- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Nachtlauf
Eisbaer saß auf seiner Seite an einem langen Schreibtisch und versuchte, sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. Immer wieder starrte er durch das Fenster über die Baumwipfel hinauf auf die Hänge des Watzmannes. Links von ihm zogen über einer Gipfelkette, die steinernes Meer genannt wurde, Wolken auf. Der Wind trieb sie rasch mit einem Donnergrollen voran, daß an den anderen Bergen wiederhallte Er zuckte innerlich zusammen. Bilder gingen durch seinen Kopf. Wie spät war es? Eisbaer sah auf die erlösende Uhr und auf den Kalender. Donnerstag – endlich eine Möglichkeit ohne trampen in das Tal nach Berchtesgaden zu kommen. Zu dieser Jahreszeit war es nicht immer einfach außerhalb der Schulzeiten rasch von einem Ort zum anderen zu kommen. „Was brauche ich für die kommende Woche aus dem Tal?“ fragte er sich. „Nichts.“ Eine innere Stimme beantwortete ihn seine Frage. „Nur eine Fahrkarte für das Wochenende.“
Eisbaer stand auf und wandte sich seinem Kleiderschrank am Fußende seines Bettes zu. Ohne große Gedanken nahm er sich einen Sportbeutel und steckte die wenigen Altglas- und Pfandflaschen hinein, die ihn schon seit langem störten. Gedankenverloren packte er eine Unterhose, ein T – Shirt, seine Tabakspfeife und alles was er sonst noch brauchte. Leise öffnete er die Tür von seines Zimmers und sah auf den langen Flur. Im alterwürdigen Haus war es immer noch still. Der Flur kam ihm unendlich lang vor, während er sich den Gang entlang schlich. Eigentlich war noch Studienzeit; aber das war ihm jetzt egal. Es gab nichts mehr, was ihn bei seinen Büchern hielt. Kaum hatte er die Haustürklinke in die Hand genommen, hörte er das laute Brummen von Stühlen in den anderen Zimmern. Er beeilte sich, das Haus hinter sich zu lassen. Seine Augen drückten eine Mischung aus Trauer, unaussprechlicher Wut und einem gefühlten Chaos aus, das ihn immer weiter in einen Trancezustand hinein zog. Er folgte dem schmalen asphaltierten Weg, der nach vorne zu den anderen Häusern der Einrichtung führte. Die Luft roch schwül. Es grollte immer noch. Eisbaer blieb stehen und starrte hinauf auf die Steinwand eines Berges, der seit Menschengedenken „hohes Brett“ genannt wurde. Aus einen Auge floß eine Träne, die seine Empfindungen endgültig weg wischte.
Die Fahrt ins Tal war unerträglich lang. Eisbaer verbrachte sie schweigend. Endlich stand er in der Bahnhofshalle in der Warteschlange. Hatte er noch genug Geld für die morgige Heimfahrt? Er öffnete seinen Geldbeutel und zählte nach. Da waren noch einige Fahrtgutscheine von anderen Jugendlichen, die er wieder einmal in seiner grenzenlosen Gutmütigkeit angenommen hatte. Die Ausstellung der Fahrkarten war für beide Seiten Routine. Er bezahlte geistesabwesend und schlenderte auf die großen Türen zu, welche in Richtung der Gleise führten. Dort sah er auf den Fahrplan. „In zwölf Minuten fährt der nächste Zug in die Freiheit“ dachte er. Er sah sich noch einmal mit einem hohlen Blick in der Bahnhofshalle um. Es war eine letzte Vergewisserung, ob sich kein Mitschüler in Sichtweite befand. Er sah niemanden. „Nichts wie raus hier“ dachte er sich während er seine Finger auf den Türgriff legte, die sich abweisend und kühl anfühlte.
„Eisi! Eisbaer – warte! Bitte!“ Er zuckte zusammen und drehte sich langsam um, während eine Person auf ihn zu rannte. Vor ihm stand Julia, eine Mitschülerin. „Ich habe gehört, was Du am Fahrkartenschalter gesagt hast. Möchtest du das wirklich tun?“ Eisbaer nickte. Der imaginäre Kloß im Hals schnürte ihm beinahe die Kehle zu. „Ja“ preßte er hervor. „Ich gehe, weil ich es nicht länger ertragen kann.“ Dabei brach er in Tränen aus. Julia sah ihn mit ihren großen dunkelbraunen Augen an. „Ich möchte Dir noch etwas sagen. Zum einen hast du noch die Fahrkarten von Deinen Mitschülern.“ Eisbär gab sie ihr wortlos. „Danke“ antwortete Julia. „Wo willst du jetzt hin?“ Ihr gesamtes Gesicht strahlte große Sorge aus. „Zuerst einmal bis Freilassing. Und dann nach Westen oder Osten; nach Norden oder Süden. Ich weiß es noch nicht…“ Eisbaer hatte große Mühen, seine Fassung zu bewahren.
