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N.
Fast sieht man ihn nicht, wie er da im Busch steht. Die Haare könnten genauso gut Zweige sein, die Augen bloß Beeren. Aber doch steht er da, der Gustaf, und wagt sich nicht raus.
»Ich bin in einem Unterwasserboot an Land gekommen«, hat er gesagt und der Ikschwan sagte bloß: »So, so.« Und grinste. Und da wusste Gustaf, dass der Ikschwan wusste, dass er lügt.
»Und jetzt hast du kein Geld mehr.«
»Ja.«
»Aber Hunger.«
»Genau.«
»So, so.«
»Ja, genau so, und ich habe Ratten gegessen und Wurzeln und sogar Erde, aber der Hunger, der geht nicht weg.«
»Sogar Erde?«
»Ja und einen Dachs, fällt mir noch ein. Obwohl ich mir gesagt habe, Dachse isst man nicht, dafür sind sie zu schlau.«
»Und einen Menschen aber nicht?«
»Nein.«
»Noch nie?«
»Nein.«
»Ich frag ja bloß.«
Dem Ikschwan war er auf dem Weg begegnet, von einem Dorf zum anderen. Die Sonne brannte hinab und außer Hunger hatte er noch Durst und überhaupt. Dann war er sich zuerst nicht sicher, ob da wirklich jemand ging. Denn da war zwar was, aber dann wieder nicht. Und so weiter. Bis der Ikschwan dann plötzlich neben ihm stand und grinste und nichts weiter sagte. Da rutschte Gustaf dann die Lüge mit dem Unterwasserboot raus.
»Würdest du«, fragte Ikschwan jetzt, »wohl eher einen schlauen Dachs essen oder einen dummen Menschen?«
»Wohl eher den Dachs.«
»Und warum?«
Ja, warum, warum stellte der ihm denn jetzt solche Fragen? Hatte Gustaf denn etwas verbrochen? War es ein Verbrechen, hier entlang zu gehen, war er ein Dieb, ein Mörder, weil er hier unterwegs war und weil ihm eine Lüge rausgerutscht war, aus Versehen? Da gab es doch Schlimmere als ihn, von einem ganz anderen Schlag, warum fragte er nicht denen seine Löcher in den Bauch über Dachse und Menschen und was alles sonst noch?
»Warum nicht? Ja, jetzt frage ich dich zurück: Warum soll man nicht eher den Dachs essen und wieso soll man denn überhaupt irgendetwas essen, wenn man es ja auch einfach bleiben lassen kann? Wieso geht man nicht stattdessen durch die Gegend, taucht auf und verschwindet, immer im Wechsel, und steht dann plötzlich da und stellt komische Fragen? Ja, wieso?«
»Jedenfalls habe ich hier ein Stück Menschenfleisch, wenn du es möchtest.«
Und in Ikschwans Händen lag tatsächlich ein großes Stück Fleisch, noch mit Blut dran.
»Und der Mensch, zu dem es gehörte, war dumm, wenn das für dich eine Rolle spielt. Und gemein, hundsgemein, ich könnte dir so manches erzählen, das dir dann aber den Appetit verderben würde, weshalb ich es lieber nicht tu. Aber lass dir gesagt sein: Wenn du das Fleisch von dem dummen, hundsgemeinen Kerl hier isst, dann wird er nie ganz tot sein. Dann wird er in dir weiterleben, nur ein bisschen und nur manchmal, ganz selten, beinahe nie, aber doch. Dafür bist du dann satt. Für heute und für morgen und für so lange, wie du hier bist, auf der Erde. Die du dann auch nicht mehr fressen musst wie ein räudiges Tier. Dass du ja schon bist, das sehe ich dir an, in den Augen, das war gleich das erste, was ich dachte: Dass da ein Tier geht mit Reißzähnen und Krallen und Fell, jedenfalls kein Mensch mehr, nein, das wusste ich gleich.«
»Dann gib her«, spuckte Gustaf aus, »lass mich dir zeigen, was ich für ein Tier bin«, und er riss Ikschwan das Fleisch aus den Händen und leckte das Blut ab und zerrte und biss und es war sehnig und schmeckte verdorben, aber dem werd ich’s zeigen, dachte Gustaf, soll er mal sehen, was ich für ein Tier bin, auf allen Vieren auf dem Boden schlang er das Fleischstück herunter und als er’s geschafft hat, war es still und Gustaf wieder allein.
