Mitglied
- Beitritt
- 08.07.2006
- Beiträge
- 4
Nachtgedanken
Ich sitze auf einem verwahrlosten Barhocker in einer verwahrlosten Kneipe. Es ist schon spät. So spät, dass nicht einmal der Stammtisch anwesend ist. Vielleicht liegt das aber auch daran, das der hochgeschätzte Wirt kein Bier mehr ausschenkt. Dafür gibt’s Milch. In Weizengläsern. Für Ein Euro Fünfzig.
Sie finden das absurd? Nun, vielleicht ist es das; aber mich schockt heute Abend nichts mehr. Seit Stunden versucht eine halbleere Jack Daniels Flasche im Schrank hinter dem Tresen gepflegte Konversation mit mir zu treiben. Sie wissen schon: „Wie geht’s der Familie? Das Wetter ist ja auch wieder herrlich, heute, nicht wahr? Und die ewigen Steuern ...“; na ja, und so weiter. Ich versuche mich abzulenken und schaue tiefer in meine Milch. Doch dabei grinst mich der Aschenbecher hämisch an, als will er sagen: „Du kannst es dir noch so sehr wünschen, aber aus deiner Milch wird kein Helles mehr!“.
Ich rauche eine Zigarette nach der anderen und stopf ihm das Maul. Besser fühle ich mich dadurch jedoch nicht. Selbst der Song, der leise im Raum ertönt, irgendeine alte Cat Stevens Schnulze, lässt mich nicht wie sonst verächtlich Grinsen, nein, er bewegt mich irgendwie. Ich ertappe mich dabei, wie ich leise mitsumme.
Gott, was ist los mit mir?! Ich sitz’ inner Kneipe, bekomme Tränen von Cat Stevens, ein dummer Gegenstand lacht mich aus und obendrein trinke ich Milch aus einem Weizenglas. Und was kommt morgen? Da werd’ ich wohl in eine Sekte eintreten, fürs Kinderhilfswerk spenden und Pullis stricken.
Aber vielleicht ist es ja wirklich an der Zeit mich solchen Dingen zu widmen. Bin ja schließlich nicht mehr die Jüngste mit meinen 78 Jahren. Ich könnte mich mal wieder um mein Enkelkinder kümmern. Kuchen backen, olle Kamellen von der Nachkriegszeit erzählen und tagein tagaus QVC gucken. Hach ja, ich glaub eine Kneipe ist wirklich nichts für ein altes Großmütterchen wie mich.
„Ich würde dann gern Zahlen, junger Mann.“
ENDE