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Morgendämmerung
Was ich nun erzählen werde ist etwas, was mir in meiner frühen Jugend zugestoßen ist und mir seitdem große Alpträume bereitet. Es ist das erste Mal, dass ich mit Jemanden darüber rede. Schon die Gedanken an diesem schrecklichen Tag rauben mir jeden Schlaf. Früher dachte ich, dass diese furchtbaren Erinnerungen mit der Zeit verblassen würden, aber diese Hoffnung konnte sich nicht bewahrheiten. Morgen ist mein fünfzigster Geburtstag und ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich mache mir keine Hoffnung mehr, dass sich meine Situation in Zukunft verbessern wird aber wie ihr sicherlich wisst können Geheimnisse nicht ewig versteckt gehalten werden. Irgendwann kommt die Zeit an der sie sich an die Oberfläche drängen und mit aller Macht versuchen entdeckt zu werden.
Ich war damals neunzehn Jahre alt und mein zwangzigster Geburtstag stand vor der Tür.
Damals wohnte ich mit meinen Eltern noch in Sherbrooke. Sherbrooke ist eine typische Kleinstadt in der Jeder Jeden kennt und eine enge Beziehung zwischen den Bewohnern besteht. Gewöhnlich treffen sich die Männer morgens in der Bar und trinken zusammen einen Kaffee und plaudern darüber wie schwer die momentane wirtschaftliche Lage sei und wie gut sie es früher hatten während die Frauen zusammen in der Küche sitzen und peinliche Geschichten über die Nachbarn austauschen und den monatlichen Modekatalog nach Schnäppchen durchforsten.
Wie an jedem anderen Samstagmorgen auch schlief ich bis zehn Uhr durch und ging danach runter in die Küche, um den Tag mit einem guten Frühstück zu beginnen und mir später meine Lieblingsserie „Wer schnappt Bill“ im Fernsehen drüben im Wohnzimmer anzuschauen. Als ich jedoch unten ankam war keine Menschenseele zu sehen. Eigentlich hatte ich erwartet meine Mutter am Küchentisch mit der Sherbrooke Post (Die tägliche Zeitung) auf dem Tisch ausgebreitet und einer Tasse Kaffee anzutreffen.
Jedoch konnten meine Erwartungen auch nach langer Suche in der ganzen Wohnung nicht erfüllt werden. Wie es schien war meine Mutter Tiffany Wales – das war ihr Name, kurz ausgegangen, um wahrscheinlich beim Bäcker Brötchen einzukaufen oder weiß der Teufel was.
Ich entschied mich dafür auf meine Mutter im Wohnzimmer zu warten. „Wer schnappt Bill“ würde zwar erst in einer halben Stunde losgehen, aber ich konnte ja solange mir die Zeichentrickserien auf CND anschauen. Naja, auf jedem Fall schaltete ich das Fernsehen an und wollte mich gerade auf dem Sofa setzen als mir einfiel draußen nach der Post zu sehen.
Komischerweise war die Haustür nicht abgeschlossen. Meine Mutter muss wohl vergessen haben die Tür abzuschließen.
Wahrscheinlich war sie im Stress oder so., dachte ich mir. Nachdem ich das Treppenhaus bewältigt hatte und fast den Gartenzaun erreicht hatte, fing es aus heiterem Himmel an zu regnen. Ich lief nun schneller, schnappte mir die Post aus dem Briefkasten – es befanden sich nur vier Briefe darin, und ging schnell wieder ins Haus. Ich wollte gerade Platz auf dem gemütlichen alten Ledersofa nehmen als mir auffiel, dass das Wohnzimmerfenster offen stand.
Darunter war der rosarote Wohnzimmerteppich, der den Boden des gesamten Raums füllte mit Scherben aus weißem Porzellan bedeckt. Die Stellen des Teppichs, die mit Wasser in Berührung gekommen waren, hatten eine dunkle Färbung angenommen, die dem Rot von frischem Blut ähnelte. Auf den nassen Scherben lag eine goldgelbe Orchidee entwurzelt, umgeben von tausenden Erdkrumen.
