Morgendämmerung
23. 4.
„Wie die WHO heute an einer Pressekonferenz bekannt gab, sind in verschiedenen südafrikanischen Dörfern Fälle einer bis anhin unbekannten Krankheit aufgetreten. Bisher starben zweiundzwanzig Menschen, weitere dreissig sind erkrankt. Noch sind sowohl Ursache als auch Übertragungsweg unbekannt, Experten gehen allerdings aufgrund der raschen Ausbreitung von einer akuten Epidemie-Gefahr aus.“
25. 4.
„Kürzlich berichteten führende Seuchenspezialisten über die ersten Untersuchungen zur neuen, in Südafrika aufgetretenen Krankheit. Vermutlich handelt es sich dabei um einen hoch infektiösen Virus, allerdings müssen weitere Abklärungen abgewartet werden.
Derweil berichten nun auch in den USA Spitäler von einer neuen Krankheit, der im Bundesstaat Florida zwei Kinder zum Opfer gefallen sind. Wie bei den Fällen in Südafrika wurden die Buben mit hohem Fieber, schmerzhaften Entzündungen im Gesicht und im Mund sowie Atembeschwerden eingeliefert, die WHO vermutet jedoch keinen Zusammenhang zu den Fällen in Südafrika.“
30. 4.
„Ich begrüsse jetzt im Studio Jan Rothen, er ist Seuchenexperte der Universität Zürich und steht im Kontakt zur Untersuchungsbehörde in Südafrika. Heute Nachmittag hörte man, dass das Virus identifiziert sei. Können Sie das bestätigen?“
„Nun, ob das gefundene Virus wirklich der Verursacher der Krankheit ist, kann noch nicht definitiv gesagt werden, allerdings handelt es sich beim gefundenen Erreger aller Wahrscheinlichkeit nach um einen bislang unbekannten und potentiell hochgefährlichen Virustyp. Vermutlich befällt das Virus ähnlich wie HI-Viren in einem ersten Stadium weisse Blutkörperchen und schaltet somit die Immunabwehr des Körpers aus.“
„Weiss man Genaueres zu den Übertragungswegen?“
„Momentan ist nichts auszuschliessen, dazu braucht es ausführlichere Analysen. Ich gehe aber davon aus, dass der Erreger hochgradig ansteckend ist. In den südafrikanischen Dörfern, wo die Seuche zum ersten Mal aufgetreten ist, sind nahezu hundert Prozent der Bevölkerung erkrankt.“
„Auch aus anderen Ländern sind Meldungen über mögliche Erkrankungen eingetroffen. Die WHO warnt bereits vor einer Pandemie. Wie schätzen Sie die Situation ein.“
„Als gefährlich, aber noch unter Kontrolle. Die Quarantänebestimmungen müssen jedoch unbedingt schnell in Kraft treten und eingehalten werden, um eine weitere Verbreitung der Viren zu verhindern. Handelt die WHO nicht sofort, ist es möglicherweise bald zu spät. Besonders erstaunlich ist, wie schnell sich das Virus in den letzten Tagen verbreitet hat.“
„Gibt es denn wirksame Gegenmittel?“
„Bis jetzt konnte kein Erkrankter geheilt werden. Von daher muss ich die Antwort mit ‚Nein’ beantworten.“
„Und Impfstoffe? Werden solche entwickelt?“
„Zur Zeit weiss man schlicht und einfach zu wenig über den Erreger. Sollte es ausserdem tatsächlich so sein, dass das Virus das Immunsystem angreift, kann gar kein wirksamer Impfstoff eingesetzt werden.“
3. 5.
„Das Virus hat einen Namen: AIV-1 – African Immunodeficiency Virus 1, so soll der mutmassliche 'Vernichter der Menschheit' heissen. Und während sich die Experten um eine Bezeichnung stritten, breitete sich AIV-1 weiter aus. Nun wurden auch erste Fälle in Europa gemeldet: Die komplette fünfköpfige Familie eines südafrikanischen Diplomaten musste gestern in ein Londoner Spital eingeliefert werden. Die Ärzte bezeichnen den Zustand der Patienten als kritisch.
Zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem Tod vergehen in der Regel nur wenig mehr als zwei Tage.“
3.5.
„Jan Rothen, wie realistisch ist es, dass der Vorschlag einer kompletten Einstellung der Reisebewegungen zum verhindern einer weiteren Verbreitung des Virus umgesetzt wird?“
„Nun, zu diesem Zeitpunkt ist das eigentlich undenkbar. Vor allem ist auch noch nicht sicher, ob das Virus damit überhaupt besiegt werden könnte, denn man weiss zwar, dass zwischen dem Auftreten erster Symptome und dem Tod maximal drei Tage vergehen, man hat aber keine Ahnung, wie viel Zeit zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Krankheit vergeht.“
„Es wäre also denkbar, dass wir alle längst infiziert sind?“
„Theoretisch ja.“
„Und was würde das bedeuten?“
Schulterzucken.
11. 5.
„Immer mehr Länder stürzen in politische Krisen, weil ihre Staatsoberhäupter an AIV-1 erkrankt sind. Die USA haben den Notstand ausgerufen, ebenfalls Frankreich, Russland, Indien sowie fast alle afrikanischen und südamerikanischen Staaten. Auch in der Schweiz wird von zahlreichen Opfern gesprochen. In Zürich und Basel sind die Spitäler überfüllt, in Bern und anderen Städten muss seit vergangenem Dienstag der Zivilschutz die Krankenhäuser unterstützen. Zugleich breitet sich landesweit Panik aus: Die Strassen sind leer, in kaum einer Firma wird noch gearbeitet, der öffentliche Verkehr ist praktisch zum Erliegen gekommen.“
12. 5.
„Wir hätten heute gerne wieder unseren Seuchenexperten Jan Rothen im Studio begrüsst, aber er musste leider absagen. Auch er ist unterdessen erkrankt wie einigen Schätzungen zufolge bereits dreissig Prozent der Schweizer Bevölkerung. Aus dem Ausland treffen nur noch vereinzelte Nachrichten ein: Teile Afrikas sollen fast vollkommen ausgerottet sein, der Präsident der Vereinigten Staaten starb gestern Abend und selbst die WHO erklärte, dass sie den Umständen nicht mehr gewachsen sei.“
15. 5.
„An Stelle der gewohnten Moderatorin Monika Meier werde ich Sie heute durch die Nachrichten führen. An diesem Morgen starb Monika Meiers Tochter, wenig später erlag sie selber dem AI-Virus.
