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Muh!
"Hab ich irgend etwas verpasst?" fragte Jürgen, als er die Kommandobrücke der Starlight betrat. Er war gerade dabei, den Reißverschluss seiner Hose zuzumachen, was sich als etwas schwierig gestaltete.
"Warum wackelt das Schiff so?" fragte er.
Und tatsächlich wurde die kleine Starlight etwas wild hin und her geschüttelt – die Starlight, das schnellste, kleinste und wendigste Schiff der Flotte. Die Außenhülle war aus einer speziellen, extrem hitzestabilen Legierung aus Kunststoffpolymeren hergestellt (nicht, weil das irgendeinen Sinn machte, sondern einfach deshalb, weil dem Konstrukteur der Starlight das Wort so gut gefallen hatte). Das kleine Raumschiff beherbergte die neuesten, kleinsten und modernsten Computer, eine eigene Biosphäre, einen eigenen kleinen Fusionsreaktor, einen Fitnessraum (der von zehn Personen gleichzeitig genutzt werden konnte, was nie, wirklich nie vorkam), eine Milchbar und eine Holosimulationsstation, die so neu und modern war, das selbst der Kommandant des Schiffes keine Ahnung hatte, wie sie eigentlich funktionierte. Es war ein Schiff, das nur aus technischen Finessen und Spielereien zu bestehen schien. Kein Wunder also, dass es die Form eines gigantischen Phallus hatte - und sich wie eine überdimensionale, silbern glitzernde Zigarre durch den Weltraum schraubte.
Gerade eben, als Jürgen mit dem Verschließen seiner Raumuniform beschäftigt gewesen war, bewegte sich das Raumschiff nicht - jedenfalls nicht vorwärts, sondern es wurde nur ungemütlich hin und her geschüttelt, während es sich in der Umlaufbahn der Erde befand.
An dem großen Schaufenster der Brücke standen der Kommandant und der erste und einzige Offizier des Schiffes. Der Nachteil an der Starlight war nämlich, dass es so vollgepackt mit allen möglichen Dingen war, dass sie nur Platz für eine dreiköpfige Crew bot (was auch der Grund dafür war, dass der Fitnessraum nie ausgelastet war; nicht dass dies bei einer zehnköpfigen Crew anders gewesen wäre...).
Jürgen stellte sich neben den Kommandanten an das große Fenster und betrachtete die Erde, seine Erde, die nun gar nicht mehr so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte.
"Sieht komisch aus", meinte Jürgen. Er war nicht für seine Feinfühligkeit bekannt.
Der Kommandant schüttelte traurig den Kopf und war unfähig zu antworten. Er senkte den Blick, weil er es nicht mehr ertragen konnte, dem Planteten beim Sterben zuzusehen. Es war auch beileibe kein schöner Anblick. Explosionen um Explosionen erschütterten die Erdoberfläche, die einst so wunderbar blauen Meere waren verschwunden, auf dem Festland wüteten Feuer und Stürme.
"Wo sind die Wolken?" fragte Jürgen.
"Die Atmosphäre wurde annihiliert", erklärte der erste (und einzige) Offizier. Jürgen warf ihr einen kurzen Blick zu und nickte mit offenem Mund. Der erste Offizier war eine Frau. Und sie trug eine ziemlich enge Uniform. Jürgen war schon längere Zeit der festen Überzeugung, dass der erste Offizier, übrigens Lisa mit Vornamen, seinem nicht unbedeutenden Scharm (Jürgen meinte selbstverständlich Charme, hatte aber schon immer eine Rechtschreibschwäche gehabt, vor allem bei zwei- oder mehrsilbigen Wörtern) erlegen war.
"Aha", sagte Jürgen, und versuchte dabei möglichst intelligent zu klingen. Was ihm etwa so gut gelang wie einem Kaninchen das Bellen. (Natürlich gab es einmal, vor ungefähr zehn Jahren, Bello, das bellende Kaninchen, das in einem Wanderzirkus auftrat. Es wurde nie wirklich bekannt und schließlich weiß man nicht, was aus ihm geworden ist. Nach seinem dritten Entzug landete er bei einem Psychiater, der ihm einreden wollte, Bello sei in Wirklichkeit ein Panther. Bello ging darauf in den Dschungel, wo er ein Menschenkind adoptierte, das Angst vor Tigern hatte. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört.)
"Aha", sagte Jürgen noch einmal, um die Leser, die diesen langen Exkurs durchgehalten hatten, wieder zurück in die Geschichte zu führen.
Sie schwiegen eine Weile.
"Wer sind Sie überhaupt?" fragte schließlich der Kommandant, an Jürgen gewandt. Auch Lisa blickte nun neugierig.
