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Nach Paris

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31.03.2003
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Nach Paris

Peter Kos stand vor dem Spiegel und begann zu heulen. Er dachte, dass er noch nie vor einem Spiegel zu heulen begonnen hatte. Er heulte wegen seines Blicks.
Es war ihm die Photographie eines Mädchens eingefallen. Die Kleine hatte zwölf Jahre lang im Keller gelebt, dann wurde sie von ihrem Vater endlich schwanger. Der Vater versuchte, das Baby mit einer Stichsäge abzutreiben, und so weiter.
Dann wusch er sich das Gesicht und rief Claudia an und fuhr mit Claudia nach Paris. Sie hatten kein Abteil reserviert und mussten bis Linz stehen. Die Sitzenden blickten aus ihren Sitzen.
Irgendwo stiegen sie um, irgendwo regnete es auf die Felder. Und irgendwo fiel ihm auf, dass er Claudia hässlich fand, ihre nichtsfarbigen braunen Haare vor allem.
Paris war Scheiße. „Paris ist was für …“, sagte er und verdrehte die Augen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er sagte: „Ich mag die Franzosen nicht.“ Dann gingen sie, wie am Abend zuvor, Pizza essen.
Claudia sah er, nachdem sie von Paris zurückgekommen waren, nie mehr wieder, auch nicht zufällig.

Ein Jahr später wurde Lydia seine Freundin. Lydia war ganz blond. Sie studierte Französisch. Sie wollte mit ihm nach Paris, sie war schon ein paar Mal dort gewesen.
Sie fuhren stattdessen nach Mörbisch, kauften zwei Flaschen Wein und nahmen ein Zimmer. Sie redete von der Provence. Er redete kaum. Am nächsten Tag fuhren sie wieder zurück, erst er, dann sie. Es schien vorbei zu sein.
Es fing erst an. Peter Kos trank dann zwei Monate nichts, rauchte nur nach dem Sex und aß morgens Obst. Lydia rechnete ihm das hoch an. Seit sie denken konnte, hatte sie immer gesund gelebt. Peter Kos akzeptierte das.
Er fuhr mit Lydia zum Friedhof und stellte sie seinen Eltern vor. Sein bester Freund sagte ihm, dass er sich um Lydia kümmern würde, falls ihm etwas zustoßen sollte, dann lachten sie. Und am Tag bevor Lydia den Test machte, saß er mit ihr auf einer Parkbank und er durfte ihre Brust halten, einfach so.

„Positiv“, rief Lydia, nachdem er durch ihre Geräusche aufgewacht war. Er wusste nicht, was sie meinte, er wusste gar nichts. Er sagte: „Was, positiv?“
„Ich bin durch“, sagte sie, „ich habe es geschafft, ich bin durch!“
Peter setzte sich auf und starrte sie an. Sie war angezogen wie eine Nutte. Er musste an seinen Vater denken. „Was hast du geschafft?“ sagte er abwesend. Sie kam näher ans Bett. Er starrte sie an. Das zwölfjährige Mädchen fiel ihm ein, das Photo, der Nachrichtensprecher, der so hieß wie der Hund seiner Großmutter, seine Großmutter, die nackt im Keller für ein Photo posiert.
„Meinen letzten Test. Ich kann nach Paris! Möchtest du frühstücken?“ Sie ging in die Küche und rief: „Nach Paris! … Möchtest du mit mir frühstücken!“
„Warum weißt du das jetzt schon?“ sagte Peter Kos. „Ich meine, der Test war heute, oder? Warum kannst du das jetzt schon wissen?“ Er glaubte ihr nicht.
Er glaubte ihr.
„Na, warum wohl“, sie stand plötzlich in der Tür. Den Rest hörte er nicht mehr. Sein Blick heftete sich an die Sessellehne.
Er erinnerte sich an den Abend zuvor, daran, dass sie gesagt hatte, sie könnte sich bestimmt besser konzentrieren, wenn sie am Abend vor dem Test einen Schluck Wein trinke, und daran, dass er sie gefragt hatte, was aus ihnen würde, wenn sie nach Paris ginge. Er hatte schon vier Bier.
„Ich gehe auf jeden Fall. Wenn nicht heuer, dann im nächsten Jahr.“ Dann ging sie aufs Klo. Er bestellte Zigaretten.

