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Nachtgedanken

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30.06.2001
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Nachtgedanken

Nachtgedanken

Von Oliver Drees


Der runde Vollmond strahlte durch die dunkle Wolkendecke der Nacht, die der Wind am Himmel langsam vor sich her scheuchte. Der silberne Schein der Wolkenränder sah faszinierend und bedrohlich zugleich aus. Es war einfach ein wunderbarer Blickfang, gerade dann, wenn man eh nichts bestimmtes vorhatte, einfach nur nachdenken und den Blick schweifen lassen. Doch der Anblick des Nachthimmels hielt mich gefangen, und in seinem Bann vergaß ich das Nachdenken. Erst das schmerzliche Verglimmen meiner Zigarette, die ich gedankenverloren zwischen meinen Fingern hielt, holte mich zurück aus der Hypnose, in der mich der Mond gefangen hielt.
Ich fluchte kurz, und schaute wieder über die Dächer der schlafenden Stadt. Viel zu sehen gab es nicht, es war gegen drei Uhr Nachts, und eigentlich ist es eine Kleinstadt, in der um Acht Uhr schon nichts mehr los ist.
Ich lehnte mich weiter aus dem Dachfenster heraus, wollte noch einmal einen Gesamteindruck dieser kleinen, beschissenen Stadt in mich aufnehmen, bevor ich das Fenster schloß, meine Sachen nahm, und verschwinden würde.
Der Fensterrahmen knirschte leise, als ich mich auf ihn stützte, ich erschrak kurz, ich wollte sie schließlich nicht wecken, aber das kontinuierliche Schnarchen beruhigte mich wieder.
Ich wollte schon längst weg sein, dachte ich bei mir, und zündete mir eine weitere Zigarette an.
Wieviel kann ein Mann ertragen? An Erniedrigungen, an Hohn, an purem Leben?
Nein, so geht es nicht mehr, ich muß weg, der Entschluß ist gefaßt, die kleine Tasche mit dem nötigsten gepackt, das Gefühl ist gut, der Zeitpunkt richtig.
Langsam zog ich an meiner mittlerweile zwölften Zigarette in den letzten Anderthalb Stunden. Drei Uhr dreiunddreißig!
Uhren sind unerbittlich, sie laufen einfach weiter, wenn man doch so gern die Zeit anhalten möchte, sie gehen langsamer, wenn man sich wünscht, daß sie vergeht, sie gehen schneller wenn es eine schöne Zeit ist, langsam, wenn es keine ist, und im Endeffekt verging die Zeit doch immer viel zu schnell. Rasend. Schmerzhaft rasend.
Zeit kann dein Feind sein.
Scheiße, ich bin doch erst sechsunddreißig, oder schon? Bin ich schon alt, oder bin ich noch jung? Mann, ich kann.. ich bin... shit...!!??!!
Konfuse Gedanken gingen mir durch den Kopf, es wurde immer später, die Wolken zogen immer schneller über die Erde hinweg...
Wind kam auf... Was gäbe ich darum eine Wolke zu sein, ein kurzes aber erlebnisreiches Leben... Mit dem Wind auf und davon, vom Winde verweht... ihr Lieblingsfilm!!!
Ich hörte noch immer ihr tiefes und regelmäßiges Schnarchen. Mann, daß Frauen so schnarchen können, ich dachte immer, das wäre den Männern vorbehalten, damit Frauen auch Nachts, wenn der Mann schläft, einen Grund haben, sich über ihn zu ärgern.
Ich schnarche nicht.
Wieder schaute ich zum Mond hinauf. Er war fast ganz von Wolken verdeckt, von Wolken mit Heiligenscheinen, silbern strahlenden Heiligenscheinen. Schön.
Ich drückte meine Zigarette auf einer Dachschindel aus. Drei Uhr zweiundvierzig.
Ich warte noch bis vier, dann starte ich. Spätestens, wenn ich die Glocken der Kirche um Vier höre.
Mein Blick wanderte zu der schwach vom Mond beleuchteten Kirchturmspitze, die wie ein warnendes Haupt über alle Dächer schwebte. Ich konnte so gerade eben das Kreuz auf der Spitze ausmachen, das mit dem Wald im Hintergrund verschmolz.
Zehn Jahre, vor zehn Jahren ging ich aus diese Kirche und war verheiratet.
Dummer Fehler, sehr dummer Fehler. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
Bilder der Vergangenheit schwirrten durch meinen Kopf, Bilder, die einst schön waren, jetzt jedoch nur noch einen Geschmack von Wut und Verbitterung hinterließen. Meine Augen füllten sich langsam mit Tränen, aber ich wollte nicht weinen. Ich hob meinen Kopf, schaute zum Himmel, um meine Tränen zurück zu drängen. Wieder erfaßte mich der Mond. Der Mond, so hell, so groß, so weit weg.
Ich muß die Kirchenglocken überhört haben, es war kurz nach vier, als ich meinen Kopf wieder senkte, mein Nacken tat weh, aber meine Augen waren trocken.
