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Nah und fern
Warum nur hatte der große Züchter beschlossen, dem Zufall ausgerechnet das Geschäft mit seinem Leben anzubieten?
„Vielleicht einen bunten Frühlingsstrauß?“
„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“
„Gestern waren es 10 Jahre, dass mein Herbert gestorben ist.“
„Unkraut vergeht nicht.“
„Ich liebe Lilien.“
„Liebe ist nur ein Wort.“
„Die Rosen sind heute besonders schön.“
„Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken.“
„Ich schneide Ihnen die Stiele noch frisch auf.“
Er legte das Messer an und spürte, wie die Klinge in die Haut eindrang. Er zog sie tiefer und tiefer durch das Fleisch und sah, wie der stinkende, eitrige Saft über seine Hände quoll. Immer weiter und weiter, bis er zuerst seine Stiefel, dann seine Schenkel und schließlich seine pochenden Lenden erreichte.
„Hallo Nick, ich hatte gehofft, dass du da bist.“
„Hallo, NahundFern, *michsehrgeschmeicheltfühl*. Wie geht’s dir heute?“
"Er kommt, liebster Nick. Morgen kommt er mich wieder besuchen. Ich bin ja so glücklich! Er möchte, dass ich für ihn koche. Dabei kann ich gar nicht kochen! *traurigguck*“
„Aber ich!!! Komm schon NahundFern, freu dich doch! Pass auf, das mit dem Kochen ist gar nicht so schlimm. Wenn er dich liebt, dann schmecken ihm auch durchgebratene Steaks! *grins*“
Jeden Abend warf er seinen Ekel vor all den verwelkten Gesprächen zusammen mit seinen schmutzigen Kleidern in den Wäschekorb. Nick drückte den Einschaltknopf am Computer und spürte, wie die Erregung in ihm aufstieg. Vor einigen Monaten hatten sie sich in diesem Chat kennengelernt. NahundFern. Er hatte sie nie gefragt, warum sie diesen Namen gewählt hatte. Sie war nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung oder einem lockeren Flirt gewesen, sondern brauchte einfach nur jemanden zum Reden. Mittlerweile war sie ihm so vertraut, als säße sie neben ihm. Sie sang und lachte, sie weinte und schrie, sie kicherte und streichelte dabei seine Finger. Sie berührte seinen Hals, huschte wie ein Hauch über seine Lippen. Er liebte sie, weil sie sein Band zum Leben war. Sie ritt auf ihm und seine Trunkenheit ließ ihm die Sinne schwinden. Aber der Rausch wollte ihn nicht erlösen. Nach jedem Abschied drückte der Kater schwerer auf seine Brust, riss neue, peinigende Spuren in sein Innerstes.
„Mach dich nicht lustig über mich, Nick, sondern hilf mir!!!“
„Na ja, vielleicht solltest du über einen leckeren Nachtisch nachdenken, hihihihihi! *gradschmutzigegedankenhab*“
„Nick! *gradganzsauerbin* Warum haben Männer immer nur das Eine im Kopf?“
„Die Liebe geht bei uns nicht nur durch den Magen, Herzchen. Wenn du nicht kochen kannst, probier’s eben mit deinen anderen weiblichen Stärken!“
Der Schmerz war kaum auszuhalten. Er benahm sich wie ein Idiot und trat blindlings auf ihre Gefühle ein. Warum wollte er sie auch noch verletzen? Er sah bereits die saftig-rote Falle, die Venus unwiderstehlich anlockte. Es würde nur wenige Sekunden dauern, bis die Ränder sich über ihrem zappelnden Körper geschlossen hatten. Die Pflanze würde ihre Zähne zusammenpressen und beginnen, das Fleisch gnadenlos zu zersetzen.
Er wusste, dass sie keine Frau war, die ohne Gefühle einfach mit einem Mann schlief. Sie hatten viele Abende damit zugebracht, über die Liebe zu sprechen. Bis ihr Geruch von ihm Besitz genommen hatte, hatte er dieses Gefühl nie gekannt. Er war ihr Freund geworden und jetzt war sie in diesen Lackaffen, diesen Schönling verliebt. 'Es sind seine Augen, Nick! Wenn wir uns ansehen, dann blicken wir uns in die Seele. Ganz tief.“ - „Wie schön, NahundFern. *freumichganzdollfürdich*“
Mit jeder Lüge verabscheute Nick diesen Mann, der all das hatte, was er selbst nicht besaß, mehr. Der mit seiner eitlen Selbstgefälligkeit und seinem Kompost aus abgestandenen Worten ihre Gefühle nährte. Warum lag den Menschen soviel an diesem Seelenmist? Dieser einfühlsame Scheißkerl würde blindlings den Punkt ihrer größten Verletzlichkeit finden. Hinterher schrieb sie ihm dann wieder. „Du bist so schön! Du bist die Sonne meines Lebens! Verdammt, Nick und dann fliegen sie einfach weiter in die nächste Galaxie und lassen dich verbrennen.“ Nick sehnte sich danach, die Hand auszustrecken und ihr durch die weichen Haare zu streichen.
„Nick, du bist ein Schwein!“
„Tschuldige, NahundFern, war echt nicht so gemeint. *aufknienumvergebungbitte*“
„Hey, tu das nie wieder, hörst du!“
Er wischte sich die Nässe von der Stirn und zwang sich dazu, ruhig zu atmen.
