Nachtwache
Nachtwache
Szene 1
Ich stehe umringt von tausenden Menschen auf dem Marktplatz. Ich habe keine Erinnerung, wie ich hierhergekommen bin und zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es mir auch egal. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren.
Neben mir steht meine Familie. Das ist soweit ganz gut. Ich werde wie bekifft angelächelt - das ist nicht so gut.
Dann erinnere ich mich, dass ich vor drei Stunden aus der Psychatrie entlassen wurde. Auch das ist momentan ganz okay, wenngleich mich die Weite der Welt schockt. Und ich will meinen Augen nicht trauen, als ich mich umsehe:
An den Häuserfassaden prangen Schilder: „Willkommen in deinem neuen Leben“ – oh mein Gott. Weiter Schilder mit so Aufdrucken wie „Wir haben dich vermisst“, irgendwo hängt sogar ein Bild von mir und ich denke, ich spinne, aber das macht wohl nur die Sonne.
Ich blinzle gegen das Licht und greife nach einer Zigarette, die ich nicht habe – stattdessen sehe ich hilfesuchend meinen Vater an, der mich wie blöde angrinst.
Ich kratze ein bisschen an mir rum, Beine, Bauch, Kopf, das übliche Schema und setze auch ein unsicheres Lächeln auf. Dann nehme ich mir Zeit, die Menschen zu betrachten, die alle in meine Richtung schauen.
Es ist eine unhomogene, unheimliche Masse aus Menschen. Ich erkenne zunächst einen Pulk von hässlich uniformierten Polizisten, die hektisch telefonieren, was mir Angst macht und mich zum Weglaufen bewegen würde, würden mich nicht zwei Arme halten. Ich erkenne weiter eine Ansammlung sehr bunt gekleideter Menschen, die wie Clowns aussehen und von denen einige jonglieren. Ein Stück weiter steht ein Teil meiner sogenannten Familie, bei denen ich Geld bezahlen würde, um sie nicht weiter sehen zu müssen. Ich fühle dann immer so einen unbestimmten Drang, mich zu erbrechen.
Doch alles in allem ist die Masse zu groß, um überschaubar zu sein. Ich schätze sie so auf zwei bis dreitausend Menschen, und alle sind ausgelassen und in Partystimmung.
Ich kann den ganzen Trubel nicht wirklich verstehen. Ich versuche, mir die Zeit dafür zu nehmen, als meine Mutter mich am Arm drückt, sich im Rhythmus der alles überschattenden Trommelklänge wiegt und mich anlächelt:
„Guck mal, wer alles gekommen ist, um dich willkommen zu heißen.“
Ich: „Ich sehe schon.“
Etwas Unbestimmtes passiert mit der Menge. Es liegt daran, dass ihre Bewegungen schneller werden, als hätten sie Flügel. Die Gruppe Polizisten nickt mir zu, dann zucken sie zusammen, als ob jemand ihre Bewegungen steuern würde, schauen nach links und einen Sekundenbruchteil später rennen sie in diese Richtung.
Ich lenke meinen Blick dorthin, sehe aber gar nichts. Ich blicke weiter um mich, da sind meine Brüder, die Jump Style tanzen, und ich muss unwillkürlich lächeln.
Mein Lächeln erfriert, als ich die Truppe meiner Badmintonleute sehe und unter ihnen Klaus, der mir wissend zunickt. Ich zucke und schließe die Augen, in der Hoffnung, diesem Trubel nur für einen Moment zu entkommen. Ich schließe die Augen, und ein Schuss fällt.
Ich reiße sie auf.
Das Lächeln meiner Begleiter erstarrt. Die Menge bricht in Panik auseinander, wo gerade noch Leute jongliert haben, liegen jetzt Bälle auf dem Boden und Kinder werden niedergetrampelt.
Der Schuss kam aus der Richtung, in die die Polizisten gerannt sind. Ich starre ausdruckslos meinen Vater an, doch der sagt nichts, starrt nur wie paralysiert in die Menge. Meine Mutter stattdessen zerrt mich am Ärmel: „Wir müssen weg.“ Die Menge tobt, ich sehe Hass in ihren Gesichtern, und ich bin dankbar dafür, wieder in die Klinik zu dürfen.
Aber ich bekämpfe den Drang, reiße mich los und renne in Richtung der Polizisten. Meine Eltern verfolgen mich, sie schreien nein, aber ich bin schneller als sie, ich bin so schnell, dass ich nur wenige Sekunden brauche, um da zu sein.
Ein Polizist stellt sich mir in den Weg, doch ich ramme ihm meinen Ellbogen in die Rippen und das Problem ist gelöst. Ich fühle Blicke in meinem Rücken, doch das ist okay. Ich habe nur Augen für den Kerl mit der Waffe – und ich will Gerechtigkeit. Es ist mein Zellen-genosse, und das freut mich diebisch. Jetzt sehe ich auch das Opfer. Mein Herz zerbricht.
