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Morgenstunden

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24.06.2001
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Morgenstunden

Er war bereits zwei Meilen den Highway entlanggelaufen, ohne jedoch genau zu wissen, warum er das tat. Immer nur dem Sonnenlicht entgegen, das die ganze Welt um ihn herum verklärte. Seine Schritte trugen ihn immer weiter und weiter die Strasse hinauf und selbst wenn er es gewollt hätte, so hätte er sich nicht davon abhalten können, immerfort weiter zu schreiten durch eine Welt, die ihm nichts mehr bedeutete. Es war noch früher Morgen, aber die Sonne brannte schon unerbittlich und eine wohltuende Wärme breitete sich auf der Haut des jungen Mannes aus. Früher wäre er in solch einem Moment der Freiheit glücklich gewesen. Nun war er wirklich wieder frei. Die Menschen, die ihm in ihren Autos entgegenkamen, blickten ihn nicht einmal an, denn sie wussten nichts von seiner Freiheit und von seinen Gefühlen. Die Nacht war lang gewesen, doch er fühlte sich nicht müde. Er glaubte, noch nie in seinem Leben so wach gewesen zu sein wie heute. Am Strand lagen die letzten Betrunkenen wie letzte Relikte der vergangenen Nacht und Straßenköter wuselten ziellos umher. Die Sterne der Nacht waren schon vom Himmel gefallen und der Tag schickte sich an zu beginnen. Als er noch ein Kind gewesen war, hatten sie die herrenlosen Hunde immer durch die Stadt gejagd und mit Steinen beworfen. Es hatte ihnen eine unheimliche Freude bereitet. Als er die einsame Promenade entlangging erkannte er in der Ferne die Leuchtreklame der Bars, die abends immer geschäftig zum Leben erwachten. Auch jene Bar, in der er gestern mit seiner Freundin gewesen war. Er erinnerte sich daran, dass sie dort den Geburtstag eines Freundes feiern wollten. Die Stimmung war gelöst und angenehm gewesen. Als sie gemeinsam auf den gemeinsamen Freund anstießen, konnte man auf dem glitzernden Meer die letzten Fischerboote im Rhythmus des Seeganges schaukeln sehen. Die Nacht war klar und warm gewesen - ein Sommertag wie jeder andere im Leben eines jungen Menschen. Er hatte gegrinst, als seine Freundin im Inneren der Bar verschwunden war und erst einige Stunden später wieder hinaus kam. Er freute sich, dass sie sich amüsierte. Ja, selbst als sie in den Armen eines anderen an dem Tisch vorbeiging, an dem er saß und den Horizont betrachtete, hatte er gegrinst. Bis er verstanden hatte, was wirklich vor sich ging. Dann war er wie ein alter Mann aufgestanden ohne zu zahlen und hatte sich allein und einsam auf den Heimweg zu seiner kleinen Wohnung gemacht, die er vor kurzer Zeit gemietet hatte. Doch sein Weg führte ihn durch die Strassen der schlummernde Stadt und hinaus zum Meer, wo er die Wellen betrachtete, die gegen den Strand schlugen und wo er selige Liebespaare sah, die umschlungen im Sand lagen und keine Augen für ihre Umwelt hatten. Da war in ihm ein Entschluss gereift und er wusste, dass er ihn nicht rückgängig machen konnte, nicht rückgängig machen wollte. In seinem Herzen war etwas zerbrochen, das ihn am Leben erhalten hatte. Etwas, das ihm Mut gab, mit all dem fortzufahren, was uns so banal erscheint. Er war auf dem Weg zur großen Brücke, die den Norden mit dem Südteil der Stadt verbindet, soviel wusste er. Doch er war sich nicht bewusst, was ihn dorthin trieb und seine Schritte lenkte. Als er am höchsten Punkt der Brücke stand und die Autos unablässig an ihm vorbeirauschten, empfand er nichts als eine marternde Leere in sich, die von ihm Besitz ergriff und ihn quälte. Er schaute hinaus auf das weite Meer und sah, wie sich immer dichtere Wolkentürme am Morgenhimmel über seiner Heimat bildeten. Er musste raus, konnte nicht bleiben an diesem Ort. Hier war es, wo er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Es zerrte an seinem Herzen, an seiner Seele, als er über das Geländer stieg. Das Wasser schimmerte verlockend dort unten, als wollte es ihn zu sich holen. Dort sah er in der Tiefe sein Spiegelbild, ein Mensch, der mit ausgebreiteten Armen auf einer Brücke steht. Er wünschte sich, in die Augen seines Spiegelbildes zu schauen, um sich selber wieder zu finden und sein eigenes Antlitz zu befragen, ob er traurig sei. Die Antwort wusste er bereits, als er sich der glitzernden Wasseroberfläche zuwandte, die die ersten Sonnenstrahlen in sich aufnahm. Er fürchtete sich nicht mehr vor der Zukunft, als er sprang, um sein Spiegelbild zu betrachten. Die Welt war still geworden, doch die Glückshormone durchströmten seinen Körper, bis er aufschlug. Denn er hatte keine Zukunft mehr. Hätte die Sonne die Wahl gehabt, so wäre sie sogleich wieder hinter dem schützenden Horizont versunken. Doch sie hatte keine Wahl und so musste sie allein den jungen Mann ansehen, wie er dort tot in der Brandung lag. Die Autos glitten weiter durch den Morgen einem neuen Tag entgegen, alle an einer endlosen Kette und keines hielt an, um sich nach dem Schicksal des Menschens zu erkundigen.

