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Moses
Anke spürte die nächste Welle heftigen Schmerzes auf sie zurollen. Sie hielt den Atem an und krallte ihre Finger in den trockenen Waldboden. Dabei brachen ihr zwei Fingernägel ab und warmes Blut rann über ihre Fingerkuppen, aber das bemerkte sie nicht. Sie wusste, dass es nicht gut war, während der Wehe die Luft anzuhalten. Das schadete dem Baby, denn genau wie sie würde es auch keine Luft mehr bekommen, wenn sie nicht atmete.
Also zwang sie sich, den Mund zu öffnen und einzuatmen. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, als die Luft erneut ihre Lunge verließ. Abrupt erstarb es. Es war nicht gut, sich über die Schmerzen zu beklagen, das wusste sie. Denn sie war die Auserwählte, und sie sollte es als Geschenk sehen, dieses Kind gebären zu dürfen. Also riss sie sich zusammen.
Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon hier lag, aber sie hatte alles genau vorbereitet.
Der kleine Weidenkorb, in den sie das Kind später legen würde, lag neben den weißen, gestärkten Tüchern und der Thermosflasche mit warmem Wasser. Daneben lagen ein paar saubere, leichte Baumwollhandschuhe. Sie durfte das Kind auf keinen Fall mit bloßen Händen berühren, denn sie würde es nur verunreinigen durch ihre sündigen Hände. Sie war unwürdig, das wusste sie, und trotzdem war sie die Auserwählte. Sie hatte es nicht sofort gewusst, als sie das Kind empfangen hatte an diesem einen kalten Novemberabend vor neuneinhalb Monaten, aber bald danach hatte sie endlich den Sinn erkannt. Ein Engel würde zurückkehren und sie sollte ihn gebären. Gerade sie als Sünderin sollte als Symbol dafür stehen, dass Gott uns jede Schande vergibt, wenn er durch sie einen seiner Heiligen auf Erden wandeln lässt.
Die Wehen kamen jetzt im Minutenabstand, wahrscheinlich würde das Kind bald geboren werden. Sie hatte keinen Arzt besucht, sie vertraute auf den Herrn. Er hatte ihr seine Engel zur Seite gestellt, um sie in der Zeit der Schwangerschaft zu beschützen. Nun war es bald vorbei und sie würde das Kind in seine Hände legen. Denn sie wusste, was sie tun musste.
Sie hatte es gewusst, als sie an diesem Abend unter der Dusche gestanden hatte und versucht hatte, ihre Schande unter dem warmen Wasser fortzuspülen. Körperliches Verlangen war eine Schande und sündhaft. Das hatte ihr die Mutter immer wieder eingebläut. Als sie neun Jahre war, hatte sie Besuch von einem Klassenkameraden bekommen, er hatte sie auf die Wange geküsst, und Mutter hatte es gesehen. Sie musste sich eine halbe Stunde die Wange schrubben und danach siebzehn Rosenkränze beten, um sich von der Sünde reinzuwaschen. Danach durfte sie nie wieder Besuch empfangen. Sie wurde täglich zur Schule gebracht und auch abgeholt. Die anderen Kinder mieden sie, da sie selbst im Sommer hochgeschlossene Kleider trug und in jeder Frühstückspause betete. Bevor ihr Vater starb, kam er oft abends zu ihr ins Bett gekrochen. Er streichelte sie an den schmutzigen Stellen und hielt sie an, bei ihm das gleiche zu tun. Das war für sie ein Gewissenskonflikt, denn einerseits wusste sie, dass dieses Sünde war, andererseits sollte sie Mutter und Vater ehren. Bis Mutter eines Tages hereinkam.
Sie bekam einen hochroten Kopf, dann brüllte sie los.
„Du schlampige kleine Hure, deinen Vater zu verführen, dein eigen Fleisch und Blut! Ich habe es immer gewusst, in dir steckt der Teufel! Ich hätte dich weggeben sollen, direkt nach der Geburt“, dabei schlug sie immer wieder mit der Faust auf sie ein, während ihr Vater nur stumm zusah und sich seine Hosen anzog.
Zwei Wochen später hing er auf dem Dachboden. Mutter gab ihr die Schuld dafür.
