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Nächtliche Begegnungen
„Komm’ gut nach Hause“, rief mir Günter über die Straße zu, während wir in unsere Autos einstiegen. „Das hoff’ ich doch“, erwiderte ich mit einem Grinsen und gleichzeitig kramte ich in meiner Jackentasche nach dem prophylaktischen Anti-Bierfahne-Kaugummi. Als ich die letzten Häuser der Ortschaft abfuhr, wechselten die Straßenlampen auf ihren Stromsparmodus.
Die Mitternachtsnachrichten konnte sich sonst wer anhören; ich bevorzugte ein paar Takte Maná.
Das Sängersolo wurde von mir hemmungslos zu einem minderwertigen Duett degradiert. Was war ich doch gut zur Menschheit, die Abgeschiedenheit der nächtlichen Autofahrt dafür zu nutzen!
Dann kam die altbekannte Linkskurve in den Wald hinein. Flott nahm ich sie im dritten Gang. Die Fernlichtkegel fraßen sich in die Dunkelheit und zeigten mir den gewohnten Straßenverlauf.
Nach der nächsten Rechtskurve änderte schlagartig meine Stimmung. Mein Puls beschleunigte sich und mir wurde innerhalb von Sekunden heiß, während ich den Wagen abrupt zum Stehen brachte.
„Eins nach dem anderen“, sagte ich zu mir, während das Herz schnell gegen meine Brust klopfte.
Das rhythmische Tack-Tack der Warnblinker war ein jämmerlicher Ersatz für die abgewürgte CD.
Ich stieg aus dem Auto und betrachtete die Bescherung.
Am linken Waldrand lag ein überdimensionaler roter Käfer auf dem Rücken und streckte seine Beine in die Luft. Ich blinzelte ein paar Mal hintereinander, damit meine Kontaktlinsen wieder feuchter und somit einsatzfähig wurden. Die Beine wurden zu Rädern und der Käfer wurde zum Beetle.
Wieso musste mir das gerade jetzt passieren? Genau diese Situation war meine Horrorvorstellung von erster Hilfe: Nachts, alleine, Kälte und nicht mehr nüchtern.
„Scheiße“, murmelte ich vor mich hin. Ich rannte zu dem Unfallfahrzeug, das von meinen Autoscheinwerfern angeleuchtet wurde.
Ein jüngerer Mann hing, festgehalten durch den Sicherheitsgurt, kopfüber in dem Auto. Seine halblangen, gelockten Haare fielen wie ein Putzwedel nach unten. Er schaute mich verwundert an, als ich auf Knien durch die Scheibe spähte und schien jedenfalls nicht schwer verletzt zu sein. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Laut rief ich durch die geschlossene Scheibe: “Alles in Ordnung?“ Er nickte nach oben, wobei die Haarpracht elegant in Schwung kam.
„Sind Sie verletzt?“, setzte ich nicht minder laut nach.
„Nein, aber der Gurt ist so stramm, dass ich mich nicht abschnallen kann“, kam es dumpf aus dem Auto.
„Ich komme sofort wieder“, informierte ich ihn, „ich will nur...“.
„Bitte...“, schrie er aus Leibeskräften, „bitte keine Polizei. Oder ist die schon da?“ Ein ängstlicher Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit.
„Nein, die ist nicht da. Ich komme gleich wieder“, rief ich beruhigend gegen die Scheibe und rannte los, um mit einem Warndreieck die Unfallstelle zu sichern. „Der hat bestimmt gesoffen“, murmelte ich auf dem Weg zu dem unfreiwilligen Akrobaten zurück.
Seine Fahrertür war nicht aufzubekommen. Auch die drei anderen klemmten erbarmungslos.
„Bekommen Sie das Fenster auf?“, wollte ich als nächstes von ihm wissen.
Er nestelte eine Weile an der Zündung herum: „Geht nichts mehr...die Fenster gehen automatisch“. Er zuckte abwärts mit den Schultern.
„Oder eben nicht“, sagte ich frustriert. „Ich werde das Beifahrerfenster einschlagen!“ teilte ich ihm mit. Mit meinem Autoheber als Hammer ging ich ans Werk. Nach einem kraftvollen Schlag zersplitterte die Scheibe in unzählige Brocken. „Geht es Ihnen gut?“, fragte ich nun mit normaler Lautstärke, während ich mich durch das Fensterloch hangelte.
„Pffff....nein, verdammt, wie soll es mir denn gut gehen, wenn ich hier wie ein Hampelmann verkehrt in der Luft rumhänge und mein schönes Auto jetzt noch restlos zerschlagen wird?“, schrie er mich an.
