Mullins letzter Auftrag
Mullins letzter Auftrag
Mullins schmächtiger Körper baumelte über dem Abgrund. Die Finger seiner linken Hand krallten sich in den porösen Beton der Dachkante. Mit der Rechten umklammerte er die straff gespannte Kordel eines schwarzen Stoffbeutels.
Er schielte schmerzverzerrt nach unten. Fahrzeuge in Spielzeuggröße krochen hupend vorbei. Der Regen lief ihm vom glattrasierten Schädel auf den Overall, der bereits völlig durchnässt war. Es kam ihm so vor, als ob die vollgesogene Kleidung ihn in die Tiefe zöge. Mit verzerrtem Gesicht und tastenden Beinen suchte er an der glatten Fassade nach Halt. Er fluchte, als er merkte, dass seine linke Hand ihn nicht mehr lange halten konnte. Die regennasse Kordel des schweren Beutels rutschte ihm langsam aus der anderen Hand.
„Nein, Neiiiinnn, Neiiiinnnn!“ Mullins heulte und dachte, wie gut es bisher war. Bis zum heutigen Tag.
Mullins wollte nichts von dem Job hören, als sein Kontaktmann ihn anrief. Nach 30 Jahren mit Klettereien, Einbrüchen und Diebstählen hatte er vor kurzem damit endgültig aufgehört. Ein Konto auf den Bahamas und ein kaputter Körper waren der Lohn für die ganzen Jahre. Außerdem war sein Flug auf die sonnige Trauminsel bereits fest gebucht.
Der Job war jedoch einfach verlockend. 1 Million Dollar in Bar für den letzten Auftrag. Ein relativ einfacher, wie es schien. Noch ein Ding drehen und er könnte die Puppen für den Rest seiner Tage tanzen lassen.
Mullins hatte sich den Einstieg in das Penthouse von Don „Lucky“ Spitano, dem bekannten New Yorker Mafioso und Kunstliebhaber, schwieriger vorgestellt.
Wie mit seinem Kontaktmann verabredet, stand der Hauseingang des Nebengebäudes offen. Mullins drückte sich vorsichtig durch den Eingang und roch den säuerlichen Kohlgeruch, der das spärlich erleuchtete Treppenhaus durchzog. Er ging am altersschwachen Fahrstuhl vorbei und schlich über die mit Unrat übersäten Treppen zur Dachtür hoch. Er hatte Glück! Um diese Uhrzeit begegnete er keinem mehr im schäbigen Flur.
Auf dem Dach sah er sich prüfend um. Hinter einem alten Ölfass entdeckte er endlich das Seil, welches wie eine schlafende Kobra zusammengerollt, auf ihn wartete. Um zu Spitano´s gegenüberliegendem Apartment zu gelangen, musste er nur noch wie eine Spinne über das von ihm ausgeworfene Seil hangeln.
Wie von einem glühenden Messer gestochen, durchzuckte ihn ein wahnsinniger Schmerz im rechten Knie, als er sich auf Don Luckys Balkon gleiten ließ.
Er biss sich auf die trocken gewordenen Lippen und bemerkte einen metallischen Geschmack im Mund. Nervös leckte er sich über die blutenden Lippen und besah sich die Balkontür.
Sein Kontaktmann hatte Recht: Die Balkontür war nicht verschlossen und kein Anzeichen einer Alarmanlage. „Ein Kinderspiel, über das Dach und den Balkon einzusteigen“, ging es ihm durch den Kopf.
Er wischte sich mit der Hand die schweissnasse Stirn ab und betrat gebückt den Raum durch die aufgeschobene Balkontür.
Als er sich umschaute, knackten ein paar Nackenwirbel unangenehm verräterisch. Das einfallende Mondlicht fiel auf einige Skulpturen und Büsten, von denen so manches Museum nur träumen konnte.
„Als ob Spitano die mit seinem Blick versteinert hätte“, brummte Mullins und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Raum wandern.
Im Schatten einer nackten Frauenstatur blitzte plötzlich ein kleiner Bronzekopf auf. Mullins riss die Augen auf und pfiff still vor sich hin, als er die detailreiche Nacktheit der Statur betrachtete während er sich geschmeidig auf den Bronzekopf zu bewegte. Leicht rutschend erreichte er den Kopf, der auf einer Säule ruhte. Bohnerwachsgeruch kitzelte ihn in der Nase und löste einen Hustenreiz aus. Er hielt sich schnell die Hand vor den Mund und würgte den Reiz wie einen zu heißen Cheeseburger hinunter. Mullins hob den schweren Kopf vorsichtig vom Sockel und steckte ihn behutsam in einen schwarzen Stoffbeutel.