Die Blume glich einen Funkelnden Stern dessen Leben sich dem Ende nahte. Mein erster Gedanke war, dass ein Windstoß Ursache für diesen Saustall war. Womöglich hatte meine Mutter wieder mal vergessen das Fenster zu schließen und das war nun die logische Konsequenz.
Ich hatte gerade das Fenster geschlossen und wollte mich in den Abstellraum begeben, um die Schaufel und den Handfeger zu holen, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Geräusch den Raum erfüllte. Dieser schien aus der oberen Etage zu kommen, wo sich mein Schlafzimmer und das meiner Eltern befanden. Draußen tobte in der Zwischenzeit ein fürchterlicher Sturm der den Raum bei jedem Donnern erneut erhellte und das Heulen des Windes war nun auch nicht mehr zu überhören.
Die Atmosphäre in der Wohnung wurde finster und jagte mir bereits zu dem Zeitpunkt eine höllische Angst ein und das war wie ich wusste kein gutes Zeichen. Mit schleichenden Schritten bewegte ich mich auf dem Treppenhaus zu, der das Untergeschoß mit dem zweiten Stockwerk verband um nachzusehen wer oder was für diesen polternden Lärm verantwortlich war.
Das Betreten jeder Stufe auf dem Weg nach oben kostete mich sehr viel Überwindung.
Es schien mir so als würden meine Beine aus Wackelpudding bestehen, die sich gleich vor meinen Augen zu flüssiger Gelatine zersetzen würden. Meine Nackenhaare richteten sich auf und das Pochen meines Herzens schien so laut, dass ich schon befürchtete, derjenige der da oben diesen Radau veranstaltet hatte, bereits von mir Kenntnis genommen hatte und für mich jetzt eine Überraschung vorbereiten würde, die ich in meinem Leben nie vergessen werden sollte – was dann schließlich auch geschah.
Als ich die letzte Stufe erreichte schaute ich mich gründlich in alle Richtungen um, betrat meinen Zimmer, schaute hinter der Tür und durchsuchte alle Schränke nach unerwünschte Besucher.
Es schien hier niemand gewesen zu sein, zumindest in meinem Zimmer nicht, aber dieses schreckliche Gefühl wollte sich einfach nicht von mir lösen. Ich war mir sicher, mir würden die Gründe dafür bald klar werden. Die Toilette und der Hobbyraum mit dem Billardtisch und der Dartscheibe, der mein Vater ständig nutzte waren ebenfalls leer. Also blieb jetzt nur noch ein Raum übrig, der noch untersuchen werden musste – das Schlafzimmer meiner Eltern. Die weiß – gestrichene Holztür stand einen Spalt weit offen, der Sicht auf die Nachtkommode und Kleiderschrank gewährte. Auf der Kommode stand die uralte Nachttischlampe, die meiner Mutter von ihrer Großtante Rebekka Wales zu ihren zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt wurde. Daneben lag die Bibel aufgeschlagen.
Wie ihr wisst war meine Mutter sehr gläubig. Sie besuchte an jedem Sonntag den Gottesdienst in der St. Marien - Kirche im Nachbarort Windsor und mochte es nicht wenn jemand in der Familie – sei es ich oder mein Vater, fluchte oder sich über etwas beklagte.
Sie war eine wundervolle Mutter und eine liebenswerte Frau, die die meisten Menschen in Sherbrooke beneideten und verehrten.
Aber nun zurück zu meiner Geschichte.
Oje, ich wünschte dieser Tag wäre mir nie zugestoßen. Ich öffnete langsam die Schlafzimmertür und machte einen leisen Schritt hinein. Was ich nun sah, werde ich niemals vergessen. Meine Mutter lag mit dem Rücken nach unten auf dem Bett und starrte geradeaus an die Decke, als könnte sie diese mit ihrem Blick durchdringen. Ihre Schlafbekleidung war mit Blut getränkt.