Ich mußte lächeln.
Nie habe ich vor Ihr geweint, niemals, ich war immer hart, hab ihr nie das Gefühl gegeben, ich sei ein Weichei, ein Softie oder anderes in der Richtung.
Hätte ich mal ihr gegenüber geweint, dann könnte ich es jetzt, um ihr zu zeigen, wie ich mich fühle. Nie tat ich es, jetzt kann ich es nicht mehr vor ihr.
Trotzdem nennt sie mich Weichei, Softie, sogar Feigling, Angsthase, Waschlappen, und, und,und...
Ich ballte meine Faust, daß es weh tat, diese Gedanken, raubten mir den letzten Nerv, ja ich mußte gehen, verschwinden, abhauen, untertauchen, frei sein, ich sein.
Jetzt mehr denn je! Was zuviel ist, ist zuviel, sie kann mich mal, soll sie alleine klar kommen, wird schon sehen, was sie eigentlich an mir hatte.
Wieder stand ich kurz vorm Heulen. Immer wenn ich an sie dachte, hätte ich so losheulen können, alles, was sie mir an den Kopf geworfen hat. Wenn ich darüber nachdachte, hätte ich so schreien können. Doch in den Momenten, in den sie es sagte, konnte ich es nicht. Ich schwieg. Ertrug Ihre Beleidigungen, schämte mich für meine Unfähigkeit, ihr zu sagen, was ich dachte, konnte nicht heulen, nichts.
Ich stand immer nur da, wie ein kleiner Idiot, die Worte regneten auf mich herab, und perlten ab. Erst später sog ich die Worte in mich auf, später, immer zu spät.
Dann war sie weg. Lachend fortgegangen. Und ich stand da, und fing an, zu begreifen. Jedesmal wieder, und jedesmal zu spät.
Mittlerweile war der Mond ein ganzes Stück gewandert, ich konnte die Kirchturmuhr erkennen, die nicht mehr im Schatten lag. Vier Uhr zwölf.
Ich hatte mir seid einer halben Stunde keine mehr geraucht, also zündete ich mir wieder eine an. Ich inhalierte tief und malte mir meine Zukunft aus.
Irgendwohin, wohin war egal, Hauptsache weit weg, ein Neuanfang.
Eine kleine Wohnung, ein netter neuer Job, Abends mal in eine Kneipe, öfter mal einen Trinken, eine neue Werkzeugbank für den Keller, neue Leute, neue Frauen, neues Leben.
Hey, ich verlange doch gar nicht viel vom Leben, nur ein klein wenig mehr, als ich jetzt habe. Ich verlange nur ein wenig mehr Leben.
Ich träumte von langen Abenden vorm Fernseher, alleine, aber dafür mit einer Flasche Bier, auch mal mitten in der Woche, einen spannenden Krimi lesen, ohne daß jemand meckert, daß ich nicht mit ihr spreche, von einer neuen Regalwand, die auf meiner neuen Werkbank entsteht...
So träumte ich von einem neuen Leben, besser gesagt, überhaupt von einem Leben, da ich seit zehn Jahren keines mehr hatte.
Der Mond zog weiter, die Zeit lief weiter, das Leben ging weiter, oder fing an.
Diese Zigarette noch, dann breche ich auf.
Ich fühlte kurz mit meiner Hand nach unten, ob meine Tasche noch da lag, wo ich sie hingelegt hatte. Natürlich war sie noch da, wer sollte sie auch weggenommen haben? So viele unbedeutende Handlungen macht der Mensch an einem Tag, aber etwas bedeutendes zu tun, das passiert weitaus seltener.
Ich ging im Kopf die Sachen durch, die sich darin befanden. Mein Sparbuch, naja, unseres, die Kontokarte, Bargeld, Papiere jeglicher Art, Hygieneartikel en Masse, eine kleine Kleidungsausstattung, nur für den Übergang, diverse persönliche Habseligkeiten, ein Foto von mir und meiner Ex-Freundin, die ich wegen ihr verlassen hatte, Autoschlüssel und mein Adressbuch.
Ich werde allen nach und nach Bescheid geben, aber schriftlich. Und erst sehr viel später.
Als ich an das Foto dachte, überkam mich das Verlangen, es mir anzusehen.
Betont vorsichtig, jeglichen Lärm vermeidend, öffnete ich meine Sporttasche, kramte sanft darin herum, bis ich es zwischen meinen Fingern spürte. Im Schein des Vollmondes konnte ich auf diesem Bild mehr ahnen als sehen, aber ich kannte es sehr gut. Ich schaute es mir in den letzten Jahren immer öfter an. Sie war schön, nicht so schön wie Sie, aber auch sie hatte ihre Reize. Habe sie verlassen, wegen einer noch attraktiveren Frau. Gott, war ich dumm. Ein schöner Teller macht noch lange nicht satt. Erst viel später begriff ich, daß der Charakter wichtiger ist.
Dabei hatte ich doch bereits so viel Erfahrung in solchen Dingen. So oft das Leid des gebrochenen Herzens, so oft Unstimmigkeiten gespürt, die unüberwindbar waren.
Ich dachte, ich würde in keine Falle mehr laufen, ich dachte, ich kenne mich aus. Doch den entscheidenden Fehler, den bereut man am längsten.