In diesem Moment flutete überraschend das Neonlicht der Deckenstrahler auf und eine helle Fistelstimme ertönte durch den Raum.
„Ich habe einen leichten Schlaf, Mister.“
Mullins wirbelte herum. Halb geblendet kniff er die Augen zusammen und sah, wie Don „Lucky“ Spitano in der Tür stand. Sein fetter Körper wurde von einem todschicken Morgenmantel aus rot-gelber Seide verhüllt. Seine Füße steckten in kleinen roten Pantoffeln, an denen das nackte rosa Fleisch hervorquoll. Wasserhelle Augen, die ihn an einen Frosch erinnerten, fixierten ihn aus einem aufgequollenen Gesicht. „So fühlt sich wohl das Kaninchen vor der Schlange“, dachte Mullins, der sich in Anbetracht des Gegenstandes in der Hand vom Don nicht weiter rührte.
Spitano zeigte lässig mit einer kleinen, schwarzen Pistole, die in seiner Riesenfaust wie ein Spielzeug ruhte, auf den leeren Sockel.
„So, so, Du wolltest mir also gerade den Kopf da wegnehmen. Das Stück hätte mich fast fünf Millionen Dollar auf dem Schwarzmarkt gekostet. Na ja, ist ungefähr so hierhin gekommen, wie Du es wegholen wolltest.“ Spitano kicherte. „Das Ding ist fast unbezahlbar. So wie die ´Nackte` dahinter.“
Er strich sich mit der linken Hand die wenigen grauen Haare glatt und schien zu überlegen.
„Übrigens hat der Sockel seit heute Früh einen Kontakt, der Alarm auslöst wenn...“ Sein Blick wanderte von Mullins auf den Beutel. Mullins schluckte.
„Vielleicht könnten wir uns ja einigen. Ich meine,“ sagte er mit zittriger Stimme, „ich stelle Ihnen den Kopf wieder hin und wir vergessen, das ich jemals hier war.“
Mullins schwenkte den Beutel über das Podest auf dem der Kopf kurz zuvor noch gestanden hatte.
„Vielleicht bringe ich Dich um“, sagte Spitano kalt, während er sich gedankenverloren mit der Pistole an seinem unrasierten Kinn kratzte.
Unterwürfig und bettelnd blickte Mullins auf den Don.
„Nein, bitte. Kommen Sie. Sie haben doch nichts verloren. Geben Sie mir doch ne Chance.“ Zerknirscht räumte er ein: „Ich hätte ja den verdammten Job nicht annehmen dürfen.“
Der Don hob sein Kinn und fixierte abwechseln den Stoffbeutel und den Eindringling.
„Für wen arbeitest Du, Mann. Los, komm schon. Spuck´s aus. Vielleicht überlege ich es mir noch mal. Wer hat Dich geschickt? Na los, sag schon. Dicky Corlino vielleicht?“
Spitano kratzte sich wieder mit der Pistole an seinen eckig wirkenden Schädel..
Mullins hatte auf so einen Augenblick gewartet und schlug unerwartet den Beutel hart gegen den Unterschenkel der nackten Figur. Feine Risse bildeten sich im schlanken Fuß, die rasch größer wurden. Beide vernahmen ein unheilvolles, verdächtiges Ächzen und Knirschen.
„Nein. Nein. Was haben Sie gemacht?“, schrie Spitano und setzt seinen massigen Körper in Bewegung. Als Mullins Spitano angerannt kommen sah, hatte er das Gefühl, gleich von einem Lastwagen überrollt zu werden.
Doch Don „Lucky“ rutschte kurz vor der umfallenden Marmorfigur auf dem gebohnerten Boden aus.
„Arrrrrghhh.“ Seine helle Stimme schrie angstverzerrt auf, als die schwere Figur mit einem steinernen Lächeln auf ihn fiel.
Erstarrt betrachtete Mullins den toten Don eine Ewigkeit, bis er von nebenan laute Stimmen vernahm. Die Leibwächter mussten in diesem Moment das Vorzimmer betreten haben. Aus der Erstarrung erwachend und mit dem Beutel in der Hand schlitterte er zum Balkon zurück. Von dort kletterte er wie ein Wiesel auf das Dach hoch. „Keine Zeit für das Seil“, dachte er verbittert und sprintete im zunehmenden Regen auf die Dachkante zu. Beim Absprung knackte es im rechten Knie wie ein dürrer Ast und er wusste, mit roten Schleiern vor den Augen, dass er es nicht ganz schaffen würde.
Mit der linken Hand sich und mit der rechten Hand den Beutel festhaltend traf Mullins seine Entscheidung. Einen Lidschlag später huschte ein schwaches Lächeln über sein nasses Gesicht.
Mullins ließ los.