Völlig hysterisch hatte sie mit einem Gürtel auf sie eingeschlagen, bis sie bewusstlos wurde. „Ich werde den Teufel schon aus dir herausprügeln“, hatte sie immer wieder geschriene, dabei hatten sich kleine Speichelfäden aus ihrem Mund gelöst und ihr Gesicht benetzt. Am nächsten Tag schickte sie sie ohne ein Wort fort. Ein Wagen fuhr vor, und Mutter schob sie hinein. Niemals würde sie die Kälte vergessen, die dabei in ihrem Blick lag. Die nächsten Jahre lebte sie in einer streng geführten Klosterschule. In den Ferien fuhren alle Mädchen nach Hause, nur sie nicht, denn sie war nicht erwünscht. Und sie war auch froh, nicht nach Hause zu müssen. Zu sehr schämte sie sich für die Schuld, die sie begangen hatte, zu sehr ängstigte sie sich vor dem anklagenden Blick der Mutter. Sie hatte Schande über die Familie gebracht. Aber nun würde alles gut werden. Gott verzieh ihr, und sie würde den Rest ihres Lebens keusch und fromm verbringen. Eine weitere Wehe rollte über sie hinweg und ließ sie fast ohnmächtig werden. Plötzlich spürte sie eine warme Flüssigkeit zwischen ihren Schenkeln hinab laufen.
Das musste die Fruchtblase sein, sie war geplatzt. Ein Buch hatte sie über die wichtigsten Dinge der Schwangerschaft informiert, was sie essen durfte und was nicht, wie lange sie schlafen sollte, welche Kleidung sie tragen durfte und welche Lebensmittel sie verzehren sollte. Sie hielt sich genau an dieses Buch, denn sie wollte dem heiligen Kind kein Haar krümmen. Die unkeuschen Bilder in dem Buch klebte sie mit Papier ab, ohne sie vorher genau zu betrachten. Keine Sünde sollte durch ihre Augen auf das Kind fallen. Sie verließ das Haus nur noch zum Einkaufen und blickte dabei hauptsächlich auf ihre Schuhe. Niemand sprach sie an, niemand rief sie an. Es konnte sie auch niemand anrufen, da sie kein Telefon besaß.
Alle Technik waren Erfindungen des Teufels, die Lebenden zur Sünde zu verführen, hatte ihre Mutter gesagt, und Mutter hatte immer Recht.
Sie hatte ein wertloses Leben abseits der Gesellschaft geführt. Bis heute. Jetzt war sie jemand, endlich erkannte sie den Sinn ihres Daseins.
An jenem Abend, als sie von ihren Gebeten am großen Kreuz im Stadtwald heimkehrte und der Unbekannte sie ins Unterholz gezerrt hatte, fürchtete sie sich vor der Strafe Gottes für die Sünde der unehelichen Fleischeslust, die sie begangen hatte, aber später war ihr klar geworden, dass sie dieses Mal nicht schuld war, sondern auserwählt.
Sie hatte den Mann nicht verführt, ihn nicht mit Blicken oder schwingenden Hüften gereizt.
Nein, sie hatte den Mann ja nicht einmal gesehen, bis er sie grob zu Boden stieß und sein pulsierendes, heißes Gemächt in die stieß.
Er hatte ihr einen Pullover auf das Gesicht gedrückt, sodass sie ihn nicht sehen konnte.
Sie bekam zu wenig Luft, dabei verlor sie irgendwann das Bewusstsein. Als sie wieder erwachte, war er fort, und sie lag allein mit zerrissenen Kleidern auf dem kalten, feuchten Waldboden. Da wusste sie plötzlich, dass sie empfangen hatte.
Später am Abend dachte sie darüber nach, ob sie dieser Akt nicht zumindest kurzzeitig in Verzückung hatte geraten lassen, schämte sich aber sofort für ihre Gedanken und betete zwei Stunden um Vergebung. Niemals hatte sie sich intim berührt. Nur zum Waschen mit einem groben Lappen schrubbte sie die unflätigen Stellen für höchstens drei Sekunden.
Alles, was darüber hinausging war Sünde, für die sie sich irgendwann verantworten hätte müssen.
Aber nun war sie keine Verstoßene mehr. Der Herr hatte sie auserwählt und jemanden geschickt, um sie empfangen zu lassen. Und nun war sie dabei, sein Kind zu gebären.
Sie spürte, wie sich die Wehen veränderten, es schmerze zwar immer noch sehr heftig, aber irgendetwas war anders. Etwas drückte nach unten, wollte hinaus. Instinktiv presste sie die Wehe hindurch. Während der langen Zeit der Schwangerschaft vertrieb sie sich die Zeit mit sticken. Das Ergebnis war eine wunderschöne, weiße Spitzendecke, die genau in den Weidenkorb passte. Natürlich durfte sie diese nicht verwenden, sie wäre zu unrein. Aber sie würde sie aufbewahren. Gut verschlossen in einer Kiste als Erinnerung an die Zeit, als sie dieses Kind austragen durfte.