"Wären Sie so freundlich, meine Frage zu beantworten?" fragte er Kommandant, nun in etwas schärferen Ton.
Jürgen stand stramm. "Ich bin der Schiffsjunge", erklärte er.
"Der Schiffsjunge?" echote der Kommandant verwundert. "Wo waren Sie die ganze Zeit über? Hier war die Hölle los." Er fuhr sich fahrig über den Kopf. Seine Augen quollen wütend hervor und seine Nüstern blähten sich aggressiv. "Das ist kein Spaß! Sehen Sie mal aus dem Fenster! Das war die Ende! Wir sind die letzten Überlebenden. Die letzten Überlebenden!" Er sah Jürgen an. "Verstehen Sie, was ich sage?"
Jürgen zog eine seiner Augenbrauen hoch. "Alles bis auf den letzten Teil", sagte er.
Der Kommandant schwieg, sein Unterkiefer zitterte vor Entsetzen und Wut.
"Kommandant", mahnte Lisa streng.
Der Kommandant schloss die Augen und atmete mehrmals tief und wieder aus. Schließlich hatte er sich beruhigt. "Alles gut", sagte er. "Konzentrieren wir uns." Er sah Lisa an, die ihm aufmunternd zunickte.
"Also, irgendwelche Vorschläge?" wollte der Kommandant wissen.
Lisa nickte und machte sich daran, flink auf die Tastatur zu tippen. "Es gibt da einen zweiten Planeten in diesem Sonnensystem. Die Atmosphäre ist atembar, zu 20 Prozent Sauerstoff, ein wenig viel Stickstoff für meinen Geschmack, aber es wird sich aushalten lassen. Falls es noch mehr Überlebende gibt, werden sie auch auf diesen Planten flüchten."
Der Kommandant nickte fest. "Dann bringen Sie uns dorthin, Nummer Eins." (Das hatte er schon immer sagen wollen.)
"Na ja, die Landung war ja nicht so perfekt", meinte Jürgen und musterte den Kommandanten abschätzend. Dieser knirschte so laut mit den Zähnen, dass sein lautes Knurren beinahe darin unterging.
Lisa ging schlichtend dazwischen. Das Letzte, was sie sich nun erlauben konnten, war ein Streit. Sie waren - wie es aussah - die letzten Überlebenden der Erde, gestrandet auf einem bisher unerforschtem Planeten, der sehr primitiv war.
"Wollen wir uns draußen umsehen?" schlug sie vor.
Der Kommandant nickte.
Jürgen warf Lisa einen vielsagenden Blick zu, zumindest meinte er, das zu tun. Bei Lisa kam nur eine äußerst merkwürdige Grimasse an, die sie mit einem verstörten Blick erwiderte, den Jürgen wiederum als Anmache missverstand. Als er seine Zunge auf erotische Art und Weise herausstrecken wollte, hatte sich Lisa leider schon umgedreht.
Sie fuhren die Laderampe aus und traten ins Freie.
Der Kommandant blinzelte in die Sonne.
"Hier ist es etwas warm", meinte er nur, womit er Recht hatte. Er war immer schon ein Mann gewesen, der Dinge treffend beschrieb.
Als die Nacht hereinbrach, wurde es allerdings dann doch wieder kälter. Sie hatten ein kleines Feuer gemacht und waren ziemlich schweigsam. Sie saßen in einem kleinen Kreis um die tanzenden Flammen.
"Unsere ganze Technologie", murmelte der Kommandant. "All unser Wissen, die Kunst, alle meine Verwandten, meine Freunde. Sie sind alle tot."
„Und es ist unsere eigene Schuld“, warf Lisa kopfschüttelnd ein. "Durch unsere Arroganz, unseren Drang, immer ganz hoch hinaus zu wollen. Das war unser Untergang."
Jürgen verstand nicht recht, was sie damit meinte. Er hatte nie hoch hinausgewollt. Er hatte auch immer eine Wohnung im Erdgeschoss gehabt.
"Und dieser Hass unter den Leuten", sagte der Kommandant traurig.
Jürgen kratze sich an der Backe und kaute wieder an seinem Essen. Irgendwie war er nicht traurig. Ihm gefiel es hier. Gut, es war nicht so aufwendig und so bequem wie in seiner alten Welt, auf der Erde, aber auch nicht so kompliziert.