Und jetzt steht er im Busch und wagt sich nicht raus. Knurrt, als eine Amsel vorbeispringt und erschrickt kurz, weil er knurrt. Und er hat immer noch Hunger, merkt er jetzt, aber der Hunger sitzt tiefer, ist anders, und nicht mehr lang, dann muss er gehen, dann muss er weg, weit von hier weg, raus aus dem Busch und in das Dorf, denn vielleicht wird ja da alles gut.
Und es sollte tatsächlich so werden. Gleich zuerst saß dort eine zierliche Alte auf einer hölzernen Bank. Mit den Händen auf einem Stock verschränkt und dem Kopf auf den Händen und einem Lächeln im Gesicht mit höchstens drei bis vier Zähnen. Und daneben saß ein Mädchen mit den Beinchen in der Luft. Mit denen sie lief wie auf Wolken. Die Kleine winkte, Gustaf zurück, die Alte nicht. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sie saß ja nur gerade so gut, jetzt war jeder Knochen an der richtigen Stelle – nichts zwickte, nichts zwackte, sie winkte mit wachsamen Augen.
Das Mädchen kam und nahm Gustaf an der Hand.
»Von wo kommst du?«
»Von woanders«, sagte Gustaf, »mit einem Unterwasserboot an Land.«
»Und was hast du am Arm?«
»Eine Wunde.«
»Und gab es da auch Quallen und Tentakeln oder was gab es sonst?«
»Ja, vor allem Quallen und Tentakeln. Aber auch Muscheln mit Perlen, die so groß waren wie du.«
»Ja, ich bin auch schon fast größer als die Großmutter. Denn wenn man alt wird und bald stirbt, dann wird man kleiner, das nennt man Schrumpfen. Aber die Ohren wachsen weiter und deshalb hört die Großmutter so gut. Manchmal hört sie auch Sachen, die niemand sonst hört und dann sagt der Vater, dass sie lügt.«
»Und wer hat recht?«
»Meistens die Großmutter.« Und dabei verdreht sie die Augen in Richtung der Holzbank und presst die Lippen aufeinander und schüttelt kaum merklich den Kopf, und Gustaf versteht.
»Jetzt zeige ich dir das Dorf. Da vorne wohne ich mit meinen Eltern und meinem Bruder, dem blöden Ruben, und die Großmutter lebt da auch und schläft mit mir in einem Bett. Da weiter hinten wohnt die Iida mit ihrem Mann und irgendwo da wohnt auch der Streuner, der Rafik heißt. Aber der wohnt ja eigentlich nirgends, nur gibt die Iida ihm was zu fressen und manchmal wird der Aatos dann wütend, deswegen macht sie es heimlich. Und da unterm Dach wohnt der Frantzen, der ist nett aber schüchtern und da geht der Polizeimeister Lundin und sein Gehilfe Emil Blom. Der da am Brunnen ist der Blinder und gleich daneben ist die Kneipe, die gehört dem Vlad und seine Tochter Pelageja ist meine zweitbeste Freundin. Da vorne auf der Kutsche sitzt der Danilo Semëryč, der ist dick und immer hungrig und dann noch die Tiere im Wald und den Artjom, der sie jagt. Und ich heiße Fräulein von und zu Majestete die Holde und bin Prinzessin und kann fliegen. Das macht dann drei Goldtaler, bitte.«
»Nimmst du auch Steintaler?«
»Am allerliebsten.«
Und Gustaf zahlte mit drei Kieseln aus seiner Tasche. Die Prinzessin drehte sich im Kreis und flog mit ausgebreiteten Armen zurück zu ihrer Großmutter.