Ich verstaute das Foto wieder. Ich hatte nie wieder von ihr gehört, nachdem ich sie verlassen hatte. Wer weiß, was sie jetzt macht? Vielleicht ist sie mittlerweile verheiratet? Vielleicht auch nicht?
Ich nahm mir vor, sie anzurufen, sobald ich mich frei genug fühlte.
Vergangenheit. Sie läßt einen nie los, sie ist weit unerbittlicher als die Zeit, da sie bereits vergangen ist, und man nichts mehr ändern kann, so sehr man es sich auch wünscht.
Ich zündete mir eine weitere Zigarette an. Ich würde mir gleich auf dem Weg neue kaufen müssen, es war meine Vorletzte.
Der Vollmond war von keiner einzigen Wolke umgeben, er strahlte einfach so vor sich hin. Ob er glücklich ist?
Meine Gedanken verloren sich im Irrationalen, ich dachte an Engel, die uns beobachten, an Geister an unserer Seite, an verstorbene Freunde und Verwandte, und spekulierte, was sie wohl in dem Moment über mich dachten.
Die unerbittliche Zeit verging immer schneller. Es war mittlerweile viertel vor Fünf.
Ich schnippte die Zigarette in hohen Bogen auf das Nachbargrundstück, und nahm mir vor aufzubrechen, sobald die Schachtel leer ist. Es war sowieso nur noch eine Kippe drin, also brauchte ich eh Neue, die konnte ich ja dann gleich an der Tankstelle besorgen. Apropos tanken, war der Tank voll? Ich überprüfte in Gedanken das Auto, Öl, Wasser, Luftdruck. War alles okay? Schließlich wollte ich in dieser Nacht noch weit kommen.
Ich beschloß, daß alles beim Zigaretten holen zu erledigen.
Ihr regelmäßiges schnarchen steckte mich ein wenig mit Müdigkeit an. Ja, ein wenig müde war ich, schließlich bin ich schon seit Fünf Uhr auf.
Den ganzen Tag arbeiten, Abends nach Hause kommen und entspannen. Welch Wunschtraum.
Mach dies, mach das, erledige dieses, erledige jenes, nun sei nicht so faul.
Faul. Wenn einer faul war, dann jawohl sie. Keinen Job, keinen Haushalt, weil ich den auch noch erledigen mußte. Abends, nach der Arbeit, oder am Wochenende.
Sie lungert den ganzen Tag herum, quatscht mit ihren Freundinnen, geht mit ihnen aus, haut mein Geld auf den Kopf und macht sich auf meine Kosten ein feines Leben. Peggy Bundy lebt!!!
Sie hatte nie Lust zu arbeiten, keine Ausbildung, noch nicht einmal irgendein Interesse, nur auf ihren Vorteil bedacht. Zu spät habe ich gemerkt, daß sie durch mich ihre Schäfchen jetzt im Trockenen hat. Ich mußte sie versorgen, und das nicht zu knapp. War das immer ihr Ziel, ihr Plan des Lebens, sich einen suchen, der sie versorgt, damit sie ein sorgenfreies Leben hat? Einen, den sie tyrannisieren kann, manipulieren kann, verbiegen und brechen kann? Wenn ja, dann hat sie ihn gefunden. Ihr Plan des Lebens ist dann wohl aufgegangen. Meiner nicht.
Mal schauen, was sie ohne mich macht.
Fast verkrampft zog ich die letzte Zigarette aus der Schachtel, direkt nachdem ich die andere wieder beim Nachbarn entsorgte.
Vom Nachdenken kann man müde werden. Oder waren meine Augen so schwer, weil ich so oft kurz vor einem Weinkrampf war?
Weit hinten am Horizont konnte ich bereits die Morgendämmerung kommen sehen.
Ein recht blasses rot. Der Mond war bereits um einiges weiter gewandert.
Kein Wunder, viertel nach fünf. Samstagmorgen. Ich hing fast vier Stunden hier am Fenster rum. Und ich wollte längst weg sein.
Ich nahm die letzten Züge der Zigarette, schnippte sie auf das Autodach unseres Nachbarn, obwohl ich nie was gegen ihn hatte, nahm meine Tasche und setzte mich mit der Tasche im Schoß in den Wohnzimmersessel.
Langsam und sorgfältig leerte ich die Tasche, legte alles geordnet auf den Wohnzimmertisch während kein einziger Gedanke sich in meinem Kopf bemerkbar machte.
Ich stand auf und sortierte alles, was in den Wohnzimmerschrank gehörte, wieder in die richtigen Fächer, die Toilettenartikel brachte ich zurück ins Bad, das Foto legte ich in die unterste Schublade meines Schreibtisches und die Klamotten warf ich einfach so in den Wäschekorb am Eingang des Schlafzimmers.
Es hatte wieder nicht geklappt, war das einzige, was ich dachte, als ich mich langsam auszog, um mich zu meiner Frau ins Bett zu legen.
Erst als ich die Bettdecke zurückschlug, wachte sie auf.
„Ich hoffe Du hast Deine Tasche wieder ordentlich ausgepackt.“
Ich meinte ein höhnisches Grinsen gesehen zu haben, als sie sich wieder umdrehte.