Julia sah ihn sehr ernst an und griff mit beiden Händen nach seinen Oberarmen. „Ich weiß, daß wir nicht immer einer Meinung waren. Ich weiß, daß wir uns sehr lange Zeit gestritten haben. Aber wenn du gehen mußt, dann geh und Paß bitte auf Dich auf. Du wirst mir fehlen!“ sie begann zu weinen. Eisbaer umarmte sie kurz und kräftig. „Mach es gut – Julchen. Und verrate bitte niemanden etwas davon.“ „Das mache ich“ flüsterte sie. Eisbär ließ die junge Frau los und rannte zum Zug. Der Schaffner hatte bereits zur Abfahrt gepfiffen. In letzter Sekunde erreichte er die Tür und stieg ein. Kaum war der Zug angefahren, hörte er noch einmal Julias Stimme in seinem Kopf. „Eisbaer – Eisbaer warte auf mich!“ Dieser Satz hallte ihm noch lange nach. Er starrte mit einem leeren Blick in den Regen, als könnte er die kleinen und großen Geröllkiesel auf den Berghängen mit bloßem Auge erkennen. Die ersten Stationen passierte er in kurzer Zeit: Bischofswiesen – Bad Reichenhall – Bayrisch Gmain – Piding. Wohin wollte er eigentlich? Eisbär dachte nach. Taktisch betrachtet standen ihm in München alle Möglichkeiten offen. Also stieg er erst einmal in den Regionalzug nach München. Dabei war er stets darauf bedacht, sich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten. Er war jetzt ein Ausreißer.
Die hereinbrechende Dunkelheit tat gut. Eisbaer saß immer noch im Zug in Richtung München Hauptbahnhof und hing seinen Gedanken nach. Was war eigentlich passiert?
Eigentlich war es ein Schultag gewesen, wie jeder andere auch. Er war pünktlich zum Unterricht erschienen, und hatte sich wie immer möglichst ruhig und unauffällig verhalten, um den Hänseleien und unangenehmen Aktionen seiner Mitschüler zu entgehen.Er war ein friedlicher junger Erwachsener mit knapp achtzehn Jahren. Seine dunkelbraunen Augen starrten weit hinaus in die Nacht und versuchten neben den Bildern in seinem Kopf einen markanten Landschaftspunkt zu erhaschen, damit er sich orientieren konnte. Sein Gefühl für Zeit und Raum versagte. Er begann mit offenen Augen zu träumen….
Der Flur in seiner Schule mit dem alten Nadelfilzboden. Das kleine Klassenzimmer für fünfzehn Schüler, in dem er direkt beim Eingang saß. Es war die kleine Pause gewesen, als die Peiniger aus seiner Klasse wieder einmal seine Sachen verschleppt hatten. Er hatte sich mit einer stoischen Gelassenheit auf seinen Stuhl gesetzt, bis sie ihn weiter provozierten. Dann war er nach draußen gegangen. Er wollte niemanden etwas tun. Seine Erziehung und seine Kenntnisse in den Kampfkünsten verbaten es ihm ausdrücklich, seine Beherrschung zu verlieren. „Ein guter Kämpfer handelt immer überlegt und Weise“ hatte er gelernt. „Ein guter Kämpfer wendet seine Kenntnisse ausschließlich an, wenn er mehr als einer Person gegenübersteht oder der Gegner eine Waffe gegen ihn einsetzt.“ Einer seiner Peiniger war ihm nach draußen gefolgt. Eisbaer starrte wie hypnotisiert an die Wand und gab sich alle Mühe, nicht einmal an eine Handgreiflichkeit, geschweige denn einen Kampf zu denken. Dann spürte er den ersten Schlag im Rücken, den er ignorierte. „Los – wehr dich endlich, du fetter Sack!“ rief sein Mitschüler.