Der neue Hunger war noch da. In der Kneipe würde er mit seinen Kieseln nicht weit kommen, dachte Gustaf, gerade, als er sah, wie sich eine Tür einen Spaltbreit öffnete. Das musste Iida sein. Denn wie von der der kleinen Prinzessin vorhergesagt, warf sie ein Stück Fleisch auf den Weg und dann blickte sie Gustaf in die Augen und sagte: »Für dich, mein Rafik«, und schloss die Tür.
Na so was. Dachte Gustaf. Hat sie mich Rafik genannt. Wie den Streuner. Während er kaute. Und der Hunger noch zunahm.
Ja, Gustaf hatte eine Wunde, oben am Arm, er hat sie auch verbunden, mit was man halt so findet, aber weh tat sie doch. Deshalb sprach ihn wohl auch der Polizist an.
»Geht es dir gut?«
»Ganz ausgezeichnet, nur etwas hungrig.«
»Ja, wer ist das nicht, und bist wohl auf Reisen, nehme ich an? Bist zu Besuch, schaust dich mal um? Wirst nicht viel sehen. Ich find das gut. Macht mir die Arbeit hier einfach. War auch woanders, in großen Städten, so groß wie Halm, da ist mir N. deutlich lieber. Hier wird sich zwar mal gekloppt, Dampf abgelassen, aber dann ist auch wieder gut. Im Sägewerk hats mal gebrannt, schon ’ne Weile her, und im Wald gabs ne Alte, die hat sich am Baum aufgeknüpft. Die war mal riesig, Frau wie ein Baum, aber als sie dann da hing, an ihrer Birke, da war sie klein wie ein Kind.«
»Klitze-klitzeklein«, ergänze der Gehilfe.
»Und dann der Artjom, der große Jäger. Der jagt jetzt Bären. Nennt sich schon selbst so, Bärentöter Artjom. Hab ich gehört. Der redet laut mit sich selbst.«
»Bären gibts hier also auch?«
»Ach iwo, ich hab noch keinen gesehen. Aber soll er machen, uns ist das schnurz.«
»Schnurzi-di-purzi«, nickte der Emil, der Gehilfe.
»Und das macht dann drei Goldtaler bitte.«
»Gehen auch Steintaler?«
»Am allerliebsten.«
Und Gustaf zahlte mit drei Kieseln aus seiner Tasche und der Polizeimeister Lundin und der Gehilfe Emil zogen weiter.
Auf dem Marktplatz gab es einen Brunnen und am Brunnen traf Gustaf Blinder. Dann kam noch Frantzen, Stanislaw Frantzen, und die drei Männer bewegten Lippen und ihre Zungen. Erzeugten Töne mit einer Bedeutung, wie das die Menschen so tun.
Da kam die Sprache auf Aatos. Der gerade ankam. Dem man schon ansah, dass was nicht stimmte.
»Verdammtes Weib.«
»Es geht um Iida«, sagte Frantzen.
