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Nachbarschaftshilfe
Theodor saß vor seinem Fernseher und zappte mit einer Dose Bier in der Hand durch sämtliche Kanäle. Draußen war es bereits dunkel, und trotzdem lief nichts Vernünftiges. Kurz blieb er bei einer Frau hängen, die sich oben ohne in einem Wasserfall duschte, doch dann war der Werbeblock zu Ende und der Krimi ging weiter.
Theodor fuhr sich gelangweilt über seinen Drei-Tage-Bart, zerdrückte dann seine leere Bierdose und warf sie schwungvoll Richtung Abfalleimer. Mit einem leisen Klappern prallte sie von der Wand ab, und fiel neben dem Eimer zu Boden. Er kratzte sich gerade gelangweilt am Schritt, als sein Handy läutete.
Nach einem kurzen Blick auf das Display klappte er das Handy auf.
„Nabend, Holger.“
„Hallo, Theo. Na, wie geht’s?“
“Geht so“, brummte Theodor und bohrte mit seinem Zeigefinger im rechten Ohr herum. Er begutachtete kurz seinen Fund und wischte den Finger gedankenverloren an seinem Hemd ab. „Ist halt nix los.“
„Verstehe, verstehe“, quäkte es aus dem Handy. „Sag mal, hast du noch deine Gasmasken?“
„Du meinst, die vom Bund, die ich ‚verloren’ hab?“
„Jop, die…“
„Klar, wieso?“
„Gut, dann komm rüber und nimm sie mit. Eine für dich, eine für mich!“
Theodor warf einen kurzen Blick zum alten Kleiderkasten, wo einige ‚Mitbringsel’ vom Bund eine neue Heimat gefunden hatten. Leider waren sie mit den Gewehren pedantischer gewesen als mit dem restlichen Zeug, er hätte wirklich gerne eines behalten.
Schließlich zuckte er mit den Schultern.
„Ok, aber warum die Gasmasken?“
„Vertrau mir! Wir werden sie gut brauchen!“ erwiderte Holger.
Zum Glück wohnte Holger im Bau direkt gegenüber von Theodors Wohnung, so musste er wenigsten nicht betrunken Auto fahren. Als Theo schnaufend im sechsten Stock ankam, wartete Holger bereits ungeduldig.
„Nu mach schon!“
„Ist ja... schon gut! … verdammt!“
„Mann, dass sie bei euch einen Lift eingebaut haben, war für deine Verfassung der endgültige Todesstoß.“
„Halts Maul!“
Holger grinste Theodor herausfordernd an.
„Sogar die alte Wilson ist jeden Tag die Stiege rauf und runter und die war schon 80!“
„Was geht mich die alte Wilson an, verdammt?“
„Jetzt gar nichts mehr“, sagte Holger, „Ich glaube, sie ist schon seit über eine Woche tot!“
Theodor musste ein ziemlich erschrockenes Gesicht gemacht haben, zumindest fand Holger es saukomisch, was Theodor wiederum sehr wütend machte.
„Verarsch wen anderen! Verdammt, und für diese Scheiße bin ich rüber gekommen?“
„Jetzt beruhig dich mal wieder! Ich…“
„Ach, leck mich doch!“ Mit diesen Worten drehte sich Theodor um und wollte wieder gehen, bis Holger ihn an der Schulter festhielt.
„Jetzt halt mal dein Maul und hör mir zu!“, zischte Holger und zog ihn verschwörerisch in eine Ecke des Stiegenhauses. „Sag mal, riechst du denn hier nichts?“
Theo schwankte leicht und starrte seinen Kumpel fragend an.
„Komm mal hier rüber!“ flüsterte Holger und zog Theodor zu einer Wohnungstüre. „Na?“
Theodor holte tief Luft um Holger einmal wieder gründlich die Meinung zu sagen, als er sich beinahe übergeben musste. Ein Ekel erregender, süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase.
„Scheiße!“, röchelte er und taumelte benommen ein paar Schritte zurück. „Als ob hier was… verreckt… uh“
Mit einem schnellen Schritt trat Holger zu seinem Freund und sah ihn beschwörend an.
