chaos.
Sie rührten sich nicht, bewegten sich keinen Millimeter, standen da, wie angewachsen und blickten hinaus.
Unten sahen alle mit besorgten Augen nach oben, keiner schien zu verstehen, was sich abspielte.
Aber das war ihnen egal. Sie warteten und hofften nur darauf, dass der Lärm und das Geschrei endlich aufhören würden und sie dann nach unten zu ihren Eltern gehen könnten.
Einer fing an zu weinen.
Alle weinten.
Der Große kniff angsterfüllt die Augen zusammen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Er wollte es nicht sehen, er wollte nichts davon wissen.
Er wollte heim.
Plötzlich war es still. Sehr still. Zu still für sie.
Das kleine Mädchen zitterte und drehte sich langsam um. Alles im Raum war zerstört. Überall lagen Trümmerteile von zerschossenen Möbelstücken herum, auf denen hier und da Männer lagen.
Männer, die über und über mit Blut beschmiert waren und sich nicht bewegten.
Der aufgewirbelte Staub hüllte alles in ein mehliges Weißgelb und bewirkte, dass sie den Mann mit der lauten Stimme erst sah, als er schon fast bei ihr war.
Er hatte Blut an den Händen und im Gesicht und kam wutentbrannt auf sie zu.
Er packte den großen Jungen am Haar und zerrte ihn ganz dicht an die Fensterscheibe. Der Junge heulte auf und winselte wie ein kleiner Hund.
Unten sah das Mädchen die Menschen die Augen aufreißen und sie wusste, dass etwas nicht in Ordnung war.
Der Mann presste den Jungen an die Scheibe und zog eine Pistole aus seinem Halfter.
„Seht ihr das?“, schrie er wie besessen. „Seht ihr jetzt, was ihr angerichtet habt? Dachtet, ihr könntet mich verarschen, ihr Flachwichser!“
Er schnaubte laut aus und sah den Jungen an. „Da hast du es. Niemand kann euch jetzt noch helfen.“
Er drückte die Pistole an den Kopf des Jungen.
„Wer nicht hören will, muss fühlen.“
Der Junge fiel wie ein nasser Sack zu Boden als die Kugel seinen Kopf durchschlug und blieb dort liegen, so als wolle er sich schlafen legen.
Das kleine Mädchen beobachtete, wie sich die Menge unten bewegte, sie wollten in das Gebäude, wollten helfen, doch die grünen Männer ließen sie nicht.
Der Mann mit der lauten Stimme ging zum nächsten in der Reihe.
Ein kleinerer Junge, der schon die ganze Zeit weinte und sich in die Hosen gemacht hatte. Er war so klein, dass der Mann ihn am Kragen hochheben konnte.
Die Pistole ging zum Kopf.
Ein kurzer Knall.
Alles vorbei.
Als nächstes kam das Mädchen neben dem kleinen Mädchen dran.
Sie blickte hinaus. Draußen schien alles in Ordnung zu sein, wenn man die vielen Menschen dort unten nicht beachtete. Der Abend kroch hervor, die Vögel flogen zu ihren Nestern, die Straßenlaternen gingen langsam an und die Sonne verschwand hinter dem Horizont.
Hinter dem Horizont, dachte das Mädchen. Hinter dem Horizont musste es schön sein, wenn die Sonne dort war.
Aber was war denn dort, hinter dem Horizont? Sah es dort genau so aus, wie hier? Gab es dort auch Häuser und Menschen und einen Himmel und Kinder und so viel Lärm?
Gab es dort auch Männer? Männer, die Kinder töteten und böse waren? Gab es die dort auch?
Sie würde ihre Oma fragen. Eines Tages würde sie sie fragen und ganz bestimmt eine Antwort bekommen. Ihre Oma hatte immer eine Antwort, ihre Oma wusste viel.
Ihr Blick fiel wieder auf den Horizont. Die Sonne war weg. Sie hatte sich hinter dem Horizont versteckt und sandte nur noch die letzten verzweifelten Strahlen dahinter hervor. Die Sonne ging. Die Sonne, die vorher noch so herrlich hell und heiß geschienen hatte, war nun einfach so weg. Keiner fragte wieso, keinen interessierte es, was sie tat.
Die Menschen sahen lieber hier hinauf, als zu der alten Sonne, die ja sowieso jeder kannte.
Das Mädchen hätte ihnen am liebsten zu geschrien, sie sollten hinsehen. Sie sollte sehen, was die Sonne tat.
Aber sie taten es nicht.
Nur sie, das kleine Mädchen, sie sah zur Sonne, die nicht mehr da war und hatte keine Angst.
Sie weinte nicht. Nicht mehr.
Der Mann hob sie hoch.
Sie spürte den kalten Lauf an ihrer Schläfe und schloss die Augen.
Morgen geht die Sonne wieder auf.
Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Sie freute sich schon darauf.