Nacht
Nacht
Der Wecker klingelte und Leon konnte gar nicht glauben, dass die Nacht bereits zu Ende war. „Warum“, fragte er sich, „erscheinen mir die Tage so lang und die Nächte so kurz? Es liegt wohl am Erlebten. In der Nacht erlebe ich nichts und am Tag… Na ja, so viel erlebe ich da auch nicht. Das Erlebte ist also in beiden Zeitabschnitten ungefähr gleich und doch empfinde ich die Nacht kürzer als den Tag. Es liegt wohl am Bewusstsein. Die Nacht erlebe ich unbewusst, denn ich schlafe ja. Den Tag erlebe ich bewusst, denn ich bin wach.“
Leon war mit seinem Leben nicht zufrieden. Er wollte nicht so recht in diese Welt passen und eigentlich versuchte er es auch nicht. Schon vor Jahren hatte er damit abgeschlossen, auf diesem Erdball noch etwas zu erreichen. Von den Menschen hatte er sich abgewendet. Seine Zukunft war in seinem Kopf nicht existent, denn für ihn gab es keine Zukunft. Nur einen Tag nach dem anderen. Und dazwischen die ihm so willkommenen Nächte. Bei den wenigen Menschen, die ihn kannten, war er als sehr hilfsbereit bekannt. Besonders die alte Dame, die er betreute, wusste seine Hilfe sehr zu schätzen. Sie war der einzige Mensch in seinem Leben, für den es sich noch zu leben lohnte. Sie war so voller Dankbarkeit und Liebe. Sie akzeptierte seine Eigenart. Sie war das wenige, was er am Tage bewusst erlebte und erleben wollte. Er wusste, dass die Tage immer weniger wurden, in denen ihm die alte Dame seine Existenz sinnvoll erscheinen ließ. An ein Ende dieser Zeit wagte er nicht zu denken.Worin dann den Sinn seines Lebens suchen? Womit sein Bewusstsein füttern?
Leon hatte eine Weile über die Länge der Nächte und Tage gegrübelt, als sein Telefon klingelte. … „Ja, ich bin dran. ......................................Ich danke Ihnen für die Auskunft ….............. Nein, mir geht es gut.“ Leon legte auf, setzte sich und starrte ins Nichts. Dann zog er sich an und verließ das Haus. Er stand neben einem jüngeren Mann. Beide wollten sie die Straße fernab der Kreuzung überqueren. Als der Mann trotz eines nahenden LKW zum Gehen ansetzte, rief Leon ein lautes „Halt“ und der Mann nickte ihm dankend zu und blieb stehen. Leon nickte freundlich zurück und lief … Geradewegs in die ewige Nacht…