„Werd´ ich nicht, versprochen. O.k.? Jetzt mal ganz ruhig NahundFern! Pass auf, ich stelle dir ein wunderbares Menü zusammen. Mit Kochanleitung. Wird schon nichts schief gehen. *aufmunterndschau*“
„Danke, Nick. Ich liebe dich.“
„Sag nicht so was. Du kannst mich nicht lieben, du kennst mich doch gar nicht.“
„Doch, ich kenne dich. Niemandem kann ich meine Gedanken so frei und offen anvertrauen wie dir. Niemand weiß so viel über mich wie du.“
„Und was ist mit ihm?“
Nick riss ein Blütenblatt nach dem anderen ab. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.
„Spinnst du, Nick? Ich kann doch einem Mann, in den ich mich verliebt habe, nicht gleich alle meine dunklen Seiten verraten! *kicher*“
„Warum nicht? Hast du mir nicht gesagt, dass Ehrlichkeit und Vertrauen für dich in der Liebe das Wichtigste sind? Wovor hast du Angst, NahundFern???“
„Angst? Habe ich Angst? Ja, wahrscheinlich. Ich will ihn nicht verlieren, Nick, hörst du, nicht schon wieder!“
Sie war schön. Er hatte Schneeglöckchen immer geliebt. Sie berührten seine Schüchternheit. Ihr Körper war fein und pastellig und er träumte beinahe unaufhörlich davon, wie er seine Nase in ihre kleine Blüte tauchte und ihre Weißheit seine Einsamkeit vertrieb. Diese wunderbare, lebendige Süße, die in jede Faser, jeden Nerv eingedrungen, sein Begehren ins Unerträgliche steigerte. Er wurde immer kleiner, immer hässlicher. Er besaß schon lange keinen Spiegel mehr.
„Nick an Sonne! Nick an Sonne! Wir werden ihn verbrennen, NahundFern, hörst du? Die ersten Funken lässt du durch eine Consommé mit frischen Rosenblüten regnen. Anschließend ein bisschen Luft zufächeln: Frühlingssalat mit Veilchen. *Mmmmmmm* Jetzt gießt du Öl ins Feuer: in Weißwein gedünstete Seezunge mit Lavendelsauce. Und als Nachtisch Rosenwasser und Marzipan in einem Sorbet, das so verführerisch ist, dass er endgültig verglüht!“
„Oh, liebster, liebster Nick! Ich bin vollkommen sprachlos! Aber ich glaube, ich bleibe doch lieber bei den Steaks *lach* Ich würde dich gerne einmal kennen lernen. Wo wohnst du? Wollen wir uns nächstes Wochenende treffen? Dann kann ich dir persönlich erzählen, wie der Abend mit ihm war. *verlegenschau*“
„Das halte ich für keine gute Idee. Du würdest dich schrecklich mit mir langweilen.
„Ich stelle mir gerade vor, wie du aussiehst.“
„Ich bin klein, dick , hässlich und schüchtern.“
„*michvorlachenaufdembodenwälze* Das kann gar nicht sein! Wahre Schönheit kommt von innen, sagt man doch? Jemand, der so zartfühlend ist wie du, dem liegen die Frauen bestimmt reihenweise zu Füßen!“
„Muss jetzt Schluss machen. Bis dann, NahundFern.“
Er hatte gewusst, dass sie es war. Vor einigen Wochen war sie in seine Straße gezogen und seitdem kaufte sie jeden Freitag einen frischen Blumenstrauß. Er hatte sie am Duft ihrer Gedanken wiedererkannt. Sie war ihm unendlich nah und doch so fern, wenn er in seiner unerträglichen Beflissenheit mit ihr sprach. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ Seine Plumpheit beherrschte den Raum und er ächzte unter seinem unbeholfenen Lächeln.
„Hallo, da bin ich wieder. Ist das nicht ein herrlicher Tag? Heute möchte ich einen besonders schönen Strauß. Leuchtende Farben, orange, rot und gelb. Und Sonnenblumen müssen unbedingt dabei sein.“ „Natürlich. Selbstverständlich.“ Sie lächelte, während sie sprach und Nick spürte wieder, wie sehr er alles an ihr liebte. Plötzlich fühlte er sich frei, verlor seine Angst. „Was ich Sie schon immer fragen wollte. Darf ich Sie einmal zum Essen einladen? Ich koche nämlich sehr gerne. Ich habe da so eine Leidenschaft. Ich bereite am Liebsten alle Gerichte mit frischen Blütenblättern zu.“ Das Lächeln verließ ihr Gesicht und sie blickte ihn einen Moment lang still an. Nick sah ihre Gefühle von Entsetzen zu Enttäuschung wechseln. „Oh mein Gott! Nick? Du? Warum? Ich…ich hatte dir vertraut! Ich…du…“ Er folgte ihr mit seinem Blick zur Tür, über die Straße bis die Haustür Erbarmen mit ihm hatte.
Nick ging in seinen Garten. Er stand ganz ruhig da und atmete seine Verzweiflung aus. Langsam, Stück für Stück, legte er seine schmutzigen Kleider ab und begrub sich unter dem riesigen Haufen aus verwesenden Blättern, Wurzeln und Abfällen. Er lag einfach nur da und wartete, bis der Zufall sein Leben beenden würde.