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Nachricht vom Mörder
Das Telefon klingelte.
Müde von der Arbeit griff er zum Hörer und nahm ihn ab, führte ihn zu seinem runzligen Ohr und sagte fast einschläfernd: „Was gibt´s?“
„Detective, wir haben eine Leiche!“, sagte die raue Stimme am anderen Ende, als wäre es das Natürlichste der Welt. Was für diesen Beruf auch zutraf.
„Wo?“, fragte Jones genervt.
„Am Finnley, kurz vor der Boardenbridge“, berichtete die Stimme am Telefon.
„Bin gleich da“, murmelte er, klatschte den Hörer auf die Gabel, ohne eine Antwort abzuwarten und hievte sich aus seinem Sessel, hinter einem Chaos von Schreibtisch. Noch einen letzten Zug von der kubanischen Zigarre, von der er anschließend die Glut abknipste. Dann schnappte er sich seinen Mantel und stackste auch dem von würzigem Rauch erfüllten Büro.
„Der lag dabei und ist an Sie adressiert“, sagte die gleiche Stimme, die er am Telefon vernommen hatte. Sie gehörte einem jungen Agent, der Jones einen blutverschmierten Brief entgegen hielt.
Schweigend zupfte Jones den Brief aus der Hand seines Kollegen. Während er ihn öffnete stapfte er durch das Gras zum Ufer hinab, wo sich ihm ein grauenvolles, wenn auch mittlerweile vertrautes Bild bot. Halb im Wasser, halb im Morast lag eine nackte Frauenleiche, deren Körper bereits blau vor Kälte war. Haut und Haare waren mit Schlamm und Blut verschmiert, zerschnittene Haarfetzen lagen überall verstreut. Ihre Augen waren weit aufgerissen und von einem entsetzten Blick erfüllt.
Jones wandte sich dem Brief zu. In verschnörkelter Schrift las er: „Guten Morgen, Detective. Hatten Sie eine spannende Nacht? Ich muss sagen, ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen, wo Sie doch so hart arbeiten, es aber immer noch nicht geschafft haben – nach all den Jahren – meine Spur aufzunehmen und in meine Nähe zu gelangen. Aber Sie hängen ja noch nicht einmal an meinem Arsch. Sie sollten sich ein wenig mehr anstrengen, Detective, sonst wird es noch böse enden ...“
„Von wegen böse enden“, warf der junge Agent ein. „Wie bezeichnet er dann das hier?“ Er zeigte auf die Leiche, die gerade von allen Seiten fotografiert wurde.
Jones sagte nichts. Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Manteltasche, bevor er zu der Leiche hinüber watete. Mit Gummihandschuhen und einem Kuli bewaffnet sah er sich die Frau genau an. Als sein Blick dann auf ihre Stirn wanderte und dort verharrte, fragte der Agent: „Was ist das?“
Jones sagte kein Wort. Ihm ging der Wichtigtuer allmählich auf die Nerven. Seit einem Jahr klebte er ihm an den Versen wie ein Kaugummi. Abschütteln konnte er ihn nicht: er war sein Lehrling, ihm unterstellt für diesen einen Fall, an dem er einfach nicht weiter kam. Blinkey war ein arroganter Kerl, der glaubte, jede Regel des Verbrechens zu kennen und jeden Täter sofort überführen zu können.
Jones strich der Leiche mit dem Kuli ein paar Haare von der Stirn. „Ach du Schande“, sagte Blinkey entsetzt, der in die Hocke gegangen war, aber sofort wieder aufstand. Jones beachtete ihn nicht. Seine Konzentration lag einzig und allein auf der Stirn der Leiche.
„Caruso!“, rief er, „Machen Sie eine Aufnahme davon.“
Der Mann, der sich angesprochen fühlte, eilte mit einer Kamera herbei und fotografierte die Stirn aus jeder Richtung. In ihr waren seltsame Striemen eingeritzt.
