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Nächtliche Entscheidungen
Einsam zog der Lichtkegel seine Bahn durch die Finsternis. Der Volvo V100 fuhr mit 60 Stundenkilometern durch die Hügel, es war eine gute Stunde her, dass ihnen das letzte Auto entgegengekommen war.
Hagen lag im Beifahrersitz, die Augen halb geschlossen, die Hände über dem Bauch. Er schreckte hoch, als der Wagen einen Schlenker machte.
„Scheiße“, sagte Maren leise.
Sie spürte, dass ihr Mann sie ansah und setzte, ohne den Blick von der Straße zu lassen, hinzu: „Fuchs.“
Im Radio jammerte dezent Al Jarreau vor sich hin.
„Gott“, sagte Hagen. „Wo soll denn hier ein Fuchs herkommen?“
Er sah sich um, und er hätte schwören können, dass im Schein der Rücklichter ein riesiges S auf der Straße stand, das immer kleiner wurde.
Die Scheinwerfer fraßen sich durch die Dunkelheit und enthüllten fetzenweise hüglige Heidelandschaft. Maren verkrampfte sich noch mehr am Lenkrad.
Sie warf Hagen einen hastigen Seitenblick zu. „Oder ein Hase. Was weiß ich.“
Hagen war wach, und so setzte er sich auf, rieb sich die Augen und gähnte. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht.
„Was ist?“, fragte er. „Hast du dich verfahren?“
Von der Seite betrachtet hatte Maren etwas von einem Adler. Ohne dessen Würde, natürlich.
Eine Kurve voraus zwang sie abzubremsen und herunterzuschalten. Hagen sah, wie ihre Backenknochen arbeiteten.
„Hast du dich gut mit Klaus unterhalten?“, fragte sie schließlich.
„War ’ne Scheißparty.“
Sie beschleunigte wieder und schaltete hoch.
„Hat dich nicht davon abgehalten, den ganzen Abend mit meinem Bruder zusammenzusitzen.“ Sie holte tief Luft und setzte hinzu: „Und Bier zu trinken.“
Dafür hatte sie Stunden damit zugebracht, ihren Schwager Marc anzuglotzen. Der hübsche Marc mit den blauen Augen. Wenn zwischen den Beiden mal nichts lief.
Marens Backenknochen kauten wieder.
„Du hast dich verfahren“, meinte Hagen und schloss die Augen. Der angenehme Rausch war beinahe verflogen, und es konnte nicht mehr lange dauern, dann hatte er schlechte Laune.
Al Jarreau hatte ausgejault, Frank Sinatra begleitete sie ab nun durch die Nacht, kaum zu hören, aber doch präsent.
„Hast du das gehört?“, fragte Hagen plötzlich, ohne die Augen zu öffnen.
Maren war schon schlecht gelaunt. „Was?“
„Es isr weg.“ Er machte die Augen auf.
„Was denn?“
„Da haben doch eben Glocken geläutet.“ Er lauschte nach, doch außer der Musik aus dem Radio und dem Rauschen des Motors war nichts zu hören.
Maren lachte leise vor sich hin, und Hagen ärgerte sich.
„Scheiße, du hast dich verfahren!“ Jetzt setzte er sich endgültig auf. „Das gibt’s doch nicht, wo sind wir?“
Die Gegend hier, da war er sicher, trotzdem es dunkel war, hatte er noch nie gesehen. Die sanften Hügel, durch die sie normalerweise fahren müssten, waren aufragenden Bergen gewichen.
Seine Frau sagte nichts, starrte nur verbissen nach vorne, als gäbe es viel zu erkennen.
Außer dem Asphalt und dem Mittelstreifen darauf.
„Bist du hinter Schneverdingen abgebogen?“, fragte er und beobachtete sie.
Sie sagte nichts.
„Du bist nicht abgebogen, ich hab’s geahnt.“ Kein Schwips mehr, schlechte Laune. „Kehr um, los!“
Sie blickte zur Seite, und Hagen erschrak über die Wut in ihrem Gesicht.