Die Pandemie hat indessen sämtliche Länder der Erde erreicht: Gestern meldete auch der Inselstaat Vanuatu im Südpazifik die ersten Krankheitsfälle. In Europa breitet sich derweil Weltuntergangsstimmung aus. Der öffentliche Dienst hat die Situation nicht mehr im Griff und die Spitäler müssen wegen den vielen Krankheitsfällen im eigenen Personal die Tore schliessen. Zahlreiche Politiker sind verstorben oder schwer krank. An ein Überleben der Krise glaubt kaum einer mehr. Die Kirchen sind überfüllt, es wird von zahlreichen Selbstmorden berichtet, aber auch von Eheschliessungen. In Erwartung des baldigen Tods verbringen viele Leute ihre letzten Tage auf abenteuerlichen Touren in den Bergen oder aber sie stopfen ihre Mägen mit Unmengen an Essen voll, schauen sich in Kinos Filme ohne Unterbruch an und schlafen mit wildfremden Leuten. Andere wiederum treten Sekten bei oder begeben sich in die Obhut angeblicher Wunderheiler, die sich dann auch als einzige über die Seuche freuen: Endlich haben sie einmal Recht behalten mit ihren Weltuntergangsprognosen. Unterdessen kümmern sich Historiker und Wissenschaftler vor allem darum, wie die Nachwelt unsere Epoche in Erinnerung behalten soll. Zeugnisse der Menschheitsgeschichte werden in Luftschutzbunkern gelagert in der Hoffnung, dass in ferner Zukunft andere Völker vom Schicksal der Menschen erfahren.
Auch das Schweizer Fernsehen reagiert auf die Krise: Der zweite Kanal wird nicht mehr weiterbetrieben und das Angebot an Informationssendungen eingeschränkt. Stattdessen zeigen wir nun Tag und Nacht die besten Spielfilme und TV-Serien, die in den letzten hundert Jahren entstanden sind. Allerdings bleiben wir auf Sendung und werden Sie weiterhin Tag für Tag um halb Acht über die aktuellsten Entwicklungen sowie die Fortschritte bei der Seuchenbekämpfung informieren.
15. 6.
Rauschen.
15. 6.
Als morgens um sechs Patricks Wecker klingelte, hatte dieser noch keine Minute geschlafen. Die ganze Nacht über war er nur dagesessen, hatte den Fernseher angestarrt und gehofft, dass endlich ein Gesicht an Stelle des Rauschens treten würde. Aber die Hoffnung war vergebens und der Schneesturm auf dem Bildschirm tobte unablässig weiter – nun schon seit drei Wochen.
„Hey, Pa“, gähnte die kleine Laura. „Gut geschlafen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du?“
„Es geht.“
Das Mädchen war schon immer ein unbekümmerter Mensch gewesen und so hatte sie die letzten Wochen leichter hingenommen als ihr Vater. Der aber wollte sich nicht anmerken lassen, dass er weiterhin kaum Schlaf fand. Er stand auf, stellte den Fernseher ab und folgte Laura in die Küche.
„Willst du Kaffee?“, fragte sie.
„Ja, gerne.“
Früher hatte Patrick am Morgen jeweils Zeitung gelesen und Laura währenddem ihre letzten Mathehausaufgaben gelöst. Jetzt gab es weder Zeitungen noch Hausaufgaben, mit denen sie sich hätten beschäftigen können, also sprachen die beiden stattdessen miteinander.
„War was im Fernsehen?“, fragte Laura.
„Nein. Kein Sender, nicht mal dieser türkische.“ Den hatten sie als letztes noch empfangen, seit vier Tagen aber waren auch die türkischen Moderatoren verstummt. „Vielleicht liegt es nur an der Übertragung. Irgendein Satellit ist ausgefallen oder so.“
„Kann sein.“
Laura stellte ihrem Vater die Kaffeetasse auf den Tisch. Selber trank sie auch welchen. Nach dem Ausbruch der Seuche, als alle gedacht hatten, niemand würde überleben, da hatte Patrick seinen beiden Kindern so einiges erlaubt: Kaffee trinken, Haare färben, tätowieren, Alkohol saufen, sogar Rauchen. Mit dem Rauchen hatte Laura nach der dritten Zigarette wieder aufgehört und Alkohol trank sie seit ihrem ersten Rausch mit folgendem Kater nur noch in gesitteten Mengen, dem Kaffee aber war die Vierzehnjährige voll und ganz verfallen. Sie fühlte sich so erwachsen, wenn sie Kaffee schlürfte.
„Ich hab gestern Abend einige Äpfel aus dem Keller geholt“, berichtete Patrick. „Du kannst heute einen essen, okay?“
„Mhm, ist gut. Und was gibt’s als Frühstück?“
„Die Dose Mais, wenn du nichts dagegen hast.“
Patrick nahm sie aus der Schublade und zeigte sie seiner Tochter: „Du magst Mais doch, oder?“
Laura zuckte mit den Schultern. „Im Prinzip schon, nur nicht unbedingt am Morgen. Lass Reto ruhig was vor.“ Der würde bestimmt noch lange schlafen, wie immer in den letzten Tagen. Gestern hatte man bis nach dem Mittagessen nichts von ihm gehört. Manchmal vermutete er deshalb, dass Patrick und Laura ihn um seine Rationen betrogen – womit er durchaus Recht hatte. Heute aber blieb ein schöner Teil des Morgenessens in der Dose für ihn zurück.
Vor zwei Wochen, als Patrick erstmals der Gedanke gekommen war, sie könnten die Seuche überleben, hatte er die Nahrungsvorräte rationiert und dafür gesorgt, dass im Garten das Gemüse gedieh und der Apfelbaum vor Hagel geschützt war. Er schätzte die Kleinfamilie könne mit etwas Glück und eisenharter Rationierung ein Jahr überstehen – und weiter in die Zukunft wollte er vorerst nicht schauen.
„Was willst du heute machen?“, fragte Laura ihren Vater, als sie den letzten Mais hinuntergeschluckt hatte.
„Na ja, vor allem will ich zum Dorfbach die Wasservorräte auffrischen. Mir hängt das Regenwasser ziemlich zum Hals raus.“
„Mir auch.“ Es hatte einen so merkwürdigen, unangenehmen Beigeschmack. Ausserdem waren jetzt schon vier oder fünf Tage seit dem letzten Gewitter vergangen und die Flaschen zum Grossteil leer. „Vielleicht komm ich auch mit. Ich will mich mal wieder richtig waschen.“
„Kommt nicht in Frage!“, sagte Patrick augenblicklich.
„Und weshalb? Wenn du jemanden triffst und dich ansteckst, sind wir sowieso auch bald krank.“
„Trotzdem, ich will kein Risiko eingehen. Wir haben zu lange überlebt, als dass wir jetzt unser Leben leichtfertig aufs Spiel setzen sollten.“
Solche Diskussionen gehörten seit einiger Zeit zum Alltag. Laura nervte das ewige Rumsitzen zuhause, sie musste ihre Beine bewegen, wollte wieder mountainbiken oder klettern gehen. Aber Patrick untersagte ihr beständig, das Haus oder den Garten zu verlassen. Man wusste schliesslich nicht, wie das Virus übertragen wurde und deshalb war Vorsicht die einzige Verteidigung. Selber wagte Patrick sich ab und zu zum Dorfbach oder in den Wald, wo er Pilze sammelte. Mit den anderen Überlebenden in Hochwil kommunizierte er jedoch nur über Anschreien.