„Jemand muss ihr mit einem Messer oder einem anderen spitzen Gegenstand diese Linien in die Haut geritzt haben“, sagte Jones und schaute genauer hin. „Es ist ein Zeichen.“
„Was für ein Zeichen?“, wollte Blinkey wissen.
„Sieht aus wie ein asiatisches Schriftzeichen.“ Er stöhnte. „Schicken Sie das ins Labor und suchen Sie jemanden, der die asiatische Kultur kennt und vielleicht sogar die Sprache beherrscht – welche auch immer es ist“, wandte er sich an den Mann mit der Kamera.
Blinkey kaute auf seiner Lippe herum und hatte die Hände in die Hüften gestemmt, wobei er seine graue Anzugjacke nach hinten schob. „Also ... ich denke, da es nur ein Zeichen ist, könnte es eine Ziffer sein oder nur ein Wort.“
„Das werden wir bald herausfinden“, sagte Jones und kam aus der Hocke hoch. Nach einem letzten Blick auf die Frauenleiche trottete er zu seinem Wagen zurück.
„Hey, Jones“, rief ihm jemand entgegen. Er blieb stehen. Ein Mann kam ihm entgegen gerannt. „Wir haben hier was. Eine Augenzeugin berichtet, sie hätte jemanden gesehen.“
„Konnte Sie die Person beschreiben?“
„Nicht direkt. Sie sagte, es war ziemlich dunkel, als Sie da oben entlang gelaufen ist. Aber Sie glaubt, dass es ein junger Mann war, der viel Kraft gehabt haben musste, da er etwas schweres getragen hätte.“
Jones runzelte die Stirn. „Hat Sie nicht gesagt, dass es ziemlich dunkel war?“ Der Mann nickte. „Hat Sie erwähnt, warum Sie zu so früher Stunde, wo die halbe Stadt noch in den Betten lungert, unterwegs war?“
„Sie war mit Ihrem Hund unterwegs“, meinte der Mann.
„Hm“, brummte Jones. „Danke.“
„Gibt´s was Neues?“, fragte Blinkey, der angestapft kam wie ein hochrangiger Agent, die Hände in den Taschen vergraben.
„Wir haben eine Zeugin, die behauptet alles gesehen zu haben. Nur den Täter konnte Sie nicht direkt beschreiben.“ Er blickte die Böschung hinauf. Die Natur hatte hier ganze Arbeit geleistet. Wirres Gestrüpp, hohe Büsche und alte Bäume tummelten sich hier wie Menschen auf einem Jahrmarkt. „Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht hat?“
„Was denn?“, fragte Blinkey neugierig.
„Den Täter sehen zu können, wo sie doch auf dem Fußweg, der sich einige Meter hinter der Böschung befindet, spaziert ist.“
„Seltsam nicht wahr!“, ließ Blinkey hochnäsig hören. Jones machte kehrt und ließ seinen Lehrling stehen, der ihn abwertend hinter her schaute.
Eine Stunde später klingelte das Telefon. „Jones, wir haben die Bedeutung des Zeichens. Es ist Chinesisch und eine Ziffer. Eine 4.“ „Eine 4?“, fragte Jones ungläubig. „Allerdings.“ „Danke, Laster.“ „Gern geschehen, Jones.“
Die ganze Woche dachte er über diese Ziffer nach und was sie wohl bedeuten könnte, als in der Frühe erneut das Telefon klingelte. Jones nahm ab.
„Wir haben eine weitere Leiche gefunden“, sagte der Mann am Telefon.
