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Morpheus’ Macht
Karin sah zum Beifahrersitz hinüber. Ava war in ihr neuestes Romanmanuskript vertieft. Abschätzig ließ Karin den Blick über sie gleiten. Zu kurzer Rock, zu blonde Haare, viel zu bunt angemalt – und das in ihrem Alter! Einfach lächerlich!
Ava schaute hoch. „Hast du einen Schluck Kaffee für mich?“
„Ja natürlich.“ Karin reichte ihr die Thermosflasche. Der Kaffee darin war tiefschwarz – und bitter. So bitter, dass Ava den Beigeschmack nicht bemerkte.
„Stark“, sagte sie.
Karin nickte. „Das hilft am besten gegen meinen niedrigen Blutdruck.“
Sie grinste in sich hinein. Alles war bestens geplant und vorbereitet. Ava freute sich auf den Urlaub in der Heide. „Das Häuschen ist ideal zum Schreiben“, hatte sie gesagt. „Nicht nur zum Schreiben ist es ideal“, dachte Karin.
Ihre Augen verengten sich. Eigentlich waren es ihre Ideen, die Ava in ihren Bestsellern verarbeitete. Sie machte das geschickt, das musste der Neid ihr lassen – aber allmählich stieg ihr der Erfolg zu Kopf. Ihre Kritik an allem, was Karin schrieb, war vernichtend. Mehr als einmal hatte sie deswegen ihre Projekte aufgegeben und schließlich die Lust am Schreiben ganz verloren. Aber es war vor allem Avas arrogante Überheblichkeit, die sie nicht länger ertragen konnte.
Als Karin vor dem Ferienhäuschen anhielt, blickte Ava von ihrem Manuskript hoch. „Hübsch“, gähnte sie. „Aber ich glaube, ich muss erst mal ein Mittagsschläfchen halten.“
„Lass uns vorher noch einen Kaffee trinken“, schlug Karin vor.
Der Kaffee, den sie zubereitete, war noch schwärzer und noch bitterer. „Diese Dosis müsste reichen“, dachte sie.
Kurze Zeit später taumelte Ava ins Schlafzimmer. Sie ließ sich aufs Bett fallen und schlief auf der Stelle ein.
Das altmodische Bett hatte vier Pfosten. Genau genommen waren es diese Pfosten, die Karin bewogen hatten, das Häuschen für die Sommermonate zu mieten.
Eilig holte sie die Seile aus ihrem Koffer und fesselte Avas Hände an die Bettpfosten. Ava schnarchte. Selbst als Karin den Knoten festzurrte, wachte sie nicht auf.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder zu Bewusstsein kam. Sie versuchte, sich aufzusetzen.
„Soll das ein Scherz sein?“
„Keineswegs.“
„Du hast mich gefesselt! Bist du verrückt?“
„Ich nicht. Aber du wirst es bald sein.“
Schweigend starrte Ava sie an.
„Ein paar Tage“, erklärte Karin, „länger kann es niemand aushalten.“
„Was?“
Wortlos ging Karin hinaus und kam kurz darauf mit einer Schnabeltasse zurück. „Trink!“ Sie klemmte Ava das Mundstück zwischen die Lippen und schüttete ihr Kaffee in den Rachen.
Die verzog das Gesicht. „Davon habe ich heute schon genug getrunken.“
Karin gluckste. „In den nächsten Tagen wirst du noch viel mehr davon bekommen. Nicht zu vergessen die anderen Aufputschmittel.“
„Um Himmels willen, was hast du vor?“
Karin antwortete nicht.
Ava wandte den Kopf ab.
Heftig riss Karin sie an ihren langen Haaren. „Sieh mich an! Und wage es nicht, deine Augen zu schließen!“
Ava gehorchte. Nach einer Weile flüsterte sie: „Ich muss mal.“
Karin holte eine Bettpfanne. Grob schob sie Avas Sommerkleid hoch und riss ihr den Schlüpfer herunter. Mit verächtlichem Blick maß sie deren entblößten Unterleib. „Da liegt sie, die begnadete Schriftstellerin“, höhnte sie, „und muss pinkeln, wie jeder andere Sterbliche auch.“
„Was willst du eigentlich von mir?“
„Nichts Besonderes“, erwiderte Karin. „Nur dass du stirbst. Und bei Gott, das wirst du.“
„Du willst mich umbringen?“
Karin lachte. „Ich werde mir bestimmt nicht die Hände an dir schmutzig machen. Du wirst von selbst sterben. Und dann kann ich endlich meine Ideen selbst verwirklichen, ohne dass du sie mir dauernd kaputt redest oder sogar stiehlst.“
Ava schnaufte durch die Nase. „Du wirst niemals Erfolg haben. Dazu bist du nicht gut genug.“
Karin schlug ihr ins Gesicht.
Draußen begann es zu dämmern. Die ersten Sterne blitzten auf und ein orangeroter Vollmond füllte das winzige Fenster fast ganz aus.
Avas Lider wurden schwer.
„Nicht einschlafen!“ Karin rüttelte sie an der Schulter.
Ava schrak zusammen, als ihr plötzlich grelles Licht aus zwei Strahlern direkt in die Augen stach.
Karin ging zu einem Ghettoblaster hinüber. „Ich habe auf Wiederholung gestellt“, erklärte sie, ehe sie das Gerät einschaltete.