„Die Scheibe ist draußen, wir müssen nicht mehr schreien“, gab ich ihm leise Antwort. Er stöhnte: “Mindestens vier Bier...oder fünf... bitte, bitte keine Polizei. Aber wenn ihr hier seid, sind die auch schon unterwegs... irgendwie muß ich doch weggetreten gewesen sein, denn Ihr ward ja schon da, kaum, dass es mich gewickelt hatte und das kann ja nicht sein“.
Ich schaute ihn irritiert an. „Ihr? Außer mir gibts hier niemanden.“
„Komisch, normalerweise kommt ihr doch mindestens zu zweit...“, grübelte er. Erst jetzt realisierte ich, dass ich meine DRK-Uniform anhatte, da ich von einem Dienstabend mit anschließendem Wirthausbesuch kam.
„Ich versuche jetzt, den Gurt zu lockern und die Schnalle aufzubekommen. Bitte stützen Sie sich mit den Händen ab, wenn ich es schaffe. Im Übrigen wäre ich auch dafür, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, das macht nur alles komplizierter “, erklärte ich ihm, dachte an meine drei Bier und machte mich mit einigen Verrenkungen am Gurt zu schaffen. „Ich denke, das könnte nun klappen“, gab ich zuversichtlich von mir und drückte vehement mit dem Daumen gegen den Gurtöffner, der daraufhin aufsprang.
Er purzelte mir mit ungebremstem Gewicht entgegen. „Aua“, schrie ich empört, „passen Sie doch auf“.
„Tschuldigung“, sagte er kleinlaut, „das ging einfach nicht anders“.
So lagen wir auf der Innenseite des Daches beengt ineinanderverkeilt, als wir ein Motorengeräusch vernahmen.
„Probieren Sie zuerst, hier rauszukommen“, bot ich ihm an. Er rutschte ohne jegliche Rücksichtnahme über mich und drückte mit seinem Gewicht mein linkes Bein in die vielen Glasscherben. „Herrgottnochmal, geht das nicht vorsichtiger? Das tut weh!“, jammerte ich.
„Haaaallooo!“ Wir hätten am liebsten die rufende Stimme ignoriert, die wohl zu dem Motorengeräusch gehörte.
Ein älterer Mann mit Hut kam hastig auf den Beetle zu. Er musterte den Geretteten, der sich mittlerweile aus dem Fenster gezwängt hatte und bei voller Größe mindestens 195 cm lang war, wie ich durch das Fensterloch spähend abschätzen konnte. Kein Wunder, das wir zu zweit so wenig Platz hatten.
„Es ist alles okay, danke“, beruhigte der Riese, „das Rote Kreuz ist auch schon da“, und zeigte auf seinen Käfer. Ich steckte den Kopf ganz aus der Fensterlücke und gab mit meinem reflektierenden Jackenärmel ein Winkzeichen.
„Ja, es ist alles in Ordnung“, sagte ich zu ihm. Ich zog mich auch aus dem Auto heraus, gab mir mit den Händen auf dem kalten Waldboden Gleichgewicht, richtete mich auf und dehnte meine Glieder.
„Sie können ruhig weiterfahren, ich habe alles im Griff“, wandte ich mich an den älteren Herren und versuchte, souverän zu wirken.
„Dann ist ja gut“, entgegnete der Hutträger, den ich auf über siebzig schätzte, „aber was die Gesundheitsreform für Ausmaße annimmt, ist doch langsam unglaublich. Jetzt müssen Sie ihren Dienst schon im Privat-PKW absolvieren und das auch noch alleine. Unerhört.“ Kopfschüttelnd ging er zu seinem Auto zurück. Nachdem er schon ein paar Meter gefahren war, hielt er noch einmal an und rief durch das offene Fenster: „Ich werde morgen einen Leserbrief in die Tageszeitung setzen und werde auf die unglaublichen Zustände im Rettungswesen aufmerksam machen...ich werde sie auch namentlich erwähnen, Frau Meyer, dass sie unter solchen Umständen...ist doch eine Sauerei, das alles...“.
Ich blickte auf mein verräterisches Namensschild an der DRK-Jacke.
Der lange Schlacks neben mir stand immer noch etwas benommen im Scheinwerferlicht meines Autos. Auf seinem Sweat-Shirt prangte in aufgedruckten Buchstaben: 100 Jahre Polizeihundeschule Großdorf.