Der Bauch war aufgeschlitzt und die Eingeweide, die darin schwammen waren deutlich sichtbar.
Ihre Arme und Beine lagen ausgestreckt auf dem Bett, wobei sie mit ihrem Körper ein X bildete.
Auf dem Bett lag eine riesige rote Pfütze, die sich mit großer Geschwindigkeit auf dem babyblauen Bettlaken ausbreitete und diesen zu verschlingen schien.
Auf der grauen Tapete über das Bett stand etwas in dunkelroter Schrift, das ich im ersten Moment nicht entziffern konnte, was sich aber nach näherem Hinsehen änderte. Dort stand mit Blut geschrieben – dem Blut der Frau, die jetzt leblos auf dem Bett lag, „mortis“.
Ich wusste nicht wieso, aber dieses Wort hatte ich schon mal irgendwo gehört, woher wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Ich eilte sofort zum Telefon und rief meinen Vater auf seinem Handy an, den er immer bei sich trug, erzählte ihn aber nicht, dass meine Mutter tot auf dem Bett lag, sondern sagte nur, es würde dringend sein und legte gleich danach wieder auf.
Am späten Mittag war endlich die Polizei da, um Fotos zu machen und Fragen zu stellen, sehr viele Fragen.
Es dauerte ungefähr fünf Stunden, bis sie die Leiche fortgebracht hatten und sie mit ihrer Arbeit fertig waren.
So sehr ich mir auch Mühe gab bei der Ermittlung dieses Falles behilflich zu sein, konnte ich die meisten Fragen zu dem Täter nur mit einem „weiß ich nicht“ oder „Ich habe niemanden gesehen“ beantworten. Dieser Mordfall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden.
Noch an demselben Abend saß ich mit meinem Vater am Tisch und versuchte wenigstens einen Bissen herunter zu bekommen, was mir aber nicht gelingen wollte. Wir haben seitdem nie wieder über diesen schrecklichen Tag gesprochen, der mein Leben zum Schlechteren gewandelt hat. Wie ihr sicherlich noch wisst, habe ich euch vorhin erzählt, dass mir dieses Wort „mortis“ bekannt vorkam und ich es schonmal irgendwo gehört habe. Naja es war spät nachts als ich zu Bett ging.
Nachdem ich meinem Schlafanzug angezogen hatte fiel mir ein Buch auf, der auf meinem Schreibtisch aufgeschlagen da lag – mein Latein – Buch. Ein einziges Wort war mit leuchtender gelber Farbe markiert, „mortis“.
Auf der rechten Spalte stand die deutsche Bedeutung dieses Wortes, „Tod“.
Nun schossen mir lauter Gedanken wie Blitze durch den Kopf, dass ich kaum Zeit hatte diese in Ruhe verarbeiten zu können.
In diesem Tagtraum sah ich mich, wie ich nachts runter in die Küche ging, den erstbesten Messer aus der Schublade nahm und mich in das Schlafzimmer meiner Mutter begab. Ein furchtbares Grinsen zeichnete sich in meinem Gesicht ab, als mich meine Mutter fragte „George, kannst du wieder mal nicht schlafen?“.
Als sich diese Art Vision wieder löste und meine Gedanken klarer wurden, machte alles einen Sinn. Ich hatte meine eigene Mutter getötet und konnte mich aus irgendeinem Grund nicht daran erinnern. Am nächsten Tag versuchte ich diesen Gedanken zu verdrängen, was mir aber wie schon gesagt niemals gelungen ist.
Bevor ich diese Geschichte beende, solltet ihr noch etwas über mich erfahren. Ich bin seit meinem vierten Lebensjahr Schlafwandler. Seitdem ich heute morgen aufgewacht bin, habe ich wieder so ein komisches Gefühl. Ich höre ständig diese merkwürdigen Stimmen und Geräusche. Naja, ich denke dass wird sich spätestens heute Abend wieder legen.
Ich hoffe es zumindest.