Freilich waren sie alle bei Ausbruch der Krankheit weniger vorsichtig gewesen, da hatte noch das ganze Dorf zusammen Partys gefeiert, vor allem die Jugendlichen, die nicht Sterben wollten ohne einige wichtige Erfahrungen gemacht zu haben. Laura erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an jene Tage. Sie hatte gelacht, geweint, geküsst, getrunken und das ohne Unterbruch, Tag und Nacht. Es war, als hätte sie ein ganzes Leben in einer Woche führen wollen. Für Schlafen blieb keine Zeit, sie war nur mit der Dorfjugend umhergezogen in einer Art ständigem Rausch. Dann, irgendwann, war sie zuhause mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht, überzeugt davon, sie würde nun sterben. Aber es war kein Virus gewesen, sondern der Alkohol und sie hatte sich erholt.
Partys wurden seit jenem Morgen keine mehr gefeiert. Zwar war bis heute kein einziger Hochwiler erkrankt, aber dennoch herrschte im ganzen Dorf eine Stimmung des Misstrauens. Niemand kam sich zu nahe. Jeder schien den Glauben an ein Überleben wiedergefunden zu haben und dieses Glück nicht unnötig aufs Spiel setzen zu wollen. Darin waren sich alle einig. Gestritten wurde darüber, wie lange die Quarantäne eingehalten werden müsse und wann man sicher sein könne, dass niemand infiziert war. Seit dem Ausbruch der Seuche waren keine Touristen mehr nach Hochwil gekommen, aber viele Einheimische hatten noch vor wenigen Wochen erkrankte Verwandten besucht. Patrick war deshalb der Meinung, man müsse die Quarantäne mindestens bis Ende September fortsetzen, aber das war Laura zu lange. Es zog sie hinaus. Wenn sie Abends den Sonnenuntergang beobachtete, spürte sie eine tiefe Sehnsucht danach, ihr Zuhause endlich hinter sich zu lassen.
„Wovon träumst du?“, fragte Pascal das Mädchen, das mit leerem Blick aus dem Küchenfenster starrte, hin zu den Bergen, den weiten Alpentälern und schneebedeckten Gipfeln.
21. 6.
Kurz nach Mittag warf der Gemeindeammann einen Stein an Retos Fenster. Der wachte auf, sah aus dem Zimmer und konnte so beobachten, wie der Ammann ein Couvert in den Briefkasten legte. Danach wurde am Familientisch lange darüber diskutiert, ob man es wagen könne, den Brief eines Fremden zu berühren. Erst nach einigem hin und her liess sich Patrick von den beiden Kindern dazu überreden, ihn doch wenigstens mit Handschuhen und der Gasmaske aus seiner Militärzeit anzufassen.
Der Inhalt des Briefs aber sorgte noch für weit mehr Aufregung: Es handelte sich um die Einladung zu einer Gemeindeversammlung am Abend. Man sei zum Schluss gekommen, dass die Dorfbevölkerung von Hochwil entweder immun gegen AIV-1 sei oder aber sich niemand infiziert habe. Jetzt müsse man in die Zukunft blicken und zum Beispiel darüber sprechen, wie man die Nahrungs- und Energieversorgung regeln wolle.
„Kommt nicht in Frage!“, knurrte Patrick mit verschränkten Armen. „Wenn nur einer im Gemeindesaal das Virus hat, sind wir bald alle tot. Ausserdem haben wir genug Nahrung für das nächste Jahr.“
„Und was ist mit dem Strom?“, wandte Reto ein.
„Für etwas haben wir Solarzellen.“
„Die nützen im Winter aber nicht viel.“
„Dann machen wir ein Feuer im Kamin. Vor hundert Jahren überlebten die Leute auch noch ohne Elektrizität, also werden wir das doch wohl schaffen können, nicht?“
Die beiden Jugendlichen warfen sich skeptische Blicke zu. „Pa, alle gehen an diese Versammlung, jeder einzelne Hochwiler!“
„Na und?“
„Wir wollen auch mal wieder raus und sehen, wie es unseren Kollegen geht“, sagte Laura. „Wir werden schon nicht krank. Es sind jetzt zwei Monate vergangen, ohne dass jemand in Hochwil erkrankt ist!“
„Das ist nur eine Frage der Zeit: Thomas zum Beispiel, der war in der Woche nachdem das Schweizer Fernsehen aufgab in Wengen und hat seine Freundin besucht. Die war auch krank! Ich garantiere dir, Thomas trägt das Virus mit sich herum.“
„Und wir auch, immerhin war er nachher bei uns zu Besuch, als es mir wegen dem Alkohol so schlecht ging“, wandte Laura ein, aber ihr Vater winkte ab: „Er stand in der Türe und hat dir gute Besserung gewünscht, mehr nicht.“
Das Mädchen seufzte. Es war hoffnungslos, ihren Vater überreden zu wollen.
„Hört mir zu, Kinder, ich weiss, dass es für euch schwer ist so alleine aufzuwachsen. Auch weil Mutter nicht hier ist. Aber wir können das schaffen! Wir haben genug Vorräte, wir haben Solarzellen auf dem Dach und Gemüse im Garten. Halten wir noch ein paar Wochen so durch, dann können wir schauen, wie’s weitergeht. Okay?“
Am Abend desselben Tages stellte Laura einen Stuhl vor ihr Zimmerfenster und sah zur Strasse. Normalerweise las sie den ganzen Tag oder malte Bilder. Laura malte gerne, am liebsten kitschige Sonnenuntergänge. Aber heute wollte sie nur die Strasse sehen und beobachten, wie die Hochwiler zum Gemeindesaal wanderten. Es waren nicht viele, die das Wagnis auf sich nahmen, und manch eine Haustüre blieb verschlossen. Trotzdem bildeten sich bald kleine Grüppchen und Laura konnte sehen, wie ganz in der Nähe Familien beieinander standen und diskutierten. Auch ein paar ihrer Freundinnen waren unterwegs. Janine winkte sogar in Richtung von Lauras Zimmer, bevor sie ihrer Schulkameradin Tanja um den Hals fiel und irgendwas zu erzählen begann.
Mit der Zeit wurden die Wanderer auf der Strasse seltener. Lediglich ein paar einsame Nachzügler, vor allem Bauern aus den entlegeneren Häusern, eilten von Zeit zu Zeit noch in Richtung Dorfzentrum. Laura wollte sich gerade wieder ihren Gemälden zuwenden, als sie doch noch ein vertrautes Gesicht sah.