„Ich bin abgebogen“, spie sie ihm entgegen. „Denkst du, ich bin blöde?“
„Kehr um, verdammt. Kehr um! Wir sind völlig falsch.“
Sie wandte sich wieder der Straße zu und machte eine Bewegung mit der Hand, die ihm klarmachen sollte, was sie von ihm hielt. Dabei löste sich ihr Armband – das er ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte -, rutschte von ihrem Handgelenk und verschwand zwischen den Sitzen.
„Verdammt!“
Sie starrte geradeaus. Ihre Blicke waren wie die Scheinwerfer, die das Dunkel durchdrangen.
Plötzlich spürte Hagen, wie sich die Luft um ihn herum zu einer Suppe verdichtete. Er bewegte seinen Kopf, und die Mühe, die ihm das bereitete, verwirrte ihn.
„Du sollst umkehren!“, wollte er sagen. Aber die Worte verendeten etwa auf der Hälfte der Strecke zu seiner Frau. Er sah, wie sie sich mühten, jeder einzelne Buchstabe. Aber irgendwann verließ sie die Kraft und zuerst das D, dann das u und nach und nach jeder weitere Letter kippten um und stürzten hinunter in die Finsternis des Wagens.
Maren schien davon nichts mitzubekommen. Sie kaute und fuhr.
Fuhr zweifelsohne in die falsche Richtung.
Sie begann zu weinen. Einzelne Tränen kullerten ihre Wangen hinab, schließlich schluchzte sie auf.
„Sechsundzwanzig Jahre“, sagte sie leise. Hagen befürchtete, die Buchstaben würden feucht werden von den Tränen und sich womöglich auflösen. Doch dann beobachtete er fasziniert, wie die Worte auf ihn zuschwebten. Scheinbar mühelos, wie eine Schar übermütiger Kinder tanzten sie auf ihn zu, umrundeten seinen Kopf und krochen ihm in die Ohren. Eins nach dem anderen, gehorsam wie Lämmer.
„Sechsundzwanzig Jahre!“ Dasselbe. Hagen bewegte sich nicht, verfolgte die Worte nur mit den Augen.
„Zwei Kinder und eine verpasste Karriere. Und immer wieder so was.“
„Was denn?“
Er gab sich Mühe, deutlich zu sprechen, formte mit dem Mund die Buchstaben genau nach. Doch es nutzte nichts, sie hatten keine Kraft.
Jetzt sah Maren ihn an. Vorwurfsvoll, ohne Tränen im Gesicht. Doch sie schien den Buchstabensalat zwischen ihnen noch immer nicht zu bemerken.
„Ich habe es satt“, sagte sie und die Wörter schienen Hagen zum Narren halten zu wollen. „Ich habe deine Auslassungen satt. Sieh dich an! Was ist aus dir geworden?“
Sie verschwendete keinen Blick mehr auf die Straße. Hagen überlegte kurz, ob er das Lenkrad halten sollte, denn die Geschwindigkeit hatte sich nicht verringert.
„Du nörgelst und quengelst. Du bist fett geworden und du trinkst.“
Die Worte verstopften seine Gehörgänge; er konnte spüren, wie sie sich verkeilten. Deshalb schüttelte er mühsam den Kopf, dann war es wieder in Ordnung.
„Was ist bloß los mit dir?“
Er sprach langsam und kraftvoll. Ein hauchdünner Faden wurde ausgerollt, der sich schließlich spannte von seinem Mund bis hin zu Marens Ohr. Daran entlang hangelten sich seine Wörter, und er hätte jubeln mögen, als das erste sein Ziel erreicht hatte.
„Was mit mir los ist?“ Sie lachte. „Du willst wissen, was mit mir los ist? Ich lass mich scheiden, Hagen. Das ist los.“
Wenn die einzelnen Buchstaben des Wörtchens „scheiden“ nicht durcheinander gehüpft wären, sich nicht im Kreis gedreht und Kobolz geschossen hätten, wäre er nicht darauf aufmerksam geworden. So brauchte er zwei Sekunden, bis ihm die Bedeutung des Wortes und gleich darauf die des Satzes aufging und die Auswirkungen auf sein eigenes Dasein.
Doch es interessierte ihn nicht. Er war vielmehr damit beschäftigt, seinen Körper durch die unsichtbare Suppe zu bewegen und sich nach vorn zu beugen.
Maren sah ihn immer noch an; die Straße raste unter ihnen hinweg.