Sie spürte, dass es soweit war. Der Kopf des Kindes schob sich in ihr Becken und sie holte kurz Luft, um dann das Baby hinauszupressen. Durch die Anstrengung platzten in ihrem Gesicht mehrere kleine Äderchen und ließen sie aussehen wie eine schlecht gewachsene Tomate.
Dann war es da. Mit einem Schwall Blut kämpfte es sich die letzen Zentimeter durch ihren Körper auf die Welt.
Das Kind gab ein leises Seufzen von sich, aber es schrie nicht. Ganz so, als wäre es froh, endlich angekommen zu sein.
Anke schob sich schnell einige Zentimeter zurück, um das Kind nicht aus Versehen zu berühren. Sie bemerkte nicht, wie die Nachgeburt aus ihrem Körper glitt.
Sie betrachtete den kleinen Körper, der da vor ihr auf dem trockenen Waldboden lag.
Er war so perfekt, so wunderschön. Dann wandte sie ihren Blick ab, sie durfte ihn nicht zu lange ansehen. Schnell stopfte sie einige der Handtücher unter ihren Schoß, um das Blut abzufangen, das aus ihr strömte. Obwohl das Kind so lange mit ihrem Körper verbunden gewesen war, zog sie vorsichtig die Baumwollhandschuhe an und nahm die bereitstehende Thermosflasche, um sie zu öffnen. Vorsichtig kippte sie ein wenig warmes Wasser auf eines der sauberen Handtücher und wusch damit sanft das Gesicht des Neugeborenen, der seine Augen weit geöffnet hatte. Mit einer Nagelschere trennte sie das Kind von der Nabelschnur. Es war ein Junge, so wie sie es vorhergesehen hatte. Es war ein warmer Tag, deshalb brauchte sie keine Angst zu haben, dass der Säugling frieren würde. Sie brauchte sowieso kein Unheil zu fürchten, denn Gott würde sein Kind behüten und jemanden schicken, der würdig war und sich seiner annahm.
Vorsichtig hob sie das Kind hoch und legte es in den Weidenkorb. Sie bemühte sich dabei, ihn nicht direkt anzusehen. Sie spürte die Wärme und den Frieden, der von ihm ausging, als sie ihn in ihren Händen hielt.
Schnell stand sie auf und hob den Korb hoch. Schwindel überfiel Anke plötzlich. Sie taumelte einige Meter vorwärts und scheuchte dabei ein Rehkitz auf, das in der Nähe graste, bis sie sich wieder gefangen hatte. Der Weidenkorb in ihren Armen schwankte gefährlich. Sie blieb stehen und umklammerte das Strohgeflecht fest in ihren Händen. Das Kind darin blieb ruhig.
Erleichtert atmete sie aus und bemerkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.
Vorsichtig kletterte sie die letzten Meter der Böschung hinunter zum Fluss, der an dieser Stelle seicht abfiel. Blut strömte an ihren nackten Beinen entlang und färbte ihr weißes Leinenkleid in ein fleckiges Dunkelrot.
Ihre strähnigen, dunkelbraunen Haare fielen einzeln in ihr von Akne vernarbtes Gesicht.
Am Ufer angekommen kniete sie sich zum Wasser hinunter und setzte den Weidenkorb auf das sanft treibende Wasser. Sie warf noch einen letzten Blick auf das rosige Kind. Es war friedlich eingeschlafen. Dann gab sie dem Körbchen einen kleinen Schubs, sodass es auf das offene Wasser trieb. Jemand würde kommen und es holen. Nein, er war bereits unterwegs, ein Mensch ohne Sünde, der dieses kleine Wesen zu sich nehmen würde.
Anke war schwindelig. Sie setzte sich und schaute dem Körbchen hinterher, das leicht wankend auf dem Wasser trieb. Sie wäre niemals in der Lage gewesen, dieses Kind, überhaupt ein Kind großzuziehen. Natürlich war sie voller Liebe, aber wie sollte sie einem Kind den rechten Weg weisen können, wenn sie es nicht mal selbst kannte?
Eine kleine Windböe erfasste ihr Haar und wirbelte es durch ihr Gesicht.
Mit dem blutigen Baumwollhandschuh, den sie noch immer trug, strich sie es zurück, wo es feucht-rot schimmernd an ihrem Kopf zurückblieb.
Doch nicht nur ihr Haar hatte der Wind erfasst, auch das Körbchen auf dem Wasser neigte sich gefährlich zur Seite, bis schließlich Wasser in die Schale drang und den Korb bald zum kentern bringen würde.
Das Baby gab ein lautes Quietschen von sich, als das kalte Wasser seine Haut berührte.
Anke sprang erschrocken auf, der Schwindel ließ sie erneut taumeln.
„Nein…oh nein, nicht doch…“, rief sie und hechtete ins Wasser.
