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Mrs. Pillows Marmeladenglassammlung
Neuer Titel: Ein Hobby mit ungeahnten Folgen
Nachdem das 137. Marmeladenglas auf dem Regal im Flur seinen Platz gefunden hatte, geriet Mr. Henry Pillow in Panik. Ohne ein Wort ergriff er Mantel und Regenschirm und stürmte aus dem Haus. Das feucht kalte Novemberwetter schlug ihm entgegen.
Seit seine Frau ihrem merkwürdigen Hobby nachging hatte Mr. Pillow Alpträume, in denen der Anblick der Gläser ihn erschauern ließ. Jeder Fluchtversuch scheiterte. Die Gläser versperrten ihm den Weg. Sie bauten sich zu unüberwindbaren Mauern auf wenn er versuchte ihnen zu entkommen.
Seine Arbeit in der Bank begann allmählich unter dem häuslichen Drama zu leiden.
Eigentlich hatte alles ganz harmlos angefangen. Im letzten Sommer zog Linda, die einzige Tochter der Pillows aus, um in Frankreich einen Job zu beginnen. Seitdem war sie nicht mehr nach Hause gekommen. Mrs. Pillow hatte das ehemalige Jugendzimmer in ein Gästezimmer verwandelt. In verschiedenen anderen Zimmern wurden Veränderungen vorgenommen, Möbel gerückt, entrümpelt, Wände neu gestrichen, Vorhänge erneuert.
Die Wohnung sah nun völlig anders aus. Auch das Regal im Flur, das bisher eine bunte Ansammlung von Schirmen, Hüten und Taschen beherbergt hatte, bekam einen neuen Anstrich. Wieso ausgerechnet in blass-gelb? Dann füllten die grässlichen Marmeladengläser die Regalböden aus.
Warum hatte seine Frau nicht ein ganz alltägliches Hobby? Seine strapazierten Nerven sehnten sich nach dem Anblick solch harmloser Tätigkeiten wie Stricken oder Gartenarbeit. Könnte Mrs. Pillow nicht wie andere Frauen in ihrem Alter im Kirchenchor singen?
Zermürbt schritt Mr. Pillow unter trüben Gedanken ziellos durch den Stadtpark. Die Spitze seines Regenschirms hinterließ ein regelmäßiges Lochmuster auf den Kieswegen. Er blickte zurück. Der Anblick des Musters auf dem Weg verlieh ihm ein seltsam tröstliches Gefühl. Es brachte Ordnung in seine aufgewühlten Gedanken.
Er brauchte einen Rettungsplan, der genau durchdacht war.
Seine Chance war der Dienstag in vier Tagen. Der allmonatliche Fortbildungsabend für das Krankenhauspersonal. Mrs.Pillows, angestellt als Diätköchin in der Küche der Klinik, war für das Bereitstellen der Snacks zuständig. Für gewöhnlich begannen diese Treffen um 19.00 Uhr und endeten nicht vor 22.00 Uhr. Das war der richtige Zeitpunkt für seinen Zugriff auf die Gläser. Er musste alles genau vorbereiten um treffsicher zuschlagen zu können.
Mit der inneren Vorfreude auf seine künftige Erlösung strebte Mr. Pillow auf das Wohnhaus in der Wednesdaylane zu. Leise betrat er die Wohnung. Er wollte unbedingt vermeiden noch mit seiner Frau zu reden. Was, wenn sie seine Absichten durchschaute? Solcher Sorgen enthoben hörte er erleichtert das Rauschen der Dusche. Er legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und stellte sich schlafend. Die Wärme im Zimmer nach dem Aufenthalt in der unwirtlichen nasskalten Witterung beruhigte ihn. Entspannt von der Aussicht auf ein Ende seiner Not schlief er tatsächlich bald ein.
Der nächste Morgen brachte für ihn zunächst eine neue Erschütterung. Seine Frau erzählte beiläufig, dass sie im Ausverkauf eines Haushaltswarengeschäftes alle Restbestände an Marmeladengläsern reserviert hatte und sie heute abholen würde. Deshalb wollte sie statt des alten Schuhschranks, der neben dem neu gestrichenen blass-gelben Regal stand, ein neues Regal im Flur aufstellen um alles unterbringen zu können. Auf sein heiseres Husten reagierte sie nur mit einem:“Hast du dich an deinem Tee verschluckt Liebling?“ Diese Hohnworte trafen ihn mehr als alles andere. Jetzt verspottete sie ihn auch noch. War es nicht genug ihn mit den Gläsern das Fürchten zu lehren? Musste sie nun auch noch seine Seelenpein ins Lächerliche ziehen?