Jones erfuhr, dass es sich um die Zeugin handelte, die den Täter gesehen hatte. Auch Sie hatte eine chinesische Ziffer eingraviert bekommen: die Ziffer 3. Anbei fand man einen weiteren Brief, der an ihn gerichtet war. In ihm stand: „Sie enttäuschen mich, Detective. Diese arme alte Frau hätte nicht sterben müssen, wenn Sie Ihren Job richtig gemacht hätten. Ihnen geht wohl langsam die Puste aus? Haben Sie die Zeichen entziffert, Detective? Die Uhr tickt. Wenn Sie sich nicht beeilen, wird sie für Sie nie wieder ticken ...“ Jones verzweifelte allmählich. Bereits seit 2 Jahren war er hinter diesem Mistkerl her, aber es gelang ihm einfach nicht, ihn zu fassen. Eine Woche später klingelte erneut das Telefon. Eine weitere Leiche wurde gefunden. Sie trug die Ziffer 2. Es war wieder ein Brief bei der Leiche, in dem Stand: „Die Zeit verrinnt.“
„Erfreuliche Nachrichten“, rief Blinkey völlig aus dem Häuschen. „Wir haben ihn.“
Man hatte einen Jugendlichen, auf den die ungenaue Beschreibung der Zeugin passte, in der Nähe der Boardenbridge erwischt, wie er um den Tatort herumgeschlichen war. Jetzt saß er völlig ängstlich und zitternd in einem Polizeiwagen, redete mit sich selbst und schaute in die Leere. Aufgrund seines instabilen Zustandes musste man ihn in die Psychiatrie einliefern.
Eine Woche später erschrak Jones, als das Telefon um 5 Uhr morgens anschlug. Er zögerte, nahm dann aber doch ab. Ihm wurde ein weiterer Mord berichtet. Eine junge Frau mit einer chinesischen Ziffer auf der Stirn: einer 1. Die Nachricht, die dabei lag, war auf einem Notizblock notiert worden, den Jones seit einer Woche vermisste, und sein Kuli steckte daran fest. Auf dem Zettel stand: „Tick, Tack.“ Es war also so weit, einen nächsten Anruf in seinem Büro würde es nicht geben. Doch es klingelte noch ein letztes Mal. Jones führte zaghaft den Hörer an sein Ohr. „Hallo Detective“, sagte eine Stimme, die ihm irgendwie vertraut vor kam. „Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?“ Er schwieg. Eine Tür knarrte. Seine Augen huschten wachsam durch den Raum, der nur von seiner Schreibtischlampe erhellt wurde. Er legte den Hörer beiseite und griff hinter seinen Rücken. „Na, na, Detective. Sie werden doch wohl keine Dummheiten machen, so kurz vor dem Ziel. Sie sind so nah dran.“
„Wieso?“
„Wieso was?“
„Wieso haben Sie mir Nachrichten hinterlassen und wollten, dass ich Sie finde?“
„Das Sie das nicht erraten haben.“
Jones schwieg. Der Mann trat aus dem Schatten hervor. In seinem grauen Anzug sah er aus wie ein hochrangiger Beamter, der zu faul war, sich die Finger schmutzig zu machen. In seiner Hand hielt er eine 38-er, die auf Jones zielte. Es war Blinkey.
„Seit ich bei Ihnen bin, Detective, behandeln Sie mich wie Luft. Ich bin ein Stück Scheiße, die an Ihrem Schuh klebt. Sie haben mich abgestoßen und Tag für Tag niedergemacht. Von Ihnen hätte ich mehr über die Arbeit eines Kommissars lernen sollen, aber Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das ist jetzt vorbei. Sie haben mich enttäuscht und diese Enttäuschung werden Sie mir wieder nehmen. Leben Sie wohl, Jones.“ Er entsicherte die Waffe und ... Schüsse hallten durch den Raum. Dann kehrte Stille ein. Blinkey hatte die Augen entsetzt aufgerissen und atmete nicht. Mit einem dumpfen Aufprall fiel er zu Boden. Blut krabbelte unter seinem Körper hervor.
Jones hustete. Er war getroffen wurden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte er auf Blinkey hinab. „Jetzt hast du mir meine Enttäuschung genommen.“