Der zweite und dritte Schlag waren schon heftiger. Eisbär kämpfte zunehmend mit seiner Selbstdisziplin. Beim Vierten Schlag drehte er sich langsam um. In seinen Augen eiskalte Mordlust.
Mit einer eleganten Bewegung packte er seinen Peiniger an beiden Armen. Dieser entwand sich seinem festen Griff. Darauf hin faßte er ihn am Hals, wirbelte ihn herum und warf ihn mit einem dumpfen Knall gegen die Wand. Danach hob er ihn mit seinem rechten Arm einen knappen halben Meter nach Oben und drücke ihn gegen die Wand. Seine Finger krallten sich wie ein Schraubstock um den Kehlkopf seines Opfers. „Es ist genug!“ schrie er außer sich. „Es ist genug. Ich will das nicht mehr! Wie oft muß ich Dir das noch sagen. Wann werde ich endlich ernst genommen? Es ist genug!“ brüllte er. Je fester sein Griff wurde, desto ruhiger wurden seine Worte. Jegliche Gegenwehr seines Opfers war zwecklos. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe ihn die Ohnmacht empfing und ihm alles weitere Ersparte. Eisbär ließ ihn wie einen Kartoffelsack fallen und ging drei Schritte rückwärts. Um ihn herum stand eine Menschentraube von Mitschülern aus seiner Klasse. Der Schrecken stand ihnen in das Gesicht geschrieben. Beide Seiten waren fassungslos über diese Situation! Eisbär brüllte sie aus voller Brust an und ging zurück in das Klassenzimmer als ob nichts gewesen wäre. Dann packte ihn die Panik. Er rannte auf die Toilette und schloß sich in einer Kabine ein. Dort war er das erste Mal seit sehr langer Zeit unter Tränen zusammen gebrochen….
„Nächster Halt – München Ostbahnhof!“ schepperte es blechern aus dem Lautsprecher. Eisbaer schreckte hoch. Gleich war er in München. Es war Zeit, sich um seinen Verbleib Gedanken zu machen. Seine Uhr sagte ihm, daß er noch einige Stunden bis zum Zug nach Wien oder Paris überbrücken müßte. Oder sollte er den Orient - Express nehmen? Dieser Gedanke brachte eine große Portion Freiheit und Abenteuer mit sich. Eisbär sah sich schon als herunter gekommener Abenteurer auf einem Basar in Arabien. Er schüttelte sich und wägte die Alternativen ab.
Die Strecke zwischen München Ostbahnhof und München- Hauptbahnhof war unerträglich. Eisbär stieg als erster aus dem Zug und atmete den Duft seiner Freiheit ein. Auf dem Bahnsteig verfiel er wieder in Gedanken. Dieses Mal bildeten sie eine Mauer, welche ihn vor dem Erlebten schützen sollte. Er wollte nie wieder jemandem weh tun. Er wollte genauso wenig, daß ihm jemand irgendwann und irgendwo weh tat. Die letzten Fahrgäste hatten den Zug verlassen. Es war ihm niemand gefolgt. Der Müncher Hauptbahnhof war ein sogenannter Kopfbahnhof. Wenn er in einen anderen Zug steigen wollte, musste er zuerst in die Bahnhofshalle um die anderen Gleise zu erreichen. Eisbaer folgte gedankenlos dem Bahnsteig. „Hei – wo willst du hin?!“ fragte ihn eine sehr vertraute Stimme. Eisbaer ging weiter. Die Stimme rief seinen Namen. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. „Gut – dann geh dorthin, wo immer du willst. Aber ich möchte, daß Du mich ein letztes Mal ansiehst und daß Du weißt, daß es mir weh tut!“ Eisbär stoppte so heftig, daß seine Stiefel auf dem Steinplatten quietschten. Er drehte sich mit einer fliegenden Bewegung um. Sein Beutel fiel von seiner Schulter. Es war seine Mutter! Er sah sie lange an. Sie weinte. Er wischte sich drei Tränen aus den Augen. Sie ging einen kleinen Schritt auf ihn zu. Er folgte ihrem Beispiel. Dann rannte er in ihre Arme. Sein Körper zitterte in einem Nervenzusammenbruch. „Hallo – was machst du hier“ hauchte er. „Ich habe einen Anruf aus Berchtesgaden bekommen und suche nach Dir.“ Antwortete seine Mutter. „Wo willst du hin?“
Christian "Ryu - ki" S.