„Hey, Simi!“, rief sie vor Aufregung und vergass dabei, dass das Fenster geschlossen war. Das änderte sie rasch und rief erneut, worauf der Junge stehen blieb und ihr zuwinkte: „Hallo, Laura. Kommst du nicht?“
Das Mädchen musste erst Luft holen, bevor sie antworten konnte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Simi so was wie ihre erste Liebe war. Mit ihm hatte sie vor einem Monat die allerersten intimen Erfahrungen gemacht. Es war beim Küssen geblieben, glaubte Laura wenigstens, aber wenn sie mit einem der vielen Jungs, die sie in jenen Tagen geküsst hatte, weiter hätte gehen wollen, dann mit Simi. Anders als die meisten Gleichaltrigen aus der Region war er kein Bauernjunge mit eingeschränktem Horizont, sondern er interessierte sich für die Geschehnisse in der Welt. Klug war er auch, nicht ganz so klug wie Laura es war, aber doch zumindest alles andere als dumm.
Endlich reichte die Luft in ihren Lungen, um zu rufen: „Mein Vater will nicht, dass wir zur Versammlung gehen.“
„Meine Eltern auch nicht“, entgegnete Simi lächelnd. „Schleich dich einfach raus, na komm schon!“
Laura zögerte. Nur zu gerne wäre sie an die Versammlung, ganz besonders natürlich zusammen mit Simi. Sie hatte nicht viele Erinnerungen an seine Küsse, der Alkohol überdeckte so manches, aber angenehm war es gewesen, das bestimmt. Und wieder einmal mit ihm zu sprechen wäre auch eine wunderschöne Abwechslung zum alltäglichen Einerlei.
„Also gut, ich komme gleich.“
„Ich warte.“
Laura schloss das Fenster und die Vorhänge. Sie wollte nicht viel Zeit verlieren, also zog sie sich nur einen Pullover über und steckte die Füsse in Sandalen. Schön machen konnte sie sich ein andermal, heute musste Simi mit ihren struppigen Haaren und dem ungewaschenen Gesicht vorliebnehmen.
So leise wie sie konnte schlich das Mädchen am Zimmer ihres Bruders vorbei. Der würde bestimmt auch gerne mit zur Versammlung kommen, aber Laura hatte nicht besondere Lust auf seine Begleitung. Viel lieber wollte sie alleine mit Simon zusammen sein.
Als Laura die Treppe hinunter stieg, hielt sie den Atem an. Zwar wusste sie nicht mit Sicherheit, dass Vater in der Stube sass, aber wahrscheinlich war es. Fast jede Nacht verbrachte er vor der Flimmerkiste und starrte das ewige Rauschen an. Also blieb Laura nur ein Fluchtweg aus dem Haus: Der durchs Küchenfenster.
Leise huschte sie an der Stubentüre vorbei in die Küche und machte das Fenster auf. Ein Blumentopf stand ihr im Weg, sie musste ihn verschieben. Dafür sah sie Simi, der grinsend verfolgte, wie Laura aufs Fenstersims kletterte, ihm zulächelte, Luft holte, hinausspringen wollte – wollte. Es blieb beim Wollen, denn im dümmsten Moment kam Patrick in die Küche geschritten. Laura kreischte vor Schreck und das wiederum liess ihren Vater zusammenzucken. Er schnellte vor, packte sie am Arm und zerrte sie zurück ins Haus.
„Was sollte das werden?“
„Ich – ich – ich ...“, stammelte Laura hilflos. Eine Hand traf ihre Wange und die schwoll rasch an. Tränen sammelten sich in den Augen des Mädchens, während Patrick sie anschrie: „Du wolltest an die Gemeindeversammlung, hab ich Recht?“
„Nein, ich habe nur ...“ Ihr fiel nichts ein. Schliesslich gestand sie verzagend: „Ja, Pa. Simi geht auch hin und Janine und ...“
„Willst du mich anstecken? Deinen Bruder? Willst du, dass wir wegen dir sterben?“
„Nein, aber ...“ Sie riss sich los von Vater und trat einen Schritt zurück: „Ich wollte bei den anderen sein. Ich halte das nicht ewig aus in diesem dämlichen Haus.“
„Es wird nicht ewig so sein. Sobald wir sicher sein können, dass niemand das Virus hat, ist es vorbei.“
„Du hast doch nur Angst! Du bist ein Angsthase!“, kreischte das Mädchen, was ihr einen weiteren Schlag ins Gesicht einbrachte. Darauf verstummte sie, weinte nicht mal. Es wurde langsam dunkel draussen, nur noch trübes Licht erhellte das Kücheninnere.
„Tut mir Leid“, murmelte Patrick. „Ich wollte dich nicht schlagen, aber ...“
„Du wusstest nicht was sagen, also hast du mich geschlagen. So ist es doch, nicht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Hey, mein Liebes, ich versuche doch nur, mich um euch zu kümmern. Das ist nicht immer einfach.“
Laura schniefte missmutig.
„Verzeihst du mir?“
„Wenn du mich zur Versammlung gehen lässt.“
Patrick schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht zulassen. Es geht nicht nur um mich, es geht auch darum, dass wir eine gewisse Verantwortung haben, verstehst du? Wer weiss, vielleicht sind wir in Hochwil die einzigen Überlebenden der Seuche. Wir dürfen unser Leben nicht sinnlos aufs Spiel setzen, das schulden wir der Menschheit.“
Trotzig erwiderte Laura den Blick ihres Vaters. Die eine Träne, die über ihre Backe rann, wischte sie mit einer flinken Handbewegung weg. „Du bist ein Feigling, der sich einredet, ein Held zu sein“, stellte sie nüchtern fest. Patrick seufzte. „Rauf ins Zimmer mit dir und dort bleibst du eine Weile, klar?“
22. 6.
Die Wogen glätteten sich schnell wieder. Für Aufregung sorgte einzig die Tatsache, dass Patrick am nächsten Morgen den Brief über die an der Gemeindeversammlung getroffenen Beschlüsse ungelesen zerriss und verbrannte. Am Abend schloss er dafür Lauras Zimmer auf und schenkte ihr zur Entschuldigung eine Tafel Schokolade. Reto durfte sie allerdings nichts weiter sagen, damit der nicht neidisch wurde.
23. 6.
Am folgenden Morgen lag Laura im Badeanzug an der Sonne im Garten und las ‚Die rote Zora’. Immer wenn sie sich rebellisch fühlte, las sie ‚Die rote Zora’ und dachte sich dabei aus, wie sie es dem Alten heimzahlen wollte, was für Gemeinheiten sie anstellen konnte. Zoras Mut aber suchte sie in sich vergeblich.
Gerade war Laura wieder in Träumereien versunken, als sie eine Hand auf dem Rücken spürte und auffuhr.