Dieser irre Typ lacht. Doch auch das ist okay. Er soll ruhig noch ein letztes Mal lachen dürfen, denn mir fehlen nur noch ein paar Schritte.
Doch dann stimmt auf einmal etwas nicht. Mir wird schwindlig, und das ist nicht normal. Ich halte in der Bewegung inne und sehe an mir herunter. Zwei Nadeln stecken in meinen Beinen, an denen Schnüre hängen, an denen ein Polizist hängt. Er drückt auf einem Taser herum.
Ich werde rasend, was auch an dem Strom liegen kann. Ich blicke auf diesen irren Bastard, der immer noch lacht und mittlerweile von den Polizisten entwaffnet wurde.
Aber ich bin noch nicht am Boden. Es ist noch nicht vorbei, noch nicht. In einem Anfall von Wahnsinn reiße ich mir den Taser aus den Beinen und ein ansehnliches Stück Fleisch gleich mit.
Das Lachen des irren Bastards erstarrt und ich nehme mir den Augenblick, um den Polizisten mit dem Taser anzugrinsen. Dann sind es nur noch zwei Schritte bis zu dem Irren und ich springe ihn an.
Endlich geht es los. Ich verpasse ihm einen Kopfstoß und er verliert sofort das Bewusstsein. Scheiße. Die Polizisten versuchen, mich loszureißen, doch ich bin wahnsinnig und außer Kontrolle, meine Fäuste suchen die Nase des Irren, ich bin völlig in Ekstase, als er blutverschmiert wieder leicht die Augen öffnet, und ich denke „Na endlich.“
Ich schreie ihn an, ich bespucke ihn, ich hämmere seinen Kopf auf den Bordstein, bis er nur noch Blut spuckt und dann, ganz sanft, lege ich ihm die Hand unter den Kopf und die andere um das Kinn, um ihm das Genick zu brechen.
Zwanzig Hände können mich nicht zurückhalten – aber eine beschissene Nadel kann es. Ich kenne das Gefühl, und ich weiß, dass mir nur noch ein Augenblick bleibt, bis ich nicht mehr kann, ich koste diesen Moment bis zum Letzten aus, doch dieser Bastard lacht immer noch.
Und dann, ganz plötzlich und mit einem Mal – Schwärze. Ich schlafe ein, das tiefe Lachen des Irren in meinen Ohren, und ich denke nur nein. Das warme Blut an meinen Händen rinnt herunter und ich bin nicht zufrieden, aber mehr konnte ich nicht tun.
Ich gebe mich der Schwärze hin.
Szene 2
Ich wache auf. Zu meinem Leidwesen in Krefeld, der Stadt meiner ungeliebten Verwandten. Die Häuserschluchten sind grau und der Boden, auf dem ich liege, ist kalt. Alles dreht sich und ich brauche einen Moment, um zu Bewusstsein zu kommen.
„Komm schon Junge, steh auf.“
Es ist die Stimme meines Vaters, und das ist gut. Er reicht mir die Hand und hilft mir auf die Beine. Ich bin ihm dankbar dafür.
Ich blicke an mir herunter. Kacke, Kacke, Kacke – ich trage weiße Anstaltskleidung. Ich kann es nicht glauben, es ist mir schon wieder passiert.
Doch für den Moment ist das zweitrangig. Ich versuche als Erstes wieder, mich zu orientieren. Da ist mein Vater, und das ist gut. Er schaut niedergeschlagen drein, aber damit komme ich zurecht. Auch er ist weiß gekleidet, und das wundert mich.
Es ist jetzt Abend. Ich überschlage, wie viele Stunden ich geschlafen haben muss, aber meinen Muskeln nach zu urteilen scheint es eher ein Tag als drei bis vier Stunden gewesen zu sein. Mein Kopf hämmert wie nach einer durchzechten Nacht, doch auch das kenne ich. Ich sehe gegen die Häuserwände, suche den Mond.
„Wie geht es dir?“ fragt er.
„Ganz gut. Den Umständen entsprechend.“ antworte ich, ohne mir im Klaren darüber zu sein, was ich damit meine.
Er nimmt mich am Arm und wir laufen ein Stück. Hier sind nicht viele Menschen unterwegs. Sie laufen mehr oder minder zielgerichtet – irgendetwas sticht mich, aber ich kann noch nicht benennen, was es ist. Ich schmunzle.
„Was machen wir in Krefeld? Du weißt, dass ich diese Stadt nicht mag.“ frage ich.
„Wir sehen uns die Stadt an. Was ist dagegen einzuwenden?“
„Ich weiß es nicht.“
Wir laufen weiter. Ich verkneife mir, zu fragen, warum auch er weiße Klamotten anhat, weil es wohl irgendetwas mit mir zu tun hat.