Sie hat sich wie eine Nutte angezogen und den Test geschafft. Er dachte an den Keller seiner Eltern und wieder an das Mädchen. An eine andere, die er irgendwann kennen lernen würde.
„Aber …“ sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Eine von ihren, den Bettzigaretten. Er rauchte.
„Aber …“ sagte er und sah dabei aus dem Fenster. Zwei Tauben liefen auf der Dachrinne gegenüber hin und her. Er sah ihnen zu.

Sie kam wieder ins Zimmer, stellte das Tablett auf dem Tisch ab, kniete sich vor ihn und griff unter die Decke. Eine Taube flog davon, dann auch die zweite, der ersten hinterher.
Er sagte „wart“, ging ins Badezimmer und blickte in den Spiegel, wusch sich und sah noch einmal in den Spiegel.
„Nein“, sagte er zu sich. „Nein“, sagte er noch einmal. Beinahe hätte er gelacht. Noch ein Mal sagte er „nein“ und starrte sich im Spiegel an.
Hinter ihm tauchte nun sie auf und sagte: „Freust du dich nicht für mich?“ Sie küsste ihn aufs Ohr und verschwand wieder.
Er wollte nicht lächeln. Er drehte das Wasser auf, ließ es laufen und wusch sich dann sein Gesicht.
Immer wenn er an das Mädchen dachte, stellte er sich den Keller seiner Eltern vor und seinen Vater, wie er dort das Mädchen schwängert. Manchmal schlug er selbst auf das Mädchen ein.
Lydia, seine Freundin, hatte sich inzwischen hörbar ins Bett gelegt. Sie wartete jetzt auf Peter Kos.

 

Großartig geschrieben, frank stephan.
Ein sehr gelungener Text mit einer unglaublichen Tiefe.
Ich will nichts interpretieren. Er soll so stehenbleiben, unzerpflückt.
Ein beeindruckendes Szenario, mit Rückblenden und einer hoffnungslosen Zukunft ausgestattet.

,Er fuhr mit Lydia zum Friedhof und stellte sie seinen Eltern vor.' Ein unglaublicher Satz. Einer von vielen.

Liebe Grüße - Aqua

 

Neben dem von aqua zitierten Satz gefiel mir auch dieser sehr gut:

...saßen sie noch auf irgend einer Parkbank und er durfte ihre Brust halten, einfach so.

Das ist leider fast alles, was mir an dem Text gefiel.
Auf mich wirkt er zerrissen und kalt, will sagen: er spricht mich nicht an.

Besonders missfielen mir zwei Sachen gleich zu Beginn des Textes:

"Die Kleine hatte zwölf Jahre lang im Keller gelebt, ehe sie von ihrem Vater endlich schwanger wurde."

Das "endlich" ist sehr zynisch, taktlos in dem Zusammenhang.

"Der Vater hatte versucht, das Baby mit einer Stichsäge abzutreiben, und so weiter."

Da hatte ich schon fast befürchtet, es handle sich um eine "Splatterstory" (heißen die so?). Selbst der dümmste Engelmacher käme wohl nie auf die Idee, eine Stichsäge einzusetzen.

Und wozu soll die kurze Szene mit Claudia dienen?

Gruß
Bobo

 

Geschrieben von Bobo
Auf mich wirkt er zerrissen und kalt, will sagen: er spricht mich nicht an.
mich auch nicht, bobo.

Selbst der dümmste Engelmacher käme wohl nie auf die Idee, eine Stichsäge einzusetzen.
du hast keine ahnung von wirklich brutalen vätern. die nehmen eine stichsäge, ich weiß das.

Und wozu soll die kurze Szene mit Claudia dienen?
das kann ich nicht beantworten.


danke fürs nichtzerpflücken, aqualung.

 

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