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Nachtflug
Wenn die Nacht erwacht, erwache auch ich. Viele glauben, die Stadt ginge schlafen, wenn es dunkel wird, doch sie sehen nur nicht richtig hin. Sie schließen von sich auf andere, nehmen ihre Ängste als Anlaß zu irrigem Glauben. Nein, die Nacht ist lebendig, lebendiger als der Tag. Kommt, folgt mir und seht, was in der Nacht in Hamburg geschieht, ich nehme euch mit auf einen Nachtflug:
Pulsierendes Leben findet man auf dem Kiez, doch das weiß jeder, das ist nicht neu. Ich zeige euch die ruhigen Ecken, lebendig wie nie. Im Stadtpark flüstert ein Pärchen Verliebtes, es nimmt uns nicht wahr. Psst, leise, daß wir sie nicht stören! Dort unten, am Elbstrand, sitzen Verzweifelte neben Zweiflern. Sie unterscheiden sich nur in einem Punkt: die einen wissen, wie schlecht die Welt ist, die anderen wollen es nur noch nicht glauben. Verbunden werden sie durch zahllose geleerte Flaschen, gerauchte Kippen und diesen hoffnungslosen Blick. Sie sind harmlos, morgen schon gehen sie wieder ihrer Tätigkeit nach, wissen nichts mehr von nächtlicher Sehnsucht.
An den Landungsbrücken sitzen und liegen sie, die Penner, Berber, Stadtstreicher genannten. Hier ist das Leben in seiner reinsten Form vorhanden: Karg ist das Nachtlager und kalt, eisig der Wind auch im Sommer und löchrig die Decken. Nah sind sie zusammengerückt, geben sich Wärme und Schutz, bewacht von ihren treuen Freunden, den Hunden. Ich winke einen Gruß, müde winken sie zurück. Sie kennen mich schon, wissen, daß von mir keine Gefahr droht. Wir fliegen zum Michel, Wahrzeichen der Stadt. Oben auf dem Turm schlägt einsam alle Viertelstunde die Glocke, Heimatklang für jeden, der hier im Viertel wohnt. Die Tauben hier machen ihrem Namen alle Ehre, das Dröhnen nehmen sie kaum noch wahr.
Vorbei geht unser Flug an Fenstern, offenen und geschlossenen, erleuchteten und verdunkelten. Hinter jedem von ihnen ist ein Mensch, ein Schicksal, welches nur wenige kennen. Wir fliegen weiter zu den Fleeten, schauen uns die Schiffe an, die leise im Dunkeln schunkeln und sehen Menschen, die aus dem Theaterschiff kommen. Lachend, nachdenklich, sich umarmend und sich voneinander distanzierend, aber alle mit dem Wissen, etwas von dieser Nacht mitgenommen zu haben. Sie atmen die Luft ein, tief und genußvoll und erfreuen sich an ihrer kühlen Reinheit. Hier in der Stadt ist dieses Lebenszeichen nur noch in der Nacht zu erkennen, am Tage ist die Luft abgasgeschwängert.
Zwei junge Mädchen kommen lachend die Straße herunter, sie trinken gemeinsam aus einer Weinflasche und reden über ihre Freunde. Wenn man sie so hört, scheinen jene unglaubliche Versager zu sein, trotzdem lieben die Mädchen sie, kann man ihren Worten glauben.
Wie geht es weiter? Wohin nun?
Auf der anderen Seite der Elbe die Speicherstadt. Hier ruhen Gewürze neben Kaffee, Kautschuk breitet sich neben Teppichen aus. Doch auch die eine oder andere Ausstellung ist hier zu Gast, lockt Besucher der Weltstadt mit Herz in die Tiefen ihrer Seele. Jetzt in der Nacht ist alles ruhig, nur hier und da das Rascheln einer Ratte und das Lallen eines verirrten Trinkers.
Weiter, laßt uns weiterfliegen, die Stadt hat noch so viel zu zeigen und die Nacht ist kurz! Altona, eine Welt für sich. Hier leben die Outlaws neben Studenten, in Kneipen sitzen sie und zeigen sich ihre Welten. Auch nachts ist es hier nie still. Schaut, in der Fabrik ist noch eine Party, wollen wir sehen, wie sie tanzen und lachen und trinken und vergessen, wer sie tagsüber sind? Für eine Nacht sind sie Teile der Masse, homogenisiert durch die Sucht nach Bewegung, nach Trance und nach Leben.
Auf der Straße zwei Männer, junge Türken, hier geboren. Hamburg ist Heimat ist Fremde ist Heimat. Altona ist bunt, hier ist Heimat auch für die Unerwünschten. Hier fallen sie nicht weiter auf, sind Bestandteil des Stadtteils. Ich sehe ihnen nach, ziehe weiter. Am Bauwagenplatz leben die letzten Hippies. Nein, heute sind sie Raver, Alternative, Junkies. Nicht jeder, doch mancher. Nachbarschaft ist hier am deutlichsten. Ist einer krank, sind alle da. Wer kann, der hilft. Fremde werden mißtrauisch angesehen, wer herkommt und nicht dazugehört, will entweder Drogen kaufen oder in den Zoo. Keiner wird gern angegafft, sie wehren sich durch Härte im Blick, in den Worten. Auch nachts stehen sie Wache, zu oft wurden sie belästigt.
Weiter, weiter, nicht verweilen. Die vornehmen Stadtteile, Nienstedten, Blankenese. Wer hier lebt, hat Kohle oder tut so. Hinter feinen Fassaden bröckelt der Putz. Eltern mit tollen Berufen, ohne Zeit für Kinder. Geld und teures Spielzeug, bei Achtzehnjährigen in Form eines Autos, sollen alle Schuld wieder gutmachen. Wer hier lebt, lebt in einer anderen Welt. Altona ist fern, nur wenige Kilometer, hunderte von Lichtjahren. Und doch: sieh hin! Ein Ehestreit, ein trauriges Mädchen am Fenster, voll Sehnsucht der Blick in die Sterne. Das Leben ist anderswo, sagt sie, liest sie, gebildet, aber nicht erfüllt.
Zurück in die Stadt. Hagenbeck. Eingesperrt und ihrer Vergangenheit beraubt leben hier hunderte verschiedener Tiere. Der schönste Zoo Europas? Vielleicht. Aber Tiere sollten frei sein, wie der Wind, wie der Adler. Betondinosaurier lassen die Welt hier bizarr erscheinen.
Am Bahnhof prallen Welten aufeinander. Reisende mit gehetzten Blicken nehmen Junkies kaum wahr, wollen das Elend nicht sehen, fühlen sich schuldig und wollen die Schuld nicht. Ein junges Mädchen, noch lange nicht achtzehn, steigt in ein Auto; ob es ihre letzte Nacht sein wird? Weiter hinten in den Gassen St. Georgs setzt ein Kind sich den goldenen Schuß. Wer einmal die Droge in den Augen eines anderen sah, vergißt nie wieder diesen Blick.
Vom Kiez kommen Kids mit der ersten Bahn, fühlen sich stark und erwachsen. Müde werden sie sein, wenn morgen der Alltag beginnt, doch war der Spaß es wohl wert.
Bald nimmt unsere Reise ein Ende. Die Sonne schickt schon ihre ersten Strahlen, ich muß fort. Ich hoffe, ihr versteht, was ich euch zeigen, sagen wollte. Nehmt diese Nacht in euren Seelen mit euch und denkt hin und wieder daran, wenn ihr glaubt, ihr wärt einsam.