Der Tag in der Bank verlief ohne größere Störungen. Insgeheim war er dankbar darüber, wie er diese Krise meisterte. Erst auf dem Heimweg machte er sich klar, dass der Nachschub an Gläsern ungebremst über ihn hereinbrechen würde. Immer und immer wieder. Bis er das Problem im Keim ersticken würde. Doch wie sollte er dies bewerkstelligen?
Wie und wo konnte er die Gläser verschwinden lassen, so dass sie keine Gefahr mehr darstellten? Die Uhrzeit für sein Vorhaben am Dienstag war ungünstig. Er könnte von Nachbarn oder Bekannten gesehen werden. Um ein unauffälliges Verhalten an den Tag zu legen, musste er sich dringend eine Tarnung einfallen lassen.
In den folgenden zwei Tagen gab Mr. Pillow vor, im Vorratskeller, wo seine alten Werkzeuge, und aussortierter Kram lagen, aufräumen zu wollen. Statt dessen präparierte er das Fenster, unterhalb des Lüftungsschachtes, das auf den Garten hinter dem Haus hinaus ging. Dort war ebenerdig ein Metallgitter eingelassen. Einmal im Jahr wurde der Schacht von Laub, Spinnen und Dreck gereinigt. Von dort wollte er die Gläser unbemerkt vor den Augen der Nachbarn aus dem Haus schaffen. Hinter der Gartenhecke führte ein schmaler Plattenweg an sämtlichen Gärten der Straße vorbei. Er endete bei den Gebüschen, die den nahen Weiher und das parkähnliche Gelände um den Weiher herum, umgaben. Zu dieser Jahreszeit würden nur wenige Spaziergänger dort abends unterwegs sein. Konnte er die Gläser in einer Schubkarre über den Pfad zu seinem dort geparktem Auto fahren? Der Weg war zu schmal für jedes andere Transportmittel. Im Weiher konnte er die Gläser nicht versenken. Das würde doch auffallen und er wollte um keinen Preis der Welt gezwungen sein, sie öffnen zu müssen, damit das einfließende Wasser sie versenken konnte.
Im Auto müssen Kartons sein fiel ihm ein. Auch Decken und Plastikplanen. Er würde jedes Glas mehrmals in die Hand nehmen müssen. Das war für ihn das Schlimmste an dem ganzen Unternehmen. Wenn die Gläser erst ihr Endlager erreicht haben, dachte er, werde ich wieder in Frieden schlafen können. Allerdings war ihm noch nicht klar, wie er Mildred davon abhalten sollte ihre alten Gläser zurückzufordern oder neue Gläser zu füllen. Er konnte sie ja schlecht an den gleichen Ort verbannen, wo die Gläser ruhen würden.
Inzwischen hatte Mrs Pillow ihre neuen Gläser bereits aufgestellt. Das hinzugekommene Regal leuchtete in einem kräftig roten Anstrich, der das blass-gelb merkwürdig betonte. Ja, das sah frisch und wohnlich aus. Aber die Gläser übten weiterhin ihre Furcht einflößende Wirkung aus. Sogar die noch leeren Gläser im neuen Regal grinsten ihn spöttisch an. Als ob sie sich darauf freuten, ihn mit ihrem zukünftigen Inhalt in seinem eigenen Haus in die Enge zu treiben.
Bis zum Dienstag waren Mr. Pillows Nerven auf das Äußerste angespannt. Ihm unterliefen zahlreiche Fehler bei seiner Arbeit. Er zuckte mehrmals am Tag zusammen, als sich die nächtlichen Alpträume auch in seinen alltäglichen Verrichtungen an ihn heran schlichen. Seinen Kollegen und seiner Frau entging dies nicht.
Es war völlig ausgeschlossen, sich jemandem anzuvertrauen. Er ertappte sich schon dabei, dass er die Nummer der Telefonseelsorge wählte, im letzten Moment jedoch gewann er wieder seine Fassung weil ihm klar war, das er hier allein seinen Mann stehen musste.
Kaum war die Tür am Dienstagabend hinter Mrs. Pillow zugefallen, stand Henry am Fenster.
Er vergewisserte sich, dass Mildred nicht mehr zu sehen war. Beruhigend redete er sich zu: “Henry, alter Knabe, hol die Pappkartons, nimm nur so viele wie du auf einmal tragen kannst, .... halt, hast du den Schubkarren schon vor das Gitter gestellt?.....“ Mit jeder Fuhre wurde er ruhiger. Bald sprach er nicht mehr, sondern konzentrierte sich darauf, so lautlos wie nur möglich zu arbeiten. Das leise Klirren der Gläser begleitete seine Anstrengungen.