»Ja natürlich geht es um Iida, um wen sonst. Ach so, jetzt seh ich’s. Da ist ein Neuer. Mit einer Wunde. Und deshalb sprichst du so, als wärst du plemplem. Ich bin der Aatos.«
»Und ich der Gustaf.«
»Ja, also weiter, verdammtes Weib!«
Und Blinder fragte: »Was gibt es diesmal?«
»Wieder der Streuner, ihr Märchenwesen. Taucht immer auf, wenn ich nicht da bin und frisst mich ratzeputz blank! Ich sag noch: Iida, lass das doch bleiben. Iida, du weißt ja, ist knapp mit Geld. Und ich komm heim und da sitzt Iida und es ist wieder nichts da!«
»Muss ja ein Bär sein, so wie der frisst«, sagte der Frantzen. »Oder noch schlimmer, ein Basilisk, ich hab gehört …«
»Was du so hörst, ist mir egal, das ist ein Mensch, wenn ich’s dir sag! Ein ganz ausgefuchster. Der hat den Teufel im Nacken und der macht was mit Iida …«
Und da verfinsterte sich Aatos’ Gesicht und wurde zu Stein und da wussten Blinder und Frantzen, die ja den Aatos gut kannten, dass man ihn jetzt am besten in Ruhe ließ. Dass dann aber später, in der Kneipe bei Vlad, wieder alles gut werden würde. Dass er sich vielleicht erst noch mit einem kloppen musste, Dampf ablassen, aber spätestens dann war die Sache gegessen.
Aber Gustaf kannte Aatos nicht und wollte wissen, was der gemeint hat.
»Mit dem Teufel im Nacken.«
»Wer will das wissen?«
»Na ich.«
»Und wo kommst du her?«
»Von woanders.«
»Ja und was willst du dann hier, mit deinen Fragen und deinen Augen? Du stierst mich an wie der Tod und deine Wunde da riecht schon, würd mich nicht wundern, wenn du das selbst warst, dich selbst gepackt hast und gebissen, du siehst ja aus wie ein Tier mit deinen Haaren, in deinen Lumpen«, und da knurrte Gustaf tatsächlich wie eines, fletschte die Zähne und es lief Gafer an seinen Lefzen hinab.
Und Aatos war froh darüber, denn jetzt hatte er endlich einen, mit dem er sich kloppen konnte, aber Gustaf rannte weg, auf allen Vieren in den Wald, und aus der Wunde am Arm tropfte zähdichter Schleim.
Hier waren die Bäume wie Stäbe. Hier lag die Beute im Käfig wie schon vom Jäger erlegt.
Und über allem die Krähe. Legte den Kopf in den Nacken, riss den Schnabel auf, rief.
Gustaf hörte das Blut rauschen und Gustaf hörte den Busch rascheln und da peitschte ein Schuss durch die Szene und der Vogel stieg auf. Und auch Gustaf kam wieder zu Sinnen, die Lunge rasselte, der Atem stockte, aber er stand aufrecht, schleppte sich vorwärts, der Hunger trieb ihn voran.
Wenn ich müsste, würde ich töten, um dieses Loch zu verstopfen und hätte ich geahnt, wo alles hinführt, hätte ich es niemals getan. Das mit dem Fleisch und meinem Arm und wo ist jetzt dieser Ikschwan, wenn ich den seh, dann wird der büßen, ich fress sein Herz und sein Hirn auf und …
»Brrr«, sagte da der Kutscher Danilo Semëryč. Zog an den Zügeln und die Stute Anjuschka stand still. »Jetzt ist aber mal gut hier! Erst geht mir die Anjuschka durch wegen dem gottverdammten Artjom und seinem Geschieße und dann rennst du da mir vor die Kutsche und brabbelst spinnerten Kram! Wirres Zeug von Gehirnen! Und was ist das da, an deinem Arm? Sieht gar nicht gut aus, aber sag mal, hast du Kohldampf? Musst gar nichts sagen, man siehts dir gleich an, und auch wenn nicht, ists mir egal, weil ich hab Kohldampf für Zwei, ho ho! Also steig auf jetzt. Ich bring dich weg hier. Ich kenn ’nen Ort in der Nähe mit ’ner Prinzessin und einer Kneipe und … Ach, bevor ich’s vergesse: Das macht drei goldene Taler.«
»Nimmst du auch Kiesel?«
»Am allerliebsten. Hepp, Anjuschka! Hü-hott!«
Und das Getrappel der Hufe wurde verschluckt von den Bäumen und in N. lebt noch heute eine schrumpfende Alte und erzählt denen, die fragen, von Gustafs knurrendem Magen.