 

Mit zwei Wörter ausgedrückt: einfach gelungen!
Nein, ehrlich. Das war eine sehr gute, tiefsinnige Kurzgeschichte. Mir ist während dem Lesen viel durch den Kopf gegangen und ich habe bemerkt, dass du (sorry, dass ich dich duze) viel niedergeschrieben hast, was ich auch ab und zu denke. Sie stimmt mich recht nachdenklich, deine Kurzgeschichte. Wirklich gut. Was mir besonders gefällt, sind die stehts widerkehrenden Abschweiffungen, die diese Person in der Geschichte in Gedanken macht. Es ist einfach eine Geschichte mit hoher Qualität und gehört zu den besseren, die ich bis jetzt gelesen habe.

Foxtown

 

Hallo Foxtown!

Erst einmal ein Danke für Dein Feedback. Ich hab mich sehr gefreut. Es tut gut ein positives Feedback zu bekommen, um ehrlich zu sein, ich bin ja fast rot geworden (wenn ich wüßte, wie man hier einen Smily setzt, wäre das die perfekte Stelle...).
Um ehrlich zu sein, Du hast mir damit eine Menge Scheu genommen.
Was das Duzen angeht, dafür könnte ich Dich... (wieder eine perfekte Stelle für einen Smily)!!!
War'n Fehler mein Alter im Profil anzugeben... Ne, mal im Ernst, ich bestehe geradezu auf`s Duzen, so alt fühle ich mich noch gar nicht...
Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die als nächstes mal hier reinstellen werde.
Da ich mir nach und nach einige Geschichten hier vorneheme, ist es ja Ehrensache, auch Dir mal ein Feedback zu geben. Nur rechne nicht allzu schnell damit, bin ein langsamer Leser (Aber ich bemühe mich)!
Also, mit bestem Gruß

... und ab dafür...

 

Hi, Oliver.

Wenn du einen Beitrag schreibst, gibt es direkt über dem Textfenster einen Link "Smilie-Liste öffnen".
Aus der Liste, die sich dann öffnet, kannst du dir einen Smily aussuchen, auf den du nur draufklicken brauchst, dann wird er in den Text eingefügt.

 

:o :mad: :mad:
??
Danke, für den Tip *freu*
:) :) :) :rolleyes: <IMG SRC="smilies/baeh.gif" border="0">
cool cool cool
...und doch so einfach...

mit verbindlichstem Dank...

 

*lächel*....frei im kopf, unfähig etwas in der realität zu ändern. die vergangenheit lässt einen in der tat nie los - und die unbeweglichkeit lässt einen in der gegenwart verharren und nicht in die zukunft gehen. bequemlichkeit fällt mir dazu auch noch ein. und die unfähigkeit den schritt ins ungewisse zu wagen.
sehr schön!
wenn auch aus der sicht eines mannes *zwinker*

herzlichst
a.

 

wenn auch aus der Sicht eines Mannes *zwinker*

...kann nicht anders... :rolleyes:


[Dieser Beitrag wurde von mir mehrmals wegen Unvermögens mit einem Zitat umzugehen editiert*fluch*]

 

Hi Oliver,
tolle Geschichte, gut erzählt.
Schön finde ich die Idee mit dem wandelnden Mond.

Leider weiß ich noch nicht, wie man das mit dem Zitieren macht *help*, deshalb so:

Sie war schön, nicht so schön wie Sie, - sie klein, sonst ist sie nicht so schön wie der Leser *g*

Gruß, Elisha

 

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