„Simi?“, stiess sie erschrocken aus, als sie das zur Hand gehörende Gesicht erkannte. Der Junge kauerte grinsend neben ihr. Er hatte sie berührt! Vielleicht wurde sie jetzt krank, vielleicht ... – Er hatte sie berührt. Und es war ein angenehmes Gefühl.
„Hab ich dich erschreckt?“
Laura fand keine Worte, also nickte sie einfach.
„Tut mir Leid. Auch, dass ich vorgestern den ganzen Stress mit deinem Vater verursachte.“
„Ist – ist schon gut“, stotterte Laura. „Du ... Was machst du hier?“
„Ich wollte dich besuchen und, na ja, deinen Vater sah ich vorhin auf dem Weg zum Bach, er wird uns also eine Weile in Ruhe lassen.“
Laura nickte und sie richtete sich etwas auf. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie schrecklich fettig ihr Haar war und dass sie sich das Gesicht noch immer nicht hatte waschen können. Vater verbot ihr ja ständig, ihn zum Dorfbach zu begleiten, und auf Regen wartete man in Hochwil nun auch schon seit längerem vergebens.
„Aber weshalb wolltest du mich besuchen?“, fragte das Mädchen.
„Vor allem wollte ich dich mal wieder sehen. Aus der Nähe, du weisst schon.“ Laura errötete leicht und ihr fiel auf, dass es Simi gleich ging. Schnell fügte er an: „Ausserdem findet heute Abend bei Janine eine Party statt. Sie lädt die ganze Dorfjugend ein und ihr Vater spendiert ein paar Flaschen aus dem Weinkeller. Es wird bestimmt lustig. Du kannst Reto natürlich auch sagen, er solle kommen.“
„Äh – okay.“ Die Vorstellung, endlich all die Kolleginnen und Kollegen wiederzusehen, gefiel Laura. Andererseits wusste sie natürlich, dass sie hierzu wieder Vater entkommen musste.
„Was deinen Vater anbelangt“, begann Simi, der die Gedanken des Mädchens zu durchschauen schien, „ich kann so um zehn, wenn es dunkel ist, mit einer Leiter vorbeikommen und sie vor dein Zimmer stellen. Was hältst du davon?“
Unvermittelt strahlte Laura. „Okay!“, freute sie sich. „Okay, das wäre wirklich toll!“
Als Simi das Strahlen in Lauras Gesicht sah, begann auch er zu lächeln. Ein Blick auf die Armbanduhr liess es allerdings schnell wieder verschwinden. „Ich sollte gehen, dein Vater kommt sicher bald zurück.“
Das Mädchen nickte.
„Bis heute Abend und – und übrigens, du siehst bezaubernd aus!“, fügte er noch an und küsste hastig Lauras Stirn. Die wusste gar nicht, wie ihr geschah, nur, dass sie glücklich war.
„Am Bach hab ich den Ammann gesehen“, erzählte Patrick beim Abendessen. „Fast hätte er mir die Hand geschüttelt, dieser leichtfertige Glatzkopfaffe! Ich habe ihn ja zum Glück nicht gewählt.“
Patrick schaufelte sich einen Löffel Birchermüsli in den Mund. Im Dorfzentrum hatten einige Bauern heute früh Milch verteilt und da war es Patrick gelungen, eine Nachbarjungen als Krugträger zu engagieren.
„Hat er was gesagt?“, wollte Reto von seinem Vater erfahren.
„Ich habe was gesagt, nämlich, dass ich ihn für einen törichten Tölpel halte. Und dass ich ihn dafür verantwortlich machen werde, sollte eines meiner Kinder sterben. Der Tod hat uns vergessen und jetzt sollten wir nicht versuchen, mit Leichtfertigkeit seine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken! Das hab ich ihm gesagt.“
„Und danach hat er wahrscheinlich nichts mehr gesagt, hm?“, meinte Laura mit provokativem Unterton.
„Nein.“
„Nein.“ Die Geschwister grinsten sich an. Ihr Vater war ja schon immer etwas merkwürdig gewesen, aber seit Lauras Fluchtversuch glitzerte der Wahnsinn geradezu in seinen Augen.
An diesem Abend malte Laura keinen Sonnenuntergang, sondern ein Jungengesicht. Simis Gesicht. Sie war nicht besonders geübt im Zeichnen von Gesichtern, aber es war ihr doch ganz gut gelungen, fand sie. Simon sah auf Papier fast noch besser aus als in Wirklichkeit.
Das Blatt faltete sie zusammen und steckte es in die Hosentasche. Sie wollte es bei sich haben, wofür auch immer. Dann nahm Laura die Wasserflasche mit ihrer heutigen Ration und ging damit ins Bad. Zu Trinken gab es an der Party bestimmt genug und jetzt musste sie sich erst mal schön machen, wenn sie sich bei Janine nicht wie eine Schmeissfliege unter Schmetterlingen vorkommen wollte. Die anderen Mädchen aus Hochwil durften ja baden gehen, die hatten keinen so sturen Vater wie sie.
Der Liter Wasser reichte nur für eine oberflächliche Säuberungsaktion, aber etwas wohler in ihrer Haut fühlte sich Laura, als sie wenig später vor ihrem Fenster kauerte und in die Nacht hinaus starrte. Die ersten Sterne strahlten am Himmel, während der Schnee auf den Bergen im Westen noch rötlich glänzte. Es war fast zehn Uhr.
Wer wohl sonst noch an der Party sein würde? Nicht alle mochte Laura wiedersehen, sie hatte ein paar peinliche Dinge getan und gesagt in jenen Wochen, als das Ende festzustehen schien. Alkohol vermischt mit Todesangst konnte so einiges mit dem Gehirn eines vierzehnjährigen Mädchens anstellen, obwohl – Angst hatte sie nie wirklich gehabt. Es war ihr so unwirklich vorgekommen. Die Sonne schien doch die ganze Zeit über, die Vögel zwitscherten, der Bach strömte ins Tal. Nichts hatte sie je spüren lassen, dass ihr nur noch ein paar Tage zu leben blieben.
Die Kirchglocke schlug. Zehnmal. Und fast im selben Moment konnte Laura ein Glänzen im Garten ausmachen. Es waren Simis Augen. Er stellte die Leiter vorsichtig an die Hauswand, während Laura aufsprang und das Fenster öffnete.
„Alles in Ordnung?“, fragte er leise.
„Ja, klar.“ Sie kletterte an die frische Luft und stieg die Leiter hinunter. Auf dem Gras des Gartens angelangt strahlte sie Simon an. „Danke!“
„Gern geschehen. – Hast du Reto auch gefragt?“
„Äh, ja. Aber er hat keine Lust“, log Laura.