Unerträglich laute Musik ließ Avas Schädel fast zerspringen. Es war, als würde ihr Gehirn gleich zerplatzen.
„Ich ruhe mich nun ein wenig aus“, sagte Karin. Sie steckte sich Oropax in die Ohren und ging hinaus.
Kein Auge konnte Ava in dieser Nacht zutun. Am nächsten Morgen war ihr übel vor Müdigkeit. Aber immer wenn ihr die Augen zufallen wollten, kitzelte Karin sie lang und anhaltend am ganzen Körper. Keine Minute ließ sie sie aus den Augen. Oft summte sie zufrieden vor sich hin oder sprach mit monotoner Stimme. „Keiner hat es bisher länger als elf Tage ausgehalten“, dozierte sie. „Bevor Ratten sterben, können sie ihre Körpertemperatur nicht mehr aufrechterhalten.“ Sie kicherte. „Frierst du? Soll ich dir eine Decke holen?“ Sie bleckte die Zähne. „Besser nicht. Wenn es zu gemütlich wird, schläfst du womöglich ein.“
Ava liefen Schauer über den Rücken.
Der dritte Tag – oder war es bereits der vierte? – und dann noch ein Tag reihten sich aneinander. Zunächst hatte Ava noch versucht zu verhandeln. „Ich überlasse dir meine Manuskripte. Alle! Meine Entwürfe. Wenn du willst, behaupte ich sogar, dass du meine Bücher geschrieben hast.“
Karin lachte. „Almosen nehme ich nicht. Ich will Gerechtigkeit.“
Später lag Ava nur noch apathisch da. Erbarmungsloses Licht, Schläge, überlaute Musik, quälendes Kitzeln, pechschwarzer Kaffee, den sie manchmal erbrach.
Ihre Arme und Beine spürte sie kaum noch. Auch richtig denken konnte sie nicht mehr.
Dann, eines Nachts, kamen sie. Erst nahm Ava nur ein leichtes Kribbeln wahr, so als ob Karin sie mit einer Feder kitzeln würde. Mühsam hob sie den Kopf. Das grelle Licht blendete, doch dann sah sie, dass ihr Körper mit kleinen, schwarzen Punkten übersät war, die sich bewegten. Sie spürte, wie flinke Beine über sie hinweghuschten. Etwas wanderte über ihre rechte Brust zum Kinn hinauf und weiter nach oben. Ava blinzelte. Jetzt konnte sie erkennen, was es war: Auf ihrer Nase hockte eine fette Fliege und sah sie aus bösen, roten Augen an. Sie hielt ein Schüppchen von Avas ungewaschener, verschwitzter Haut zwischen den Vorderbeinen und verspeiste es.
Ava schrie.
Gerade war die dröhnende Musik für einen Augenblick verklungen. Mit einem leisen Scharren schaltete der CD-Player zum Anfang zurück.
Ava schrie wieder, so schrill, dass Karin hereingestürzt kam und das Gerät abstellte. Sie schwankte und hielt sich an einem Bettpfosten fest. „Verdammter Blutdruck“, murmelte sie.
„Fliegen!“, kreischte Ava. „Überall! Jag sie fort, bitte!“
„Halt die Klappe“, fuhr Karin sie an. „Du hast bloß Halluzinationen. Das ist normal in deinem Zustand.“
Ava zuckte und wand sich. Ab und zu spürte sie einen kleinen, scharfen Stich. „Sie fressen mich“, dachte sie, „sie fressen mich auf, bei lebendigem Leib!“
Die dicke Fliege setzte sich auf ihren Mund.
Ava presste die Lippen zusammen und wimmerte.
Die Fliege kroch in ein Nasenloch und krabbelte über das Zäpfchen den Hals hinunter.
Ava würgte.
Eine dichte, grünschillernde Wolke erhob sich und summte über ihrem Kopf. Eine Schmeißfliege setzte sich auf den linken unteren Lidrand. Reflexartig kniff Ava die Augen zu.
Karins Ohrfeige war so heftig, dass der Kopf zur Seite flog. „Nicht einschlafen! Ich hole neuen Kaffee.“
Karin atmete ein paar Mal tief durch und taumelte hinaus. Die Tür ließ sie einen Spaltbreit offen stehen.
Ava hörte, wie sie die Tür zum Vorratskeller aufschloss. Dabei summte sie wieder vor sich hin. Oder waren es die Fliegen, die sich zu Hunderten im Schlafzimmer tummelten?
Die Geräusche entfernten sich. Offenbar stieg Karin die Kellertreppe hinunter.
Plötzlich hörte Ava eine Art Rumpeln, dann einen Schrei und berstendes Krachen.
Schlagartig verstummten die Fliegen.
„Karin?“
Keine Antwort.
„Karin!“
Nichts.
Sie lauschte.
Totenstille.
Ava schlief ein.
Irgendwann erwachte sie. Es war heiß, der Kopf tat ihr weh, sie hatte Durst, schrie nach Karin, dämmerte eine Weile vor sich hin, schlief wieder ein, schreckte hoch und glaubte, Karin summen zu hören.
Nein, das war kein Summen. Vielmehr war es ein Brummen, das immer lauter wurde.
Dann kamen sie, getragen von faulig süßem Geruch.
Und diesmal waren die Fliegen echt.