Mein Blick schweift ab, zu den Menschen hin. Da ist wieder eine Gruppe von Polizisten, die mich zu verfolgen scheint, und die wieder in ihre Funkgeräte fluchen. Ich blinzle, weil ich meinen Augen nicht traue und den Drogen, die noch in meinem Blut sind. Dann reißt mich ein Knall von hinten aus meiner Lethargie.
Ich drehe mich um und sehe einen schweren Autounfall. Die Wagen sind frontal aufeinandergeprallt, vermutlich tödlich für die beiden Insassen. Ich würde gerne helfen, aber ich weiß, dass ich es nicht kann, und so drehe ich mich wieder um, betrachte die Straßen, die wenigen fahrenden Autos, die geschäftig laufenden Menschen, die …
Moment. Denk einen Augenblick nach. Und dann ist es so klar, als hätte jemand mir die Augen geöffnet:
Nichts, aber auch wirklich gar nichts, bewegt sich.
Die Autos fahren nicht, nur die Räder bewegen sich. Die Menschen laufen nicht, sondern verharren in der Bewegung. Mir fällt die Kinnlade herunter, und in dieser gottverlassenen Einöde ist nicht einmal der schwere Autounfall passiert. Die Geräuschkulisse, die uns umgibt, stammt ganz und gar aus Lautsprechern.
Ich sehe meinen Vater an, und er grinst.
„Du hast es bemerkt, stimmt’s? Naja, aber das war ja auch bei Weitem noch nicht alles. Aber komm mal mit.“
Unfähig, die vielen Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brennen, folge ich ihm in eine kleine, dunkle Gasse, in der zwei Kinder spielen. Soweit ich es beurteilen kann, sehen sie vollkommen normal und lebendig aus, wie sie so spielen. Sie sprechen und lachen miteinander und der Anblick zwei normaler Kinder in dieser gottverlassenen Gegend macht mich froh.
Die Stimme ihrer Mutter unterbricht die Stille. Und ich kann nicht glauben, was ich spüre: Ich weiß, wie sie sich bewegen werden. Ich sehe sie im Zickzack durch die Gassen rennen, sehe jede Bewegung ihrer Arme voraus, und sie nehmen genau den Weg, den ich für sie vorausgesehen habe.
Ich sehe in einem Schaufenster eine Clownsfigur, die mir zuwinkt. Ich sehe meinen Vater an, der mich anlächelt.
„Du hast es gesehen, nicht?“ fragt er mich.
„Ja, das habe ich. Aber ich verstehe es nicht.“ antworte ich fröstelnd.
„Es ist nicht so schwer, wie du es dir vorstellst. Ich erkläre es dir: Es gibt jede Menge Menschen, die hierhin kommen und nicht das sehen würden, was du und ich sehen. Ich verrate es dir: Würde man meinen Vater hierhin bringen und er würde das sehen, was wir gesehen haben, würde er es für die Wirklichkeit halten. Es ist dann seine Wirklichkeit, seine Sicht auf die Welt – die Vorstellung, die er von ihr hat. Aber du hast keine Vorstellung von der Wirklichkeit, und deswegen siehst du sie, wie sie ist. Du hast nichts, das deinen Blick trübt, und das ist etwas, was uns von vielen Anderen unterscheidet. Und deshalb bist du hier.“
Er reicht mir eine Zigarette und zündet sie an. Mir dämmert nur langsam, was er mir sagen will.
„Dieser ganze Ort“ fährt er fort „ist nichts weiter als eine tote Stadt. Sie ist bei Weitem nicht so groß, wie du es dir vorstellst – man könnte sagen, es ist nur eine kleine Maskerade, ein Test, wenn du so willst. Nichts weiter. Erschaffen von Menschen, die noch weiter sehen können, als wir es uns jemals vorstellen können.“
„Wie lange gibt es diesen Ort schon?“ frage ich.
„Noch nicht lange, seit etwa 6 Wochen. Aber du musst schon zugeben, die Illusion ist zunächst beeindruckend – gerade nach dem, was du hinter dir hast, bin ich erstaunt, dass du sie so schnell durchschaut hast. Ach sieh mal, sie haben jemanden vorbeigebracht, der dich besuchen kommt.“
Ich schaue gebannt auf die Gasse, in der die Kinder verschwunden sind und sehe meinen Bruder heraus kommen. Ich bin erfreut und schließe ihn in die Arme.
„Wie geht es dir?“ frage ich.
„Ganz gut, und dir? Du siehst verwirrt aus.“ antwortet er.
„Du hast Recht, das bin ich auch. Aber was machst du hier? Wie bist du hergekommen? Und …“ ich breche ab, will ihn erst den Rest beantworten lassen.
„Naja, ich besuche dich, ist doch klar. Hergekommen bin ich mit dem Bus.“
Das war wenig ergiebig für mich, deshalb frage ich ihn, was ich eigentlich wissen will:
„Hast du es auch gesehen?“
„Sicher. War ja nicht so schwer. Als ich gemerkt habe, dass sie flüstern, war es mir sofort klar.“
Ich erstarre augenblicklich.
„Sie flüstern?“