Nachtflug
Heino schleppt sie an. Sarah. Eins-siebzig, schwarze Haare, grüne Augen. Wir setzen uns an den Küchentisch. Ich hole den Wodka aus dem Kühlschrank und mische uns Drinks mit Eiswürfeln und Grapefruitsaft.
„Ich hab Sarah ein paar von deinen Geschichten gezeigt, und sie ist ganz erpicht darauf, dich kennen zu lernen“, sagt Heino.
„Wie kommst du an meine Geschichten?“
„Du hast mir neulich einen Packen davon mitgegeben.“
„Hab ich?“
„Du warst betrunken und meintest, dass die Welt noch nicht soweit sei und dass ich sie nach deinem Tod veröffentlichen lassen solle.“
„Das hab ich gesagt?“
Heino nickt. „Du warst der Meinung, dass du post-mortem weltberühmt werden würdest. Der Meinung bist du ja häufiger, wenn du zuviel getrunken hast.“
„Bin ich?“
„Das war der Abend, wo du mit herabgelassener Hose auf dem Balkon gestanden bist und `PENIS! PENIS!` gebrüllt hast.“
„Was hab ich?“
„Ja. An dem Abend, wo Heiner den mexikanischen Tequila mitbrachte, in dem diese ekelhafte Raupe herumschwamm, die du zum Schluss gegessen hast …“
„Oh, verdammt.“
„ … wo du Heiner immer wieder genötigt hast, sich diesen riesigen Latex-Dildo einzuführen, den du aus dem Schlafzimmer geholt hast.“
Ich stürze meinen Drink herunter und mixe mir einen neuen.
„Deine Geschichten sind verdammt stark“, sagt Sarah jetzt. „Sie stecken so voller Poesie und Alchemie. Ich habe selten so gute Dialoge gelesen.“
„Willst du damit sagen, dass sich Heiner das Ding eingeführt hat?“, will ich wissen.
Heino schüttelt den Kopf. „Natürlich nicht. Aber du warst schon ziemlich penetrant.“
„Wenn du übers Ficken schreibst, spüre ich die Liebe, die dahinter steckt“, sagt Sarah, die sich ebenfalls einen zweiten Drink mischt.
Ich starre sie an. „Wenn ich übers Ficken schreibe, schreibe ich übers Ficken.“
„Ich spüre das“, lächelt Sarah. „Wenn du Vagina statt Möse schreibst, dann spüre ich es.“
„In der Regel schreibe ich Vagina statt Möse, um mich nicht zu wiederholen“, kläre ich sie auf. „Manchmal schreibe ich auch Vulva.“
„Oh, mein Gott, dieses Wort …“ stöhnt Sarah und sieht mich mit ihren smaragdgrünen Augen an, „das ist doch reinste Poesie.“
„Naja, Heiner und ich haben uns schon gefragt, was du mit diesem Dildo so anstellst“, sagt Heino von der Seite.
„Dass Vulva poetisch klingt, war mir bisher noch nicht bewusst“, überlege ich.
„Es klingt so weich und geschmeidig, und es erinnert gleichzeitig an einen heißen Vulkan kurz vor der Eruption“, sagt Sarah.
„Nun ja, so gesehen …“
„Heiner hat das Ding irgendwann aus dem Fenster geworfen“, klärt Heino mich auf.
„Diese eine Geschichte, wo der Museumsnachtwächter mit der Mumie schläft, finde ich besonders tiefsinnig“, sagt Sarah und zündet sich eine Zigarette an. „Dieser zärtliche Akt als Sinnbild für den Wunsch nach Verschmelzung mit der Ewigkeit, das ist große Literatur.“
„Meinst du?“
Sarah nickt und setzt das Glas an ihre wohlgeformten Lippen.
„Wahrscheinlich ist das Ding irgendeinem Kerl vor die Füße gefallen, der es als einen Wink des Himmels angesehen hat“, lacht Heino.
Sarah steht auf und schaltet das Radio ein, das neben dem Toaster in der Ecke steht. Sie spielen „Street Life“ von den CRUSADERS. Sie dreht den Lautstärkeregler hoch und beginnt zu tanzen. Sie schüttelt die schwarze Lockenpracht und lässt ihren sagenhaften Körper schlingern. Sie sieht fantastisch aus in ihrer engen LEVI`S und dem fliederfarbenen Oberteil. Ich sitze da und weide mich an ihren schlangenhaften Bewegungen.
„Aber seltsam ist es schon, dass ein alleinstehender Mann einen dreißig Zentimeter langen Gummischwengel in seinem Schlafzimmer aufbewahrt“, meint Heino.
Es ist, als fließe der Rhythmus direkt in ihren Körper. Sarah hat es drauf. Ich bin wie paralysiert.
„Heiner meint, dass du vielleicht doppelt gepolt bist“, sagt Heino.
Sie beginnt sich langsam um die eigene Achse zu drehen, die Arme seitlich ausgestreckt. Sie legt den Kopf in den Nacken und singt den Text mit. „Street life, you can run away from time, street life, for a nickel, for a dime …”
“Bist du`s?”, fragt Heino.
Sie streckt die Arme in die Höhe und dreht sich schneller, wie eine kreiselnde Eiskunstläuferin, grazil und anmutig. Ihre Haare sirren durch die qualmgeschwängerte Luft. Und sie singt, laut und gut. „Street life, but you better not get old, street life, or you`re gonna feel so cold …”
“Bist du`s nun, oder nicht?”
„Was bin ich?“
„Na, doppelt gepolt.“
„Hä …?“
„Naja, wegen dem Gummischwengel.“
Sarah dreht sich immer noch. Und immer schneller. Sie erinnert mich an einen Derwisch, an einen wildgewordenen Schamanen. Ich frage mich, wann ihr wohl schwindelig wird, wann sie das Gleichgewicht verliert und mir die Küche vollkotzt.
„Weil du dir auch die Eier rasierst und so …“
Ich starre Heino an. „Was hat denn das damit zu tun, Mann?“
„Es deutet halt einiges darauf hin, sagt Heiner“, sagt Heino.
„Heiner ist ein gottverdammter Idiot“, sage ich.
Jetzt beginnt sie zu straucheln. Es ist, als werde sie aus ihrer Mitte gerissen. Sie schleudert zur Seite, reißt einen Stuhl um, knickt weg, fängt sich, taumelt nach hinten, durchschlägt die Küchenbalkontürscheibe, wankt ins Freie, gegen die Brüstung, kippt vorn über, verliert das Gleichgewicht und verschwindet in der Dunkelheit.
Heino und ich sitzen da und glotzen auf den Balkon hinaus.
„Scheiße, was war das denn?“, fragt Heino irgendwann.
„Ja, weiß auch nicht …“
„Du wohnst in der zweiten Etage, wenn mich nicht alles täuscht.“
Ich nicke.
Im Radio läuft eine alte Nummer von SPLIFF. Der Sound des Küchenradios ist miserabel.