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Nachtschicht

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17.09.2007
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Nachtschicht

Nachtschicht

22.00 Uhr. Schichtbeginn. Fünf Minuten später geht mir das monotone Geräusch der Maschinen bereits auf die Nerven.
Dieses Schramm-Schramm des Klebebinders, das Pfft der Auslegemaschine, das, sich wahrscheinlich im 10.000 Hertz Bereich
befindliche, Surren der Fräse. Das Konglomerat dieser und unzähliger anderer Geräusche ertönt wie eine Perversion der Orffschen Klangkörper, eine Kakophonie in c-Moll.
Nervenaufreibend, nervtötend, stumpfsinnig.
Stumpfsinnig bedeutet wohl ein Abstumpfen der Sinne. Das darf nicht sein, denn die Sinne müssen scharf bleiben. Trotz der späten Stunde muss die Wahrnehmung eventueller Geräuschveränderungen oder das Begutachten der fertigen Bücher gewährleistet bleiben. Sollte die Symphonie des Stumpfsinns (wieder dieses Wort), zum Beispiel durch das harte „Klack“ der Notauslage oder das unerklärlich plötzlich auftretende Fressen der Bücher durch die Auslegemaschine, unterbrochen werden, so müssen die sich im Dämmerzustand befindlichen Sinne in Sekundenbruchteilen von 0 auf 100 hochgefahren werden.
Aber die eigentliche Arbeit ist der absolute Stumpfsinn (schon wieder). Dreieinhalb Minuten dauert es bis die Bücherstapel am Ende des Auslaufs hinunterfallen, was zu verhindern ist, aber nur 30 Sekunden die vierzehn Stapel schön geordnet auf eine Europalette abzusetzen. Also drei Minuten Zeit um über dies und das und jenes nachzudenken.
Über ständig besoffene, aber mittlerweile gekündigte, Mitarbeiter, über den Stand des FC Wacker in der Tabelle (letzter Platz). Habe ich mir eigentlich ein Abendessen, oder besser Frühstück, gekauft?
Zur Not hätte ich noch Tiefkühlpizza. Pizza und Cola zum Frühstück?
Warum nicht? Besser zur Pizza wäre allerdings ein Viertel Rot, oder zwei. Rotwein am Morgen. Macht mich das zum Säufer? Macht mich diese Arbeit zum Säufer? Oder mein schwacher Geist, der mich ja auch nicht aufhören lässt zu Rauchen.
Nein, ich habe kein Alkoholproblem. Werde das am Wochenende mit TT bei ein paar Bier und BacardiColas ausdiskutieren.
Patsch. Mehr als dreieinhalb Minuten nachgedacht, Bücher vom Ausleger gefallen. Egal. Aufheben, abstauben, aufstapeln.
Plötzlich ersterben die Geräusche, eins nach dem anderen, der Reihe nach. Wie bei Beethovens Abschiedssymphonie, ein Musiker nach dem anderen verlässt den Saal.
01.00 Uhr. Pause.
01.10 Uhr. Langsames Anschwellen des Lärmpegels.
Neuerlich Stumpfsinn. Eigentlich könnte diese Arbeit auch ein Schimpanse erledigen. Ein zweimonatiges Intensivtraining und täglich ein Kilo Bananen. Kostengünstig. Besitzt ein Affe die nötige feinmotorische Hand-Augen Koordination, um die Stapel genau im rechten Winkel auf die Palette abzusetzen? Interessanter Gedanke. Professor Grzimek hätte seine Freude. Wäre Schimpansenarbeit eigentlich erlaubt? Kinderarbeit nicht. Bei uns in Mitteleuropa wird sie zumindest nicht gern gesehen.
Klack! Jetzt ist es da, ein störendes Geräusch. Stau am Transportband, Bücher schieben sich in Bücher, heilloses Chaos. Eine Hundertstel Sekunde Reaktionszeit bleibt mir um die Vernichtung tausender
Jahrbücher zu verhindern. Heroisch stürze ich mich in die, sich vor mir wie eine Wand aus Papier auftürmenden, Broschüren. Mein geschultes Auge erkennt das Problem unter der Transportabdeckung.