„Schrei hier doch nicht so rum!“
„Verdammt, was willst du von mir?“ zischte Theodor. „Ruf die Bullen und lass mich damit in Frieden!“
„Verdammt, tust du nur so blöde? Das ist doch die Chance!“
„Von was redest du, Mann?“
„Mann, Theo, jetzt schrei hier nicht rum und hör mir zu!“ Verschwörerisch sah Holger über das Gelände in das Stiegenhaus hinunter. „Du kennst doch die alte Wilson. Die hat doch nie einer Bank getraut. Die war doch jeden Ersten auf der Bank, um ihre Pension in Sicherheit zu bringen.“
„Verdammt, die Alte war halt nicht mehr richtig da, na und?“
„Sag mal, hast du dir völlig dein Hirn weggesoffen? Denk doch mal nach, Junge!“
Theodor sah Holger nur verständnislos an und kraulte sich verärgert seinen Drei-Tage-Bart. Schließlich sah Holger ein, dass sein Kumpel wirklich nicht verstand, worauf er hinaus wollte.
„Ok!“, seufzte er, „Ich erkläre es dir ganz langsam!“
„Aber…“
Holger hob beschwichtigend die Hand.
„Theo, hör mir zu!“ Er warf noch einen kurzen Blick über das Geländer um sicher zu gehen, dass niemand zuhörte. „Hör mir genau zu! Die hatte doch keine Ausgaben… hey, ich wohne schon seit Jahren neben ihr und die hatte immer dieselbe Jacke an, dieselben Schuhe und sie ging immer nur zum Aldi einkaufen. Die hat sicher ein kleines Vermögen gebunkert. Und sie hat nie Besuch bekommen, niemals! Verstehst du?“
Theo starrte ihn mit halboffenem Mund an. Er verstand gar nichts. Holger schüttelte frustriert den Kopf.
„Ok, wir gehen das jetzt rein und holen uns das Geld, kapiert?“
Theodor stöhnte auf. „Ach, komm, das kann nicht dein Ernst sein? Die Bullen werden…“
„Sich nicht länger als unbedingt notwendig bei diesem Gestank in der Wohnung aufhalten! Und Verwandte? Hey, soweit ich weiß, gibt es gar keine. Man verreckt nicht so einfach in seiner Wohnung, ohne dass sich jemand darum schert.“
„Und wenn wer kommt?“
Holger grinste „Dann sagen wir einfach, wir haben uns Sorgen gemacht und wollten mal nachsehen. Nachbarschaftshilfe, verstehst du?“
„Kacke!“
„Na, komm schon, wir teilen auch brüderlich!“
Theodor musste zugeben, dass sich Holger einiges dabei gedacht hatte. Es war Sonntagabend mitten in den Sommerferien, die meisten waren schon im Bett oder im Urlaub und außer Holger wohnte zurzeit sowieso niemand in diesem Stockwerk. Und was soll’s? Das Geld hätte die alte Wilson wahrscheinlich ohnehin dem Tierschutz vererbt. Theo konnte Hunde noch nie leiden.
„Also gut… ich bin dabei“, sagte er schließlich und wirkte dabei wenig begeistert.
„Na bitte! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann!“ Holger klopfte ihn aufmunternd auf die Schultern. „Warte einen Moment!“ Er verschwand kurz in seiner Wohnung und kam mit zwei Taschenlampen und einem Plastiksack zurück.
„Hier“, sagte er, reichte Theodor eine Lampe und nahm dafür eine Gasmaske in Empfang. „Dachtest nicht, dass sich die Zeit beim Bund für uns mal rechnen würde, was?“ Holger schüttelte amüsiert den Kopf und zog sich die Maske über das Gesicht.
Theodor schnaufte kurz auf, dann streifte er sich ebenfalls die Maske über. „Bringen wir die Sache hinter uns…“
Nachdem beide den Sitz der Masken kontrolliert hatten, machte sich Holger an der Türe zu schaffen. Bereits nach kurzer Zeit schwang sie auf, nicht einmal ein Kratzer war zu sehen.