Jürgen grinste. Nun, da er mit Lisa und dem Kommandanten alleine war, waren auch seine Chancen bei der Frauenwelt gestiegen. Von null auf immerhin fünfzig Prozent. Und der Kommandant schien keine echte Bedrohung zu sein. Lisa stand nicht auf den Siegertypen, da war sich Jürgen sicher. Sie bevorzugte den kleinen haarigen, gemütlichen Loser, so wie er einer war. (Jürgens Talent in Bezug auf seine Selbsteinschätzung war eigentlich ziemlich bemerkenswert.)
"Ähh", sagte Jürgen und gestikulierte wild. "Sie haben da was am Kopf."
Der Kommandant sah Jürgen etwas verwirrt an, befühlte aber dann seinen Kopf. "Wo?"
"Da!"
"Hier?"
"Nein, weiter links, ähh, ... rechts meine ich, ... rechts! Nein, nicht da, noch ein bisschen zurück, ja genau!"
"Das ist sein Ohr", sagte Lisa.
"Oh."
Lisa starrte ihn ungläubig an.
Sie betrachtete Jürgen nun schon seit einer geraumen Weile. Und sie fragte sich warum Gott von allen bekannten Lebewesen, die diese Katastrophe überlebt hatten (und das waren ja nach bisher bekannten, zugegebenermaßen sehr groben Schätzungen nur drei) ausgerechnet Jürgen ausgewählt hatte, ein Mann, für den die Bezeichnung Idiot neu definiert werden musste. Sie überlegte sogar so weit, dass Gott dies unmöglich zulassen hätte können oder wollen und dass deshalb die Tatsache, dass Jürgen noch am Leben war, so etwas wie der Beweis dafür war, dass Gott nicht existierte. Ja, Jürgen war der negative Gottesbeweis.
Plötzlich deutete Jürgen nach hinten und lenkte Lisa von ihren philosophischen Gedanken ab.
"Da hinten", sagte er, "ist ein Tier."
Der Kommandant und Lisa drehten sich um. In der Ferne, in der Dunkelheit jenseits der Flammen, war tatsächlich ein kleines Wesen zu erkennen. Es betrachtete die Neuankömmlinge neugierig und sprang hin und wieder auf und ab, merkwürdige Läute ausstoßend.
"Uh, Uh, Uh!"
Der Kommandant erhob sich und musterte es genauer mit zusammengekniffenen Augen. "Es sieht harmlos aus", sagte er.
"Uh! Uh!"
"Und es ist völlig nackt", sagte Lisa.
"Ja", grinste Jürgen. "Auch ich kann seinen Pimmel sehen!"
"Uh! Uuuh!"
"Wir sollten uns ihm vorstellen", sagte der Kommandant. Er ging langsam näher, hob einen Arm zum Willkommensgruß.
Er trat nahe an das Wesen heran, dass ihn neugierig aus wachen Augen anstarrte.
"Wir kommen in Fried...", begann der Kommandant.
Dann schlug das nackte Wesen mit einer Keule dem Kommandanten so hart auf den Kopf, dass dieser augenblicklich tot war.
"Uh!"
***
Gnurr war ziemlich zufrieden. Er hatte Beute gemacht. Große Beute.
Er grinste hämisch und sagte: "Uh, Uh, Uuuh!"
Er hatte ein großes Tier erlegt und zwei weitere gefangengenommen. Die beiden schienen sich ganz gut zu verstehen und Gnurr überlegte, ob er diese merkwürdigen Tiere vielleicht züchten sollte. (Nicht, weil er einen Nutzen darin sah, die Viehzucht war lediglich eines seiner vielen Hobbys. Neben Steine mit der Keule zerschlagen und senilem Starren in stille Gewässer, eine Art prähistorisches Fernsehen.)
Dann wurde er abgelenkt. Am Himmel ereignete sich ein herrliches Naturschauspiel. Ein kleiner roter Fleck leuchtete hell und strahlend. Sofort schwellte Gnurr die Brust. Der Kriegsgott lobte ihn für seine Heldentat.
Gnurr war übrigens ein homo erectus, einer der ersten überhaupt, was auch erklärte, warum er so schmutzig war und so gebückt herumstiefelte, in einer Zeit, lange bevor die Stiefel und somit das "herumstiefeln" erfunden wurde.
Als Gnurr (oder auch Knorr, Knurr oder Gnorr, wie er auch manchmal genannt wurde, damals war die Schriftsprache noch nicht erfunden und die Menschen nuschelten ziemlich) die beiden Tiere hinter sich herzog, waren sie etwas bockig und sträubten sich.
"Muh!" rief eines. "Muuh! Muuh!" Das andere hingegen grinste nur immer grenzdebil.
Gnorr wurde zornig und murmelte: "Blöde Kühe!"
Und ohne es zu wissen hatte sich Knorr – als erster Mensch auf der Welt überhaupt – gerade richtig artikuliert.