„Guten Abend, Mr. Pillow“ knarrte hinter ihm die Stimme seines Nachbarn, der ihm ausgerechnet jetzt mit seinem sandfarbenen Spaniel auf den Plattenwegen überholte. Wie in Trance schaute Henry auf die leere Schubkarre.
Gelassenheit vortäuschend und mit seinem eingeübten, wohlwollend auf Freundlichkeit bedachtem Bankangestelltenblick, fixierte er den rotgesichtigen Pensionär „Mr. Evans, ihre Peggy ist ja seit dem Sommer enorm gewachsen. Und was für ein schönes Fell sie hat! Haben sie ein besonderes Futter für ihren Liebling?“ Evans strahlte vor Zufriedenheit: „Ja wissen sie, die Lady ist nun fast ausgewachsen und was das Futter angeht, ihnen kann ich es ja im Vertrauen sagen, zu jeder Mahlzeit ein Eigelb und ein Löffel Hirsebrei in ihren Napf!“ „Ja, bei ihnen ist Hund zu sein sicher das Paradies auf Erden!“ „Hörst du Peggy, was Mr. Pillow sagt, du bist eine besonders schöne Hundedame...“ Schwerfällig ging der Nachbar seiner Wege, ohne auch nur genauer auf die Schubkarre geachtet zu haben.
Nun begann Henry mit Herzklopfen die letzte Fuhre zum Weiher zu schaffen. Als er erschöpft im Auto saß, trank er einen Schluck Tee aus der Thermoskanne und verbrannte sich dabei den Mund. Der Schmerz ließ ihn zusammen zucken. Er musste noch einmal zurück die Streichhölzer holen. Den Benzinkanister hatte er bereits zugedeckt vor den Beifahrersitz gestellt.
Endlich geht die Fahrt los. Den Ortsrand hat er bald hinter sich gelassen. Am Sportplatz vorbei. Nun umgeben Henry nur noch Wiesen, durchzogen von der einzigen schmalen Straße, die zum Sägewerk führt. Hier kann er die Scheinwerfer noch brennen lassen. Nach der Abbiegung jedoch, die auf halbem Weg zu einer einsamen Villa führt, muss er den Wagen unter einem Baum parken. Er hat sein Ziel fast erreicht. Etwas abseits zwischen dem Sägewerk und der Villa liegt ein verlassenes verwahrlostes Gartengrundstück. Dort steht eine alte Holzhütte, die nur noch über einen Trampelpfad zu erreichen ist.
Je näher er dem Grundstück kommt, desto knapper wird ihm das Atmen. Die diesige Novemberluft riecht erdig und modrig. Dunkelheit umfängt ihn und ein Ring aus Ängsten legt sich um sein Herz.
„Du gibst jetzt nicht auf, Henry!“ befiehlt er sich. Doch seine Kraft scheint wie eine hoch verdünnte hömopathische Arznei durch seine Glieder zu rinnen, um sich irgendwo in seinen Nervenendungen zu verlieren.
Mühsam wuchtet er die Schubkarre aus dem Auto und stellt den ersten Karton mit Gläsern darauf. Ohne das Licht der Taschenlampe, die mit Klebeband an seiner Wollmütze fixiert ist, wäre er gestürzt. Er zwingt sich dazu, sich auf seinen Plan zu konzentrieren. Nach scheinbar endlosen Fuhren hat er alle Kartons in das alte einsam gelegene Gartenhaus gebracht.
Damit sie wirklich zerstört werden können, muss er die Gläser wieder auspacken und zwischen zusammen geknülltem Zeitungspapier aufstellen.
Endlich. Henry hat es geschafft. Obwohl er den Inhalt der Gläser nicht hatte ansehen wollen, verharrt er nun reglos und jedes einzelne scheint ihn mit seinen durchsichtigen Wänden einen Spiegel seiner eigenen Abgeschlossenheit entgegen zu halten.
Die Gläser sind seine Feinde, sie martern ihn mit ihren stummen Blicken.
Stille umgibt ihn.
Plötzlich schreit er so laut er kann: „Warum bedroht ihr mich? Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?“ Schluchzend tritt er mit den Füßen nach den Gläsern. Einige zerbrechen. So plötzlich wie der Sturm in seinem Inneren losgebrochen war, so plötzlich lindert sein Aufschrei seine Qual. Er weint. Die Tränen lindern seine Angst.
Eine neue Erkenntnis wächst in ihm und füllt sein Denken völlig aus. Diese Gläser geben ihm seine Würde zurück. „Nimm das Benzin, steck' uns in Brand!“ beschwören sie ihn.