Trotz des warmen Tages war das Wasser kalt, jede Pore ihres Körpers zog sich zusammen und vertrieb so kurzfristig den Schwindel.
Das Körbchen samt mittlerweile kreischendem Baby verschwand unter die Wasseroberfläche. Ein Gurgeln erstickte die letzten Laute des Kindes.
Anke hechtete zu der Stelle, sie konnte noch stehen, aber ihr Kleid, das durch das Wasser sehr schwer geworden war, behinderte sie in ihrer Bewegung. Ihre Hände griffen immer wieder unter Wasser, verzweifelt nach dem Neugeborenen suchend.
Rotz und Tränen liefen ihre Wangen hinunter und fielen wie Regentropfen auf die Wasseroberfläche. Endlich fühlte sie etwas glitschiges, Weiches zwischen ihren Fingern und zog es so schnell wie möglich nach oben.
Es war das Kind. In ihrer Aufregung vergaß sie sämtliche Vorsätze, das Kind nicht anzufassen oder anzusehen und drückte es mit ihren inzwischen nur noch rosafarbenen Handschuhen an ihren Körper. Das Kind war ruhig gewesen, nun schrie es aus Leibeskräften. Der Neugeborenen-Atemreflex hatte dafür gesorgt, dass es kein Wasser eingeatmet hatte.
Aber jetzt war es unterkühlt und hungrig.
Anke griff mit einer Hand nach dem Weidenkorb, der nun halb auf dem Wasser trieb und watete mit dem schreienden Kind aus dem Wasser.
Am Ufer fiel sie mehr, als dass sie sich setzte, das Kind in ihrem Arm schwenkte wie eine Puppe hin und her.
„Oh nein, oh nein“, stöhnte sie und wandte die Augen von dem schreienden Kind.
„Ich habe versagt, ich habe es falsch gemacht. Herr, du hast die Falsche auserwählt“, schluchzte sie und sah in den Himmel. Das Kind in ihren Armen schrie.
Eine schwere Müdigkeit überkam sie trotz der Aufregung. Mit zitternden Händen legte sie das sich windende Kind zurück in den nassen Korb.
„Was habe ich falsch gemacht, habe ich es zu lange angeschaut, es zu lange berührt? Habe ich ihm meine Sünden übertragen, willst du es deshalb nicht?“.
Aber sie bekam keine Antwort, nur ein eine kühle Abendbrise ließ sie zittern.
Das Baby wimmerte inzwischen nur noch und hatte eine bläuliche Farbe angenommen.
Anke war hilflos, sie wusste nicht, was sie nun tun sollte, ihre Augen waren so schwer.
„Ich hätte nicht hinsehen dürfen. Natürlich, das ist es. Ich darf dem Kind nicht nachsehen“, fiel ihr plötzlich ein.
Ohne das Baby noch einmal anzusehen schob sie den Korb zurück auf das Wasser.
„Es tut mir Leid, Herr. Bitte vergib mir meine Schuld und nimm dein Kind in deine schützenden Hände. Liebes Kind, verzeih mir meine Dummheit“, sagte sie zu dem kleinen Wesen, ohne es anzusehen. Dann gab sie dem Körbchen abermals einen Schubs und drehte sich schnell weg.
Ihre Augen flimmerten, als sie sich kriechend zurück zu der spärlichen Baumwolldecke bewegte, auf der sie das Kind geboren hatte. Dabei hinterließ sie eine hellrote Spur auf der braunen Erde und dem grünen Gras. Ihre Brust schmerzte von der überschüssigen Milch.
Erschöpft sackte sie auf ihrem blutigen Platz zusammen und schloss die Augen.
Sie hörte das Kind wimmern, es schien ihr Kilometer entfernt zu sein.
„Bitte Herr, nimm das Ba…“, dann wurde es still um sie.
Das Baby in dem Weidenkorb fror erbärmlich. Einer Ohnmacht nahe lag es apathisch in dem durchweichten Strohgeflecht, aber obwohl das Körbchen bedrohlich schwankte, sank es nicht.
Es roch seine Mutter nicht mehr, aber es war zu schwach, um noch zu schreien. Minuten später eckte das Behältnis an einer Stelle des Ufers an, wo der Fluss schmaler wurde. An einem herausragenden Ast blieb es hängen.
Das Kind öffnete erschöpft die Augen. Und obwohl es nur Schatten wahrnehmen konnte, bemerkte es doch, dass es nicht alleine war. Zwei Hände griffen nach ihm und eine dunkle Stimme sprach: „Endlich mein Junge, ich habe so lange auf dich gewartet“. Und obwohl es die Worte nicht verstand, wusste es, dass es zuhause war.