„Schade. Ich verstecke die Leiter im Gebüsch bis wir zurück kommen, damit du morgen früh auch wieder in dein Zimmer kommst, okay?“
Laura nickte und half ihm. Zur Tarnung legten sie ein paar Äste über das Aluminium, dann verliessen sie den Garten. Auf der Strasse angekommen, versuchte Laura sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt die Grenze ihres Grundstücks verlassen hatte. Sie wusste es nicht mehr und bald war ihr die Überlegung auch so ziemlich egal. Sie spürte Simis Hand. Er suchte die ihrige und Laura liess es geschehen. Hand in Hand wanderten sie durch die Nacht. Schweigend, weil sie den Moment zu sehr genossen um ihn mit Worten zu zerstören, aber ihre Herzen pochten.
Janine wohnte ganz in der Nähe und so konnte man bald den Partylärm durch die Strasse hallen hören. Laura bremste ihren Gang etwas ab um so die Zeit zusammen mit Simi zu verlängern, als sie aber vor Janines Garten ankamen, vergass sie für einen Augenblick ihren Begleiter und freute sich einfach nur darauf, die Gesichter all ihrer alten Freundinnen wieder zu sehen. Durchs Gartentor rannte sie auf Janine zu, die mit Tim am Grill stand und diskutierte. Erst erschrak die Blondine, als ihr Laura von hinten um den Hals fiel, aber bald lachten beide.
„Hey, schön dass du gekommen bist! Willst du auch einen Cervelat? Tim, unser Grillmeister, hat welche mitgebracht.“
Der Junge streckte Laura eine Wurst mit Brot und Serviette entgegen.
„Danke vielmals!“, freute sich das Mädchen. Sie wusste, dass sie strahlte wie ein kleiner Bub beim Anblick einer Modelleisenbahn, aber genauso fühlte sie sich auch. Zum ersten Mal seit Monaten ahnte sie wieder, was zu leben bedeutete.
24. 6.
„Und, hat’s dir gefallen?“, fragte Simi einige Stunden später, als die beiden im ersten Morgengrau heimwärts schlenderten. Laura nickte. Getrunken hatte sie vielleicht etwas viel und übel war ihr dank den vielen Cervelats auch. Trotzdem war es eine wunderschöne Nacht gewesen. Gelacht hatte sie mit ihren Freundinnen, am Küchentisch um Kekse gepokert, sogar getanzt zu David-Hasselhoff-Musik. Aber die schönsten Momente waren doch jene, die sie gemeinsam mit ihrem neuen Freund verbracht hatte. Ziemlich viel geknutscht hatten die beiden. Anfangs noch versteckt hinter den Büschen, später weniger gehemmt wann immer sie Lust dazu hatten.
„Meinst du, wir können uns bald wieder einmal sehen?“, fragte Laura. Sie blieb stehen, um das Gesicht des Jungen anschauen zu können. Er zögerte. „Du magst mich doch auch, oder?“, hakte sie nach. „Ich glaub nämlich, dass ich mich in dich verliebt habe.“
„Mhm“, machte er und küsste Lauras Stirn. Ein Lächeln streifte durch die Züge des Mädchens, ihr war ganz warm, sie wollte den Jungen umarmen. Simi aber hielt sie davon ab: „Komm, du musst nach Hause bevor der Morgen anbricht.“
Als der Wecker um sechs Uhr in der Früh klingelte, seufzte Patrick. Ein paar Minuten eingenickt war er in dieser Nacht, aber verpasst hatte er wohl kaum etwas. Noch immer zeigte der Fernseher nichts als Rauschen.
Vielleicht war die Hoffnung, endlich wieder einmal ein anderes Bild zu sehen, einfältig und es wäre besser, wenn er heute Abend im Schlafzimmer übernachten und versuchen würde, sich etwas zu erholen. Er hatte Kopfschmerzen, ohne Unterbruch, und er wusste auch, dass er in letzter Zeit oft aufbrausend war, manchmal sogar unfair seinen Kindern gegenüber.
„Hey, Pa“, gähnte ihn da die kleine Laura an. Sie wirkte müder als gewöhnlich „Gut geschlafen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du?“
„Ja, hab ich.“
Patrick musterte seine Tochter. Da war ein eigentümliches Strahlen in ihrem Gesicht, ein Leuchten, dass er noch nie gesehen hatte.
„Hast du geträumt?“, wollte er wissen, als er dem Mädchen in die Küche gefolgt war und darauf wartete, dass sie ihm seinen Kaffee hinstellte.
„Ja.“
„Und wovon?“
Mit einer Schüchternheit, die Patrick in der Art gar nicht von seiner Tochter kannte, zuckte sie mit den Schultern und erklärte: „Geheimsache.“
„Geheimsache?“
„Mhm.“ Laura vergass die Milch für Patricks Kaffee, während sie für sich gleich vier Stück Zucker ins Gebräu warf.
„Verstehe“, knurrte Patrick daraufhin. „Du bist mir also noch böse, weil ich dich geschlagen habe.“
Das Mädchen gähnte wieder. „Wieso meinst du?“
„Wegen der Milch.“
„Ah, oh, sorry. Die hab ich ganz vergessen.”
Sie sprang auf und reichte die Milch ihrem Vater. Als sie wieder an ihrem Platz sass, rührte sie gedankenverloren in ihrem Kaffee herum. Lauras Kleider rochen nach Rauch, fiel Patrick auf.
„Du hast gequalmt, hm?“
Sie schüttelte den Kopf, worauf Patrick das Mädchen eine ganze Weile lang beobachtete. An ihren Kaffee schien sie wenig Interesse zu haben, sie schaute nur aus dem Fenster, gähnte ab und zu.
„Hey, ich – ich ...“, startete Patrick schliesslich einen neuen Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Ich – ich gehe heute auf Pilzsuche in den Wald. Und Holzsammeln für den Winter sollten wir auch.“
„Mhm.“ Es sah nicht wirklich so aus, als hätte Laura ihm zugehört, aber Patrick sprach dennoch weiter: „Na ja, und ich dachte, es könne wohl kaum schaden, wenn ihr beide mich begleitet.“
Endlich erwachte Laura aus ihren Träumereien und sie blickte ihrem Vater in die Augen. „Meinst du das wirklich?“
„Ja, sicher. Wir müssen ja nicht in die Nähe anderer Leute, nur in den Wald. Ihr hattet Recht, ich war übertrieben vorsichtig. Etwas Freiheit steht euch zu.“
5. 7.
Ein Schrei durchbrach die morgendliche Stille. Laura fuhr erschrocken auf. Zweimal musste sie tief durchatmen und sich beruhigen, dann schob sie die Decke zurück und trat ans Fenster. Es war schon fast sieben, aber Wolken verdeckten die Sonne und so war das Dorf getaucht in Dunkelgrau.
Erneut ertönte ein Schrei und diesmal verstand Laura, was die hohe Stimme kreischte: „Helft mir, bitte! Laura!“
Da stand ein blondes Mädchen auf der Strasse, Janine, und sie weinte. „Was ist?“, rief Laura ihr zu, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.