„Tja, Schlosser müsste man sein, ne?“
„Beeilen wir uns! Ich krieg jetzt schon keine Luft mehr...“, schnaufte Theodor.
Holger brummte etwas unverständlich in seine Maske. Schließlich gingen die beiden in die Wohnung. Holger warf noch einen kurzen Blick in das Treppenhaus, bevor er die Türe vorsichtig ins Schloss fielen ließ.
Abwartend verharrten Beide in der engen, dunklen Diele. Außer ihrem schweren Atmen war eine leise Stimme aus dem Wohnzimmer zu hören. Erschrocken fuhren die Beiden zusammen.
„Ich dachte, die ist tot!“, zischte Theodor aufgebracht und stieß Holger mit der Lampe an.
„Ja, verdammt! Das... das ist wahrscheinlich nur der Fernseher!“
„Wenn du dir so sicher bist, warum siehst du dann nicht nach?“
„Okay, vielleicht mach ich das einfach, he?“
Vorsichtig schlich sich Holger in Richtung Wohnzimmertüre. Die Bodenbretter quietschten erbärmlich. Sacht lies er seine Hand auf die Türklinge sinken und drückte sie langsam nach unten. Knarrend schwang die Türe auf.
Holger ging vorsichtig einen Schritt nach vorne und warf einen Blick in das Zimmer. Entsetzt prallte er zurück und stolperte zu Theodor zurück. Würgegeräusche waren zu hören, Holger währe beinahe hingefallen, wenn ihn Theodor nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.
„Oh Gott, ist das eklig!“, presste er hervor, „Scheiße.“
„Was…“
„Die Alte“, keuchte Holger, „Wenn die nicht tot ist, dann…“ Er stöhnte erbärmlich vor sich hin und versuchte sich nicht zu übergeben.
„Wow, stell dir mal den Geruch vor, wenn du den auch noch…“
„Halts Maul!“, keifte Holger Theodor an, „oder ich kotz dir auf die Schuhe, verdammt!“
„Tschuldigung…“ Theodor trat beleidigt zur Seite und wartet bis Holger sich wieder einigermaßen erholt hatte.
Holger stützte sich an einer Kommode ab und atmete schwer.
„Okay…“, stieß er hervor, „Okay… gehen wir. Aber mach dich auf was gefasst!“ Vorsichtig richtete er sich auf. „Und beeilen wir uns. Ich glaub der Gestank sickert durch meine Maske…“
Vorsichtig schlichen sie die Diele entlang. Nervös leuchteten beide mit ihrer Taschenlampe in jede Ecke. Als sie die Wohnzimmertüre erreicht hatten, zögerte Holger kurz. Er warf Theodor noch einen kurzen Blick zu, dann stieß er die Türe ein zweites Mal auf.
Als Theodor schließlich einen Blick in das Wohnzimmer werfen konnte, begann sein Magen zu rebellieren. Die alte Wilson saß in ihren Fernsehsessel und sah sich die Elf-Uhr-Nachrichten an. Im flackernden Licht des Fernsehers war es schwer auszumachen, wo der Körper ein Ende nahm und der Ledersessel begann. Irgendwie schienen beide aus demselben Material zu bestehen… Fliegen brummten aufgeschreckt durch das Zimmer, einige ließen sich nach kurzer Zeit wieder in den eingefallen Augenhöhlen nieder.
„Einfach nicht hinsehen!“
„Man, scheiße, so will ich nicht verrecken…“ Theo konnte sich einfach nicht vom dem Anblick losreißen. „Einfach tagelang wo vor sich hin schimmeln…“
„Hey, jetzt mach schon. Wir haben nicht ewig Zeit!“ Holger stieß seinen Freund unsanft mit der Taschenlampe an. „Ich seh mich mal in der Küche um. Sieh du mal, ob du hier was findest!“
„WAS? Ich soll hier bei der Alten suchen? Spinnst du?“
„Heul nicht rum, sondern tu, was ich dir gesagt habe.“ Holger stöhnte plötzlich auf. „Scheiße, die Maske hilft gar nix!“
„Eh, kann sein, dass deine kaputt ist…“
„Arschloch!“
Holger stolperte Richtung Küche. Theo umging den Ledersessel so weit es nur ging und drückte sich an der Wand entlang Richtung Regal.