 

Hallo Toby,
deine Geschichte ist ja nicht unbedingt was für die Kaffestunde am Sonntagnachmittag. Ziemlich ergreifend. Für meinen Geschmack, hättest du der Story mit ein paar Streichungen noch mehr Ausdruck verliehen. Zum Beispiel ist es nicht wichtig zu erfahren, dass dein Protagonist die Wohnung erst vor kurzem gemietet hat. Ich denke, dass der Schluss wirkungsvoller ist, wenn du nach dem Satz Die Welt war still geworden, doch die Glückshormone durchströmten seinen Körper, bis er aufschlug die Geschichte enden lässt.

viele Grüße
Winni

 

Tschuldigung, wenn ich auch noch meinen Senf dazu gebe.
Die Geschichte wird, aus meiner Sicht gesehen, jeh länger jeh besser. Ein ganz klein wenig schockiert sie, und doch versteht man die Geschichte.
Den Schluss mit der Sonne, die keine Wahl hat, den Winni weggelassen hätte, den finde ich gut und ich finde es auch in Ordnung, wenn dieser Schluss dasteht. Einige Passagen in der Geschichte sind wirklich gut. So zum Beispiel: nullBis er verstanden hatte, was wirklich vor sich ging. Dann war er wie ein alter Mann aufgestanden...
Irgendwie versteht man den Gefühlszustand dieses Menschen, der sich das Leben nimmt, gut. Für mich ist es eine recht krasse Geschichte.
Gruss
Foxtown

 

Hi, ich bins mal wieder.
Also, du hast mich echt überrascht mit dieser Geschcihte. Ich mag es, dass du so viele verschiedene Dinge schreibst, immer wider neue Atmosphären aufbaust, kleine, selbstständige Welten schreibst. So gefällt mir besonders diese Geschichte, durch ihren goldroten Charme. Man fühlt sich wohl auf diesem Highway, dieser Brücke. Es ist warm, man ist frei. Allerdings solltest du über den Widerspruch am Anfang nachdenken: " Die Sonne brannte schon unerbittlich" und "eine wohltuende Wärme", alles klar? Aber ich finde, dass du besonders hier ein sehr schönes Bild beschreibst. Man entwickelt Sympathie für das lyrische Ich und empfindet den Freitod als verständlich. Ohne zu sehr auf die Gefühle einzugehen, schaffst du es, den Leser dazu zu bringen, die Person zu mögen, mir ihr zu fühlen. Am Ende kommt dann der Gedanke: Ey, schreib weiter!
Und ich sage: Mach weiter! Will noch mehr solcher Geschichten lesen!

 

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