„Laura!“, keuchte Janine. „Hilf mir!“ Es klang verzweifelt.
„Wobei? Was ist los?“
„Meine Eltern! Sie – sie – sie ...“ Das Mädchen schüttelte gequält den Kopf.
„Was?“
Janine presste die Lippen zusammen, schloss die Augen.
„Was, Janine?“
Und endlich stiess sie es hervor: „Sie sind beide krank! Jemand muss ihnen helfen!“
Lauras Herz setzte einen Taktschlag aus. „Oh nein“, hauchte sie.
Janine auf der Strasse wimmerte weiter, sagte was, aber Laura hörte ihre Freundin nicht. Sie wusste nur eines: Seit der Party bei Janine waren erst drei Tage vergangen und wenn Janines Eltern den Virus auf sich trugen, dann bestimmt auch ihre Tochter und diese hatte Laura am Fest mindestens fünfmal umarmt.
„Hau ab!“, erklang in dem Moment aus der Stube Patricks Stimme. „Du wirst noch alle anstecken!“
„Aber ...!“, kreischte Janine dagegen an.
„Still! Verschwinde, oder ich hole mein Jagdgewehr.“
Die Drohung liess Janine zurückstraucheln. Ein letztes Mal hob sie bittend die gefalteten Hände in Richtung Laura, aber die war viel zu beschäftigt mit sich selbst, als dass sie es bemerkt hätte. Laura wusste: Wenn sie infiziert war, dann hatte sie auch ihren Vater und Reto angesteckt. Genau wie Patrick es immer prophezeit hatte.
6. 7.
Bereits im Verlauf des nächsten Tags hörte man von weiteren Erkrankten. Der Gemeindeammann läge im Bett, auch Tanja und Thomas und viele mehr. Bald war die Todesvorahnung wieder allgegenwärtig.
„Ich habe es ja immer gesagt! Ich habe sie gewarnt. Sie sind selber schuld“, murrte Patrick am Küchentisch. „Sie hätten diese Gemeindeversammlung nie durchführen dürfen, da haben sich alle angesteckt.“
Laura nickte schwach. Ihr Vater schien überzeugt davon, dass nur jene Leute sterben würden, die bei der Versammlung dabei gewesen waren. Er selber hingegen sei ungefährdet, genau wie seine Kinder. Und Laura hatte nicht vor, im zu sagen, dass dem nicht so war.
„Willst du keine Bohnen?“, fragte Patrick seine Tochter.
„Ich bin satt.“
„Nun komm schon, du ...“
„Nein, wirklich nicht.“ Laura winkte ab und für einen Augenblick erbleichte ihr Vater: „Du fühlst dich doch nicht etwa krank, oder?“
„Nein, Pa, es ist nur ... Ich habe keinen Hunger.“
11. 7.
Janine sei tot, rief Tim durch die Strassen. Sie habe sich die Pulsadern aufgeschnitten und liege nun im Garten, blass und blutüberströmt.
Während Tims schrille Stimme durch die Strassen hallte, überlegte Laura sich, dasselbe wie ihre Freundin zu tun. Selbstmordgedanken hatten Laura schon im Frühling gequält. Auf den sicheren Tod zu warten war eine unangenehme Sache. Damals aber hatte die grosse Party ihr Gehirn betäubt und sie vor der Tat bewahrt. Jetzt waren die Gedanken drängender, denn zur Todesgewissheit gesellten sich Schuldgefühle.
Zum Essen erschien Laura nie mehr, was zwischenzeitlich das Misstrauen ihres Vaters erregte. Aber noch fühlte sie sich nicht krank, nur spürte sie auch keinen Funken Lebensfreude in sich. Sie sass bloss in ihrem Zimmer, malte nicht mal, sondern starrte einfach aus dem Fenster.
„Janine ist tot!“, hörte man Tim weiter rufen, irgendwo aus Richtung der Kirche. Laura wusste nicht, weshalb der Junge ihretwegen schreiend durch ganz Hochwil lief. Sonst war er immer still gewesen, in der Schule nur dagesessen, in der hintersten Reihe, wo man in Ruhe träumen konnte.
15. 7.
Laura lag in ihrem Bett, die Decke über den Kopf gezogen, und weinte. Sie weinte jetzt schon eine ganze Weile, ohne genau zu wissen, weshalb. Schwach fühlte sie sich. Und wehrlos.
Tim war tot wie die meisten. Immer wieder hörte man das Wimmern und Heulen aus den Nachbarhäusern, wenn ein geliebtes Kind erkrankte oder ein Vater, eine Freundin, irgendwer. Aber so langsam wurde es stiller in Hochwil. Soweit Laura wusste, waren fast alle ihre früheren Kolleginnen aus der Schule unterdessen tot oder zumindest krank. Sie selber hatte pochende Kopfschmerzen und fühlte sich schwach, ausgelaugt, aber vor allem endlos einsam. Mit ihrem Vater sprach sie kein Wort mehr, ebenso mit Reto. Ihr Mund war ausgetrocknet, die Zunge farblos. Einzig die Zeichnung von Simis Gesicht vermochte ab und zu ein Lächeln auf Lauras Lippen zu zaubern. Aber wahrscheinlich war auch er längst tot, genauso wie es bald ihr Vater sein würde, wie Reto, wie sie selbst.
„Scht“, zischte da jemand. Laura hielt die Luft an. Sie wollte nicht sprechen, weder mit ihrem Bruder noch mit ihrem Vater.
„Schläfst du?“, flüsterte die Stimme.
Keine Reaktion. Ruhig weiteratmen. Aber schon wurde die Decke zurückgezogen und eine Hand berührte Lauras Haar. Ein Finger strich eine Träne von der Wange des Mädchens.
„Laura, wach auf!“, drängte die Stimme. Sanft griff die Hand nach ihrer Schulter, schüttelte sie. „Laura!“
Das war nicht Vater, bemerkte Laura, dessen Stimme war viel rauer. Einen Moment zögerte sie und wollte schon ihren Bruder anschreien, er solle sie in Ruhe lassen. Aber zugleich wurde ihr klar, dass das auch nicht ihr Bruder war.
Sie schlug die Augen auf und murmelte: „Was machst du hier, Simi?“ Als sie tatsächlich den Jungen bei ihr sitzen sah, konnte sie nicht anders als ihn zu umarmen. „Ich hab dich vermisst!“, raunte sie. Bevor sie weitersprach, wartete das Mädchen darauf, dass ihr Herz wieder ruhiger pochte. Dann fragte sie: „Was machst du hier?“
Er erklärte leise: „Ich wollte dich sehen. – Hast du gedacht, ich sei krank?“
Laura nickte.
„Dasselbe dachte ich von dir. Ich musste wissen, wie’s dir geht.“
„Mir – mir geht’s gut“, berichtete das Mädchen. Im Moment ging es ihr wirklich gut, es war keine Lüge. Sie spürte nicht mal ihre Kopfschmerzen.