In den Augenwinkeln bemerkte er etwas auf dem Fahrdamm, er versuchte, den Kopf zu drehen und gleichzeitig Maren zu warnen.
Kurz vor dem Aufprall konnte er erkennen, dass sich die Buchstaben s, c, h, e, i, d, e und n irgendwie aus dem Wagen gelöst hatten und nun riesengroß auf der Fahrbahn standen.
Die eigentliche Kollision bekam er nicht mit.
Marens Augen tränten vom ständigen In-die Dunkelheit-schaun. Sie zwinkerte, und, weil eine Kurve nahte, schaltete sie einen Gang herunter.
Hagen neben ihr, schreckte hoch, atmete schwer und starrte sie an.
„Hab ich geträumt?“ Ihr fiel auf, dass er vollkommen verschwitzt war.
Sie deutete nach hinten und erwiderte: „Ich muss anhalten. Der Hund.“
Auf der Rückbank fiepte der kleine Shetland Terrier, als wolle er bestätigen, was sie gesagt hatte.
Während der Hund sein Geschäft verrichtete, standen sie beide ziemlich verlassen vor dem Wagen. Hagen fror. Er schaute in das Dunkel zwischen den Bäumen, doch er konnte nichts erkennen.
„Wo sind wir?“, fragte er und trat von einem Fuß auf den anderen. Wieder zuviel getrunken und sicher einen Kater.
„Ich kenne die Gegend“, antwortete Maren und steckte sich eine Zigarette an. „Als Kind sind wir hier oft gewesen.“
Hagen blickte sich um. Soweit zu erkennen, standen sie direkt am Hang eines finsteren Berges. Mit Fichten bewachsen, die sich in Dunkelheit hüllten. Der Hund schien sich wohlzufühlen.
„Nicht viel los auf der Straße“, bemerkte Hagen, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen. Er schien misstrauisch zu sein, so als wäre ihm die Gegend nicht geheuer.
„Nicht um die Zeit“, murmelte Maren. „Weißt du, wo mein Armband ist?“ Sie fasste sich ans rechte Handgelenk und sah ihn an.
Der Hund fiepte.
„Verdammt, was ist da los?“, sagte Hagen und lief davon. Maren folgte ihm, bis er abrupt stehenblieb.
„Taschenlampe“, sagte er und lief zurück zum Auto. Als er mit der Lampe wiederkehrte, stand Maren vor einem Felsspalt, der wie eine Wunde wirkte. Eindeutig kamen die Klagelaute des Tieres da heraus.
„Er muss sich verklemmt haben.“
„Kannst du ihn sehen?“
Er leuchtete hinein, aber dahinter schien sich eine Höhle zu verbergen, die größer war, als von außen anzunehmen.
„Tu was!“, sagte Maren.
Verzweifelt versuchte Hagen, etwas zu erkennen, doch das Licht der Lampe vermochte nichts zu erfassen.
„Es scheint abwärts zu gehen“, murmelte er, während er sich aufrichtete. „Ich werde rein müssen.“ Damit lief er zurück.
„Wo willst du denn hin?“
„Warte hier!“
Maren blieb in der Dunkelheit, der Hund fiepte immer noch, doch er schien leiser zu werden.
„Beeil dich!“
Hagen kehrte mit einem Seil zurück. Er hatte die dünne Perlon-Leine über die Schulter gelegt und war dabei, sich ein Ende um die Brust zu schlingen.
„Nur für den Fall.“
Er legte das andere Ende um den Stamm einer Fichte und drückte es dann Maren in die Hand.
„Du musst nachgeben, wenn ich da reingehe“, sagte er.
„Aber wer weiß, was da drinnen lauert“, entgegnete Maren.
Der Hund fiepte wieder.
„Sollte etwas Ungewöhnliches geschehen, ziehst du fest dran und hältst es, dass ich mich herausziehen kann.“
„Was soll denn passieren?“
Er stand zwei Sekunden unschlüssig vor ihr, dann drehte er sich um und begann, sich durch den Spalt zu zwängen. Maren blieb einige Schritte davor stehen, das Seil in der Hand. Peinlich genau darauf bedacht, immer soviel davon nachzugeben, dass es ein wenig locker durchhing.
