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Nadja, die Meerjungfrau
Das Gerichtsgebäude ist ein großes und sehr altes Bauwerk. Die Mauern sind an manchen Stellen mit Reben oder Ranken, ja man könnte sogar sagen mit Lianen zugewachsen. Da das Gebäude so alt ist und nie saniert wurde, ist es sehr baufällig geworden. Ständig fällt irgendwo der Putz von den Wänden ab oder eine der Treppen in den zweiten Stock bekommt einen Riss und bricht zusammen. Das Gebäude hat übrigens nur zwei Stockwerke. Ganze Flügel des Alten Gerichtsgebäudes sind für Besucher gesperrt, denn es ist zu gefährlich sie zu betreten. Nicht mehr viele trauen sich noch hierher – die Mühlen der Justiz mahlen langsam und je länger man sich drinnen aufhält, desto größer ist die Gefahr durch den Boden zu brechen oder von einer grün tapezierten Wand erschlagen zu werden.
M. stand in einem lichtdurchfluteten Raum (die Fenster des Alten Gerichtsgebäudes sind sehr groß und lassen, obwohl manchmal von Reben oder sogar Ranken bedeckt, immer viel Licht in die Räume eindringen) und unterhielt sich mit seinem Rechtsanwalt und dessen beiden Assistenten. Der Raum war groß, wie es alle anderen Räume im Alten Gerichtsgebäude auch waren. Drei Schreibtische standen großzügig im Zimmer verteilt, mehrere Schränke an der Wand, daneben einige Stühle für Besucher. Es roch nach Aktenordnern, altem Kaffee und Rattengift.
Während er dem Rechtsanwalt zuhörte (hier hört doch eh keiner richtig zu, alle haben sie schon wunde Augen vom „ZUhöRen“), ertappte sich M. dabei, wie er glitzernde Staubpartikel beobachtete, die im Sonnenlicht schwebten. Er versuchte zu gähnen.
Der Anwalt und seine Helfer waren elegant gekleidet. An die Kanzleiluft gewöhnt, ertrugen sie nur schlecht die verhältnismäßig frische Luft, die von der Treppe kam.
„... stehen unsere Chancen ganz gut,“ schloss der Anwalt hüstelnd seinen Satz. M. bemerkte, dass er beim Sprechen ständig hinter seinen Rücken blickte und schon fiel es ihm ein: Er hatte beim Betreten des Raumes vergessen die Tür hinter sich zu schließen. Sogleich hörte er Geräusche, die von hinten kamen, und alle Vier drehten sich zur Tür.
Ein junges Mädchen kam die Treppe herauf, ihr wehendes, rotes Kleid hob sich bei jedem Sprung ganz leicht und senkte sich dann wieder. Für einen kurzen Augenblick sah sie M. neugierig in die Augen. M. erblickte den Schreck im ihrem Gesicht, als die Stufe, auf der sie landete, plötzlich nachgab und sie das Gleichgewicht verlieren ließ. Ihr Körper neigte sich gefährlich nach hinten, die ganze Treppe knarrte auffordernd und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht M. äußerst schnell die Tür geschlossen und sich wieder dem Gespräch zugewandt hätte.