„Das ist schön.“
„Und dir?“
„Mir auch. – Immerhin war ich fit genug, um mich in euer Haus zu schleichen.“
Wieder umarmten sich die beiden Jugendlichen und während Laura Simis Nähe spürte und genoss, vergass sie alles, die Seuche, Janines Tod, sogar ihr eigenes, nahendes Ende. Sie fühlte nur Wärme.
„Laura?“, fragte Simi nach einer Weile.
„Ja?“
„Ich – ich gehe fort. Ich will Hochwil verlassen und über die Berge in den Süden ziehen, so weit wie ich komme, bevor ich krank werde.“
Laura sah den Jungen an. Ihr rannen noch Tränen über die Wangen und die Lippen zitterten. „Wann?“, hauchte sie.
„Jetzt. Der Rucksack steht draussen bereit.“
Noch während er sprach, drückte Laura den Jungen wieder an sich mit aller Kraft, als wolle sie ihn nicht gehen lassen. Sie küsste ihn und plötzlich fühlte sich ihr Mund nicht mehr ausgetrocknet an.
„Darf ich dich begleiten?“, fragte sie.
26. 7.
„Ich verstehe das nicht“, keuchte Patrick am Lager seines toten Sohns. Schweiss rann über das Gesicht des Mannes. Ein beissender Ausschlag bedeckte Patricks Wangen, seine Stirn, den Hals und wenn er sich kratzte, begann es zu bluten.
„Ich verstehe das nicht!“, wiederholte er verzweifelt und berührte dabei Retos Brust, als hoffe er, dass der Puls nochmals einsetzen würde. Aber der Junge war jetzt schon seit dem vergangenen Abend tot. Stundenlang hatte er elendig geschrieen und gehustet, bevor es so weit war.
Patrick richtete sich auf und stolperte durch die Stube, wo der Fernseher lief und Rauschen zeigte. Sechs Uhr. Früher war um diese Zeit jeweils Laura in der Stube erschienen und sie hatte ihm einen guten Morgen gewünscht, aber das Mädchen war verschwunden. Ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Vielleicht bin ich der letzte Mensch, wurde Patrick bewusst. Vielleicht der allerletzte. Er hustete erbärmlich und sein Ausschlag platzte auf. Blut tropfte in seine Augen, schrecklich beissend. Er ächzte.
Sich mühsam auf beiden Beinen haltend verliess Patrick das Haus und schritt durch Hochwil. Seine Tochter wollte er finden oder zumindest jemanden, der noch lebte. Ein letztes menschliches Wort hören, bevor auch er verendete.
Janine fand er. Die Leiche lag noch immer im Garten, so wie Tim sie gefunden hatte. Und der Junge war bei ihr, ebenfalls tot, aber seine Haut war weniger fahl und verwittert als die des Mädchens mit den aufgeschnittenen Pulsadern. An ihrem Körper hatten sich bereits die ersten Vögel zu schaffen gemacht, dazu allerlei Kleingetier. Angewidert wandte sich Patrick ab. Er strauchelte weiter und dachte dabei an Laura, die ebenfalls irgendwo liegen musste, von Tieren zerfressen.
Die Sonne ging auf, bemerkte Patrick. Der letzte Sonnenaufgang. Er versuchte zu weinen, aber dabei platzte der Ausschlag wieder auf und sein Gesicht schmerzte höllisch, worauf er sich zusammenriss. Die Beine wurden schwach, er fühlte es. Weit würden sie ihn kaum mehr tragen, doch er wollte es wenigstens bis in den Wald schaffen. Ein guter Ort zum sterben. Im kühlen Schatten das Rauschen des Windes in den Bäumen hören, die Ameisen spüren, die einem über die Hosen krabbelten, alles Leid vergessen. Dort wollte er seinen letzten Herzschlag spüren.
Das Herz pochte wie wild, während ein Gemisch aus Schweiss und Blut über Patricks Körper strömte. Er sass angelehnt an eine der alten Eichen, nun schon seit vielen Stunden, und schrie vor Schmerzen. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, ruhig zu bleiben und an die Tage seiner Jugend zu denken, an glückliche Zeiten. Jetzt konnte er nur schreien. Seine Haut brannte, alle Muskeln waren verkrampft, die Innereien zogen sich zusammen. Ab und zu blitzten Bilder vor Patricks Augen auf: Seine Tochter, Laura, die er doch immer so gemocht hatte und die dieselben Schmerzen hatte erleiden müssen wie nun er. Und Reto, der am vergangenen Abend vor seinen Augen gestorben war. Die beiden Kinder waren sein Leben gewesen. Seit sie ihn verlassen hatten, fürchtete Patrick sich kaum mehr vor dem Tod, nur vor den Qualen.
Als Patrick nach einem lauten Schrei erst mal Luft holen musste, öffnete er für einen Augenblick die Augen und konnte so sehen, dass die Sonne unterging. Ihre letzten Strahlen liessen die Gebirge wie aus Gold erscheinen. Einen Moment lang genoss Patrick den Anblick und vergass alle Schmerzen. Dann starb er.
27. 7.
Laura blinzelte, als die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht streiften. Ein Arm lag wärmend um ihrer Taille und sie spürte Simis Atem im Nacken.
„Bist du schon wach?“, flüsterte sie, aber er antwortete nicht. Also rollte sich das Mädchen vorsichtig aus seinem Griff und stand auf. Noch etwas benommen schwankte sie durchs Gras, gähnte und zuckte einmal zusammen, weil sie mit ihren baren Füssen auf einen spitzen Kieselstein trat. Gestern war es bereits dunkel gewesen, als sie die Lichtung erreicht hatten, aber es war ein schöner Ort, ein kleines Paradies mitten im düsteren Wald. Viele solche Orte hatte sie zusammen mit Simi in den letzten Tagen entdeckt. Weiher weitab der Strassen, Blumenfelder und Anhöhen mit prächtigen Panoramen. Die Überreste der Zivilisation mieden sie auf ihrer Wanderung sorgfältig. Nur wenn es sein musste, überquerten sie eine Strasse, ohne dabei je auf ein Zeichen menschlichen Lebens zu stossen.
Laura gähnte. Sie genoss jeden Augenblick. Die Natur in den Bergen war prächtiger als sie es je gedacht hätte und Simi war ihr ein guter Freund. Mit liebevoller Hingabe kümmerte er sich um das Mädchen. Sie lachten oft, rannten durch die Wälder, planschten in Bächen. Es fiel Laura leicht, ihren Vater zu vergessen und auch, dass sie vielleicht bald sterben würde.
Unweit der Lichtung erreichte Laura eine Kuppe, von der aus sie das Land im Süden überblicken konnte. Sie atmete die kühle Morgenluft ein, streckte die Arme aus und lächelte. Die Welt gehörte ihr.