Das Seil war gut sieben Meter lang, der Hund konnte nicht allzu tief hinein gelaufen sein. Es muss reichen, dachte Maren.
Sie gab weiter nach.
„Was siehst du?“
Hagen hatte die Lampe mitgenommen, sie irrlichterte durch die Höhle und warf flackernde Blitze durchs Dunkel.
„Es ist …“
Das Seil war zu Ende.
„Es geht nicht weiter“, rief Maren.
„… verdammt dunkel hier drinnen.“
Der Hund fiepte wieder, Maren bildete sich ein, dass er es aus Freude über die Ankunft ihres Mannes täte.
„Scheiße, noch mal!“
Das Seil ruckte und zerrte.
Maren ging so dicht an den Baum heran, wie es möglich war.
„Was ist denn los? Hast du ihn?“
„Die Lampe, verdammt. Ich sehe nichts mehr.“
An dem Seil zog es noch fester, sie war kaum mehr in der Lage, es zu halten.
„Hör auf, Hagen! Es geht nicht weiter.“
Sie begann zu schwitzen. Mit aller Kraft musste sie sich jetzt von dem Baum abstützen, um nicht fortgerissen zu werden. Die Hände taten ihr weh, lange konnte sie das nicht mehr aushalten.
„Hagen!“ Ihr Kreischen klang schrill und verdächtig nach Panik. Das Echo schwappte zurück, als würde jemand im Wald lachen.
Dann plötzlich ein anschwellender Lärm aus der Höhle, ein Tosen, als wüte ein Orkan in dem Berg. Oder war es das Brüllen eines Tieres?
Und übergangslos, gleichzeitig und schmerzhaft, brach das Rumoren ab und das Zerren am Seil ließ nach.
Maren fiel nach hinten, das Ende der Schnur landete neben ihr und lag einen Wimpernschlag reglos wie eine tote Schlange auf der Erde. Dann schnellte es davon, um den Baum herum und als es durch den Spalt davonhuschen wollte, bekam sie es zu fassen und hielt es fest.
Sie zerrte daran, bis es nachgab, zog weiter, ohne darauf zu achten, dass es sich tief in ihr Fleisch schnitt.
Sie ignorierte den Schmerz, spürte, wie Tränen ihre Wangen hinab liefen.
Stück für Stück zog Maren ihren Mann aus der Höhle. Sie setzte Kräfte frei, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. Und endlich konnte sie ihn schemenhaft in dem Spalt ausmachen.
„Hagen.“
Er bewegte sich, hatte den Hund im Arm. Er streckte ihn zu ihr heraus, um sich dann selbst durch die Kluft zu zwängen.
Maren stand vor der Höhle, hielt das Tier an ihre Brust gepresst und vermochte nicht einzuordnen, was sie da sah. Stumm verfolgte sie, wie ihr Mann aus der Höhle herauskam, sich zu ihr umdrehte und von dem Seilende befreite. Er klopfte seine Kleider ab und als er aufblickte, lächelte er sie an.
Nur dass es nicht Hagen war, der vor ihr stand.
Als wäre nichts geschehen, sah sie mit seinen unglaublich blauen Augen Marc an und lächelte hinreißend.
„Wollen wir?“, fragte er, legte sorgfältig das Seil zusammen, nahm sie bei der Hand und gemeinsam gingen sie zum Auto.
Ihr Herz klopfte, dass man es hören musste. Sie konnte den Blick nicht ablassen von dem Mann, der neben ihr ging, dieselben Sachen wie ihr Gatte trug, sich aber sonst in beinahe jeder Kleinigkeit von ihm unterschied.
Sie stiegen ins Auto. Als er den Gang einlegte und vorsichtig Gas gab, fiel ihr auf, dass er nicht nach Bier stank.
Sie fuhren davon; lange Zeit war Maren nicht in der Lage, etwas zu sagen.
Als es wieder dunkel und Ruhe eingekehrt war, trat, ohne ein Geräusch zu machen, Hagen aus der Höhle heraus.
Eine Weile stand er nur da und blickte dem wegfahrenden Wagen nach. Er lächelte.
Er lächelte immer noch, als er sich umwandte und die Straße in der entgegengesetzten Richtung hinunterging.