Wie kann das sein? Warum wehren sie sich nicht? Warum fordern sie ihn zu der Zerstörung heraus? Eben noch waren sie seine Feinde gewesen. Eben glaubte er zu wissen, dass sie ihn hassten. Aber statt dessen flüstern sie ihm nun beruhigende mütterliche Trostworte zu. „Es wird alles gut, ...du bist nicht allein....wein doch nicht,...“
Er greift hinein in eines der zerbrochenen Gläser und zieht vorsichtig den Inhalt heraus. Sein Ekel ist verschwunden. Und auch die Angst. Statt dessen schwimmen Erinnerungen an die Oberfläche seiner Wahrnehmung.
Den Fund an seine Brust pressend, schaut Henry sich in der halb verfallenen Hütte um. Langsam geht er hinaus in die Herbstnacht. Die Tür steht offen, er dreht sich um und schließt sie behutsam. Dann geht er zurück zu seinem Auto.
Bevor Henry den Wagen startet, kommt die Erinnerung, die er lange in sich selbst verschlossen hatte zurück.
Vor seinem geistigen Auge erstehen die Bilder aus der Nacht vor so vielen Jahren.
Er sieht den frierenden 11jährigen Jungen an den Baum vor der Holzhütte gefesselt. Es ist das inzwischen verwaiste alte Gartengrundstück, zu dem er heute aufgebrochen ist.
Trüb-kalte Dämmerung verleiht der ganzen Szene eine unheilvolle Schwere. Wieder hört er das Gelächter der beiden Schulkameraden. Sie verhöhnen Henry: „Unser Muttersöhnchen trägt ein Babybild von sich und seiner Mutter bei sich! Ach wie niedlich! Ist er nicht süß? Mamas ganzer Stolz!“ Max wedelt mit dem zerknitterten Foto vor seiner Nase herum. „Gib es mir wieder!“ fleht Henry. „Nur wenn du bitte, bitte sagst!“ meckert Max. Kevin hat allmählich keine Lust mehr auf dieses Spiel. „Komm, lass uns jetzt gehen. Ich will nach hause!“ „Wir sind noch nicht mit dem Bürschchen fertig.“ Betont langsam zieht er eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Hose. Er legt die zerknüllte Fotografie dicht vor Henry auf die Erde. In seinen Augen flackert die diebische Freude, Henry weinen zu sehen. Als das Foto brennt, breitet sich in Henry eine tiefe Einsamkeit und Kälte aus.
Er starrt noch auf den verglimmenden Aschehaufen als seine beiden Peiniger längst verschwunden sind.
Erst am nächsten Morgen fand die alte Mrs. Fuller ihn an den Baum gefesselt, in ihrem Garten. Durchfroren und entkräftet war er. Aber er verlor kein Wort über die Ereignisse in jener Nacht. Die halbseitige Lungenentzündung und das hohe Fieber ersparten ihm jede Frage von Seiten der Eltern. Völlig aufgelöst hatten sie entdeckt, dass er in dieser Nacht nicht in seinem Bett gelegen hatte.
Das alles taucht jetzt aus Henrys Seele auf. Er weint. Die Tränen waschen die Schmerzen von damals aus seiner Seele heraus. Ihm ist kalt und heiß zugleich. Zurück bleibt Erleichterung. Endlich ist er frei.
Inzwischen ist es spät geworden. Hier gibt es nichts mehr für ihn zu tun. Nun will er nur noch nach Hause.
Mildred steht im Flur, das Telefon in der Hand. „Ja, Mum, alle meine Fotografien in den Marmeladenglasbilderrahmen sind verschwunden. Nur die Zettel mit den erfundenen Namen und Altersangaben liegen noch hier. Welcher Einbrecher klaut schon Schnappschüsse aus der Einkaufsstraße und aus dem Stadtpark? Und Henry ist auch nirgends zu sehen. Er wollte den Keller aufräumen aber dort ist noch immer...“
Mitten im Satz verstummt sie. In der Tür steht ihr Mann. „Mum, Henry ist gerade gekommen, ich ruf dich morgen nochmal an. Ja, gute Nacht, ja, ich verriegel' auch die Hintertür,.. ja dir auch... reg dich nicht auf. Gute Nacht!“ Sie legt den Hörer auf und schaut besorgt auf : „Wo warst du nur? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Hast du eine Ahnung was mit meiner Fotogalerie passiert ist?“
Henry streckt ihr das Foto, das er in der Hand hält entgegen. Es zeigt eine Mutter mit einem Kleinkind in einem Kinderwagen. „Komm bitte mit ins Wohnzimmer.“ drängt er sie. „Ich möchte dir etwas erzählen.“