„Pass mir aber auf, dass du alles wieder an seinen Platz stellst!“ Theo konnte Holger nur mit Mühe verstehen. „Wir wollen die Bullen nicht misstrauisch machen, hörst du?“
„Ist klar!“, antwortete Theo.
„Und schrei gefälligst nicht so rum!“, tönte es aus der Küche.
„Ja, ja“, brummte Theo, öffnete eine Schublade und leuchtete hinein. Außer ein paar Untersetzer und Häkeldecken fand er nicht viel. Mühsam musste er immer wieder durch den Filter die Luft in seine Lungen saugen. Aber wenn er an den Gestank dachte, den die Alte verbreiten musste…
Unschlüssig drehte er sich im Kreis und suchte mit der Taschenlampe den Raum ab. Unvermutet blieb der Lichtkegel am Ledersessel hängen. Plötzlich bemerkte er, dass die alte Wilson einen Zettel in der linken Hand hielt. Mit einer Mischung aus Neugier und Ekel trat er langsam heran und leuchtete auf die Hand.
Vorsichtig beugte er sich hinunter um mehr erkennen zu können, für einen Moment konnte er 'Lotto' lesen, als er unvermutet mit der Hand die Leiche berührte. Entsetzt sprang er zurück und ließ dabei die Taschenlampe fallen. Klackernd fiel sie zu Boden und ging aus.
„Verdammt!“, schnaufte Theodor und wischte sich krampfhaft die Hand an seinem Hemd ab. „Ist das eklig. Als wär die aus Wachs…“
Vorsichtig ging er auf die Knie und tastet nach der Taschenlampe, die irgendwo hinter dem Ledersessel im Dunklen lag.
Ein leises Klappern war aus der Küche zu hören, während Theo am Boden herum krabbelte und peinlichst darauf achtete, die Leiche nicht noch einmal zu berühren.
„Hey, wart mal“, tönte es plötzlich aus der Küche, „Ich glaub hier stimmt was nicht…“
„Was?“, fragte Theodor abgelenkt und kramte in der Hosentasche nach seinem Feuerzeug. Vorsichtig tastet er es im Dunklen ab, fühlte nach dem Zündrad.
„Hey, ich glaube, wir haben hier ein Leck!“ Holgers Stimme klang auf einmal sehr angespannt.
„Was sagst du?“
„Verdammt!“, rief Holger und lief aus der Küche, „Pass auf was du machst, wir haben hier ein Gas…“
Im selben Moment hat Theodor das Zündrad gefunden und heruntergedrückt. Im Dunkeln konnte er den Zündfunken überspringen sehen. Er hatte nicht einmal die Zeit überrascht zu sein, als sich vom Feuerzeug ausgehend eine Flammenwolke entfaltete. Theodor wurde zurückgeschleudert und von den Flammen verschluckt. Die Zimmerwand wurde von der Explosionswelle einfach zur Seite gedrückt, Glas splitterte und regnete auf die Straße, gefolgt von Ziegelsteinen, denen ganze Mauerteile hinterher stürzten. Holger selbst wurde zurück in die Küche geworfen, die sich Augenblicke später der Explosionsgewalt beugte und sich in die Nachbarwohnung verschob. Das ganze Haus wackelte, als der oberste Stock in sich zusammen fiel.
Panisch flohen die Bewohner in ihren Schlafanzügen auf die Straße, traten auf Glasscherben und Trümmern und machten fassungslose Gesichter.
Theos Befürchtungen waren schlussendlich unbegründet. Seine verkohlte Leiche wurde durch die Wucht der Explosion auf die Straße geschleudert und konnte so schnell gefunden werden. Auch Holgers Überreste konnten rasch eingesammelt werden. Die alte Wilson jedoch lag noch einige Tage in den Überresten ihrer Wohnung, da sie man auf Grund der Einsturzgefahr nicht bergen konnte.