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Nächster Halt Ceuta
Mit halbem Interesse liest er die Schlagzeile in der Tageszeitung, die er abonniert hat: ‚Wieder Flüchtlingsstrom aus Marokko nach Spanien’.
Weitaus mehr Interesse weckt in ihm hingegen das Essen, das ihm gerade von seinem Lieblingskellner in seinem Lieblingsrestaurant serviert wird.
„Einmal die 17: Bratkartoffeln mit Speck.“
„Ach ja, die gute Pasta kann ich mir halt nicht mehr leisten, Antonio.“ Antonio, der ihm in all den Jahren ein wenig ans Herz gewachsen ist, wirft ihm ein nett gemeintes Lächeln zu, als er kopfschüttelnd hinzufügt: „Schlecht geht es uns, schlecht geht es dem Land.“
„Wem sagst du das?“, ruft ihm Antonio, auf halbem Weg in die Küche, zu.
Er ging jede Mittagspause in dieses Restaurant und ein wenig verärgert ist er schon, dass Antonio seine neue Uhr offensichtlich übersehen hat. Keine einzige Bemerkung, obwohl die Ärmel seines Hemdes sogar hochgekrempelt waren. Es war zwar nicht die teure Uhr, die er im Geschäft stundenland bewundert hat, welche sich allerdings letzendlich als zu teuer entpuppte. Aber ein paar seiner Kollegen konnte er mit dieser trotzdem beeindrucken.
Im Büro gibt es zur Zeit viel zu tun. Umso mehr ärgert er sich über das Projekt, das ihm sein Chef aufgedrückt hat. ‚Projekt zur Unterstützung von Schulen in Entwicklungländern’, liest er auf der Arbeitsmappe, während er sich langsam die Bratkartoffeln in den Mund schiebt. Nach kurzem Durchblättern der Projektmappe schlägt er diese wieder zu und schaut aus dem Fenster.
Da erblickt er diesen kleinen, schwarzen Jungen. Am Fenster stehend starrt er auf seine neue Uhr.
Er isst weiter. Doch immer wieder schaut er zu dem Jungen hinüber, der wie festgefroren immer an dieselbe Stelle starrt.
Eine Erinnerung:
Er saß in einem Restaurant an der Südküste Andalusiens. Sommer, Sonne, Sonnenschein. Das Essen war köstlich, die Sicht fantastisch; man konnte sogar fast über das gesamte Mittelmeer hinüberschauen.
Auch damals stand ein kleiner, pechschwarzer Junge vor dem Restaurant und starrte auf seine Uhr. Jenes unbehagliche Gefühl, das er jedesmal empfand, wenn sein Chef ihm bei seiner Arbeit über die Schulter schaute, überkam ihn, als der Junge einfach nicht wegschauen wollte. Auf sein Essen konnte er sich schon längst nichtmehr konzentrieren, stattdessen musste er immer wieder zu dem Jungen hinüberschielen.
Als er das Restaurant verließ, saß der Junge neben dem Eingang. Er schaute dem Jungen direkt ins Gesicht. Doch sein Blick wurde nicht erwidert. Und dann ging alles ganz schnell.
Auf einmal spürte er ein warmes, drückendes Gefühl in seiner linken Brust, und wie von einer magischen Hand geleitet, nahm er seine Uhr ab, lief geradewegs auf den Jungen zu. (Irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, es ginge ihm besser, sobald er dem Jungen die Uhr gegeben hätte.)
Als er den Jungen erreichte, kniete er sich zu ihm hinunter, um mit ihm auf gleicher Höhe zu sein. Und ohne auch nur ein Wort auszusprechen, drückte er dem Jungen die Uhr in die Hand.
Der Junge starrte auf die Uhr. Er beobachtete gebannt, wie der Zeiger von Sekunde zu Sekunde weitersprang. Zehn Sekunden vergingen. Es herrschte ein unheimliches Schweigen zwischen den beiden. Zwanzig. Noch immer hatte keiner der beiden ein Wort ausgesprochen; der Junge starrte auf die Uhr und er auf den Jungen. Dreißig Sekunden.
Es sollte der Junge sein, der das Schweigen brach. Er kann sich nicht erinnern, was ihn mehr überraschte; der seltsame Akzent des Jungen, den er nicht einzuordnen vermochte, (zumal er selber nicht besonders gut Spanisch sprach) oder die Frage an sich, die er stellte:
„Was ist das?“, fragt er.
„Das ist eine Uhr, Junge. Du kannst die Zeit an ihr ablesen.“, erwiderte er.
Das Gesicht, das der Junge dann verzog, sollte ihm genau in Erinnerung bleiben. Er schaute etwa so, wie sein Sohn, wenn dieser gerade seine viel zu schweren Mathe-Aufgaben versuchte zu lösen.
„Was ist Zeit?“, hakte der Junge weiter nach. Diese Frage überraschte ihn noch mehr, als die erste.
„Zeit braucht jeder Mensch, die meisten haben zu wenig davon.“ Besonders glücklich wurde er mit diese Erklärung nie.
„Also kann man Zeit essen?“, fragte der Junge letzendlich. Und er war so verwirrt, dass er einfach wegging.
Als er das Restaurant verlässt, sitzt der Junge neben dem Eingang. Als er ihn anschaut, wird sein Blick nicht erwidert. Wieder dieses drückende Gefühl. Er geht langsam auf den Jungen zu. Und dann geht alles ganz schnell. Auf halber Strecke kommt auf einmal eine schwarze Frau und hebt den Jungen in einen Kinderwagen.
Sie fährt davon.
Das Gefühl verschwindet von ganz alleine.
Er wird nachdenklich. Und als er erneut auf den Zeitungsartikel schaut, wird ihm auf einmal klar, dass es damals nicht die Uhr war, auf die der Junge gestarrt hat.