Beherzt schiebe ich diese zurück und das Chaos ist perfekt. Die, von mir während der letzten zwei Nachtschichten, sorgfältig aufgestapelten und gegen eben diese Abdeckung gelehnten Bücher, rutschen, ihrem Halt entzogen, unter die Abdeckung und verhindern ein Schließen eben dieser. Was einen Neustart des gestoppten Dreimesserautomaten verhindert und zur Folge hat, dass tausende Jahrbücher weiter in die Vernichtung stürzen.
Na gut. Ich neige an dieser Stelle zur Übertreibung. Eigentlich haben der Maschinenführer E. und ich das Problem in wenigen Sekunden behoben. Keine Bücher wurden vernichtet, nur ihr endgültiger Zuschnitt etwas verzögert. Dank E. und mir. Ein Team wie Superrudi und Superstruppi.
Manisch Depressiv. Was heißt das eigentlich genau? Muss ich mal googeln. Bei Gelegenheit. Meine Bekannte H. glaubt sie sei es. Sie ist in letzter Zeit oft grundlos schlecht drauf.
Ich tippe auf Hormonstörung. Schilddrüsenunterfunktion.
Derpressiv-Depression. Klaro. Manisch-kommt das vom englischen maniac für verrückt oder vom lateinischen Manie, was eigentlich auch verrückt bedeutet. Also verrückte Depression. Kann eine Depri verrückt sein?
Oder ist der Depressive verrückt? Meine Bekannte ist jedenfalls nicht verrückt. Ein bisschen flippig, aber nicht verrückt. Somit muss die Depression verrückt sein.
Vielleicht bedeutet manisch aber auch etwas ganz anderes, Schilddrüsenunterfunktion möglicherweise.
Patsch. Wieder zu lange nachgedacht. Bücher am Boden. Ein Stapel, zwanzig Stück. Zwei kaputt, weil ich draufgetreten bin. Schönes Profil meine Schuhe. Arbeitsschuhe mit Stahlkappen, von denen die rechte immer noch verbogen ist, vom letzten Jahr als mich das Leimbecken hinterrücks angefallen hat. Wahrscheinlich die Rache des Klebebinders, weil ich in „Mistvieh“ und „Gute Laune Killer“ genannt habe. Kein Humor das Ding. Muss ansteckend sein, hier in der Halle des Stumpfsinns.
04.00 Uhr. Zweite Pause.
04.10 Uhr. Beim Seitenleimbecken wird ein Lager kaputt. In unregelmäßigen Abständen jault es Angst einflößend auf. Eine schöne Abwechslung. Genau wie das voll werden einer Palette. Zwei Minuten Abweichung von der stumpfsinnigen Routine. Palette tauschen, Palettenzettel anbringen, Palette aufschreiben. Eine neue Palette anfangen. Zehntausendneunhundertundzwanzig Bücher von denen sicher Neuntausendneunhundertundneunundneunzig beim Altpapier landen, recycelt werden und nächstes Jahr wieder hier landen. Frisch bedruckt. Ein stumpfsinniger Kreislauf.
05.55 Uhr. Schichtwechsel. Die Ablösung kommt. Wir brüllen uns ein „Guten Morgen“ und „Alles klar?“ zu.
06.00 Uhr. Nichts wie raus. Kopfhörer auf und volles Rohr Metal. Auch stumpfsinnig.

 

Hallo starport,

und erst einmal; herzlich Willkommen hier! ;)
Mich wundert's ehrlich gesagt, daß Du nicht mehr Kritiken für Deine Geschichte bekommen hast... Aber wie dem auch sei, dann lege ich mal los:

Mir haben die abgehakten Sätze sehr gut gefallen, sie wirken so, als würde im Takt der Maschinen gedacht werden. Ich habe die Geschichte allerdings etwas anders interpretiert als lea es getan hat und zwar so: Ein Intellektueller, der mit Maschinen arbeiten muß; ihm fehlt die Routine, er kommt aus dem Takt, verliert sich in seinen Gedanken. Daher auch Beethoven, c-Moll-Bezüge und am Ende die philosphischen Gedanken übers Manisch-Depressive. Das Stumpfsinnige holt ihn ein (Maschinen), bestimmt in gewisser Weise - wie ein Kreislauf - seine Gedankengänge (denkt er länger nach, als er darf, gerät die Produktion ins Stocken), die widerum von seiner mechanischen Tätigkeit abhängen.

Hat mir sehr gefallen.

Liebe Grüße
stephy

 

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