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Narben
„Jetzt komm schon, steig ins Auto!“, höre ich seine rauchige Stimme hinter mir.
Doch ich bleibe, wo ich bin.
Und schließe die Augen und atme dreimal tief durch. Und kratze über meine Narbe im Nacken, direkt am Haaransatz.
Und drehe mich um. Steige ins Auto.
Und sage: „Wir können losfahren.“
„Was hast du solange dort gemacht?“, fragt er mich mit seiner Zigarren-Stimme. Und sein Leberfleck oberhalb der rechten Armbeuge tanzt mit seinen Muskeln auf und ab.
„Geatmet“, antworte ich.
Und er lacht. Und sagt: „Ja, ja.“
Und fährt los.
Und wir überholen den schwarzen Vogel, der neben uns her fliegt.
Es fing an, als ich geboren wurde.
Oder vielleicht fing es auch an, als mein Vater meiner Mutter ein Plastikring schenkte.
Oder auch als meine Urgroßmutter für neun Monate ihre Unterhose nicht mehr einmal monatlich mit Watte füllen musste.
Jedenfalls war die Einleitung vorbei, als meine Mutter erzählte, dass es bei meiner Geburt geregnet und bei der Geburt meiner Schwester die Sonne geschienen hatte.
Und als meine Schwester daraufhin gelacht hat. Und eigentlich sagen wollte: „Nimm dir ein Beispiel.“
So wie sie es immer sagte.
An diesem Abend war es kalt, ein kalter Herbstabend.
Und in mir loderte ein Feuer auf, ein nicht mehr zu stillendes Feuer. Ein Hass-Feuer.
Und ein Liebes-Feuer.
Denn Hass existiert nicht ohne Liebe.
Und dieses Feuer erlosch mit einem einzigen Schlag. Jahre später.
„Woran denkst du?“, fragt er mich.
Und ich schließe für einen kurzen Moment die Augen. Und frage mich selbst, woran ich denke. Und warum ich seine raue Stimme so mag.
„Ich denke an Anfänge, Enden und den Zeiten dazwischen.“
Er lächelt, ich kann es fühlen. Ich kann es sehen, ohne ihn anzuschauen.
Er lächelt und sagt: „Ach so.“
Und dann: „Erzählst du mir irgendwann, warum wir diese Fahrt überhaupt gemacht haben?“
Jetzt lächle ich. Denn er hat zugestimmt, ohne etwas zu fragen. Hat eine Reise auf sich genommen, um nach etwa einer Stunde wieder umzukehren. Ohne nach dem Grund zu fragen. Hat sich verfahren, stand im Stau. Und keine einzige Frage kam über seine Lippen.
Und jetzt fahren wir wieder nach Hause. Und jetzt fragt er.
„Irgendwann. Wenn wir beide genug Zeit für eine sehr lange und sehr komplizierte Geschichte haben“, sage ich und ziehe meine Beine an. Und schlinge meine Arme darum.
Mir ist plötzlich kalt geworden.
„Hm“, sagt er, „Also ich für meinen Teil fahre jetzt noch etwa vier Stunden und habe dabei nichts zu tun. Wie sieht es mit dir aus?“
Seine Grübchen in den Wangen vertiefen sich.
Und er trommelt mit der linken Handfläche ein paar Mal leicht auf das Lenkrad.
Ich mag seine Witze manchmal. Und manchmal mag ich sie nicht.
Und trotzdem grinse ich. Und sehe ihn dabei an.
„Wir haben meine Schwester besucht“, sage ich schließlich. Und das Grinsen fällt weg. Seins auch.
„Wieso jetzt?“, fragt er. Und sieht mich für ein paar Sekunden an.
Dann wendet er gezwungenermaßen seine Augen wieder der Straße vor ihm zu.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich einen Strich ziehen musste. Endlich. Vielleicht weil es mich nie loslässt. Vielleicht weil ich das einfach gerade brauchte.“
Ich halte meine Beine noch stärker fest, als würde im nächsten Moment jemand kommen und sie mir entreißen. Ich brauche meine Beine noch.
„Und hast du jetzt diesen Strich gezogen? Hast du bekommen, was du brauchtest?“, fragt er.
Und ich weiß keine Antwort.
Und sage deshalb auch nichts.
Irgendwann fange ich an zu erzählen.
„Sie war zwei Jahre älter als ich.
Sie hatte lange, schwarze Haare. Locken. Und sie wickelte immer eine Strähne davon um ihren Finger. Und genau wie ihre Strähne wickelte sie auch Menschen um den Finger.“
Ich erwarte, dass er lacht. Weil er doch oft lacht. Und gerne lacht. Und weil ich dabei auch gelacht habe, obwohl es nicht lustig ist.
Er schaut ernst auf die Fahrbahn.
Ich mag auch sein Schweigen.
Ja, sie wickelte Menschen um ihren Finger. Das konnte sie, darin war sie hervorragend.
Ich war nie etwas Besonderes. Immer normal. Meine Haare waren blassblond, nicht ausdrucksvoll schwarz. Und meine Schultern waren immer ein wenig hochgezogen. Ich ging nie aufrecht, wie sie.
Die Menschen kamen zu ihr, wollten sie kennen.
Nur ein paar nicht. Diese wenigen Menschen gehörten zu mir, mochten mich.
Bis die Finger kamen, die alles umwickelten.
„Als Kinder hatten wir immer diesen Satz. Diesen Satz, der jedem zeigen konnte, dass wir zusammengehörten. Zusammenhielten...“
Er runzelt die Stirn.
„Ich dachte immer, ihr mochtet euch nicht.“
Es klingt ein wenig wie eine Frage. Aber nur ein wenig.
Ich werde wütend. Jetzt muss ich mich rechtfertigen.
„Bei Schwestern geht es nicht um ‚mögen’“, sage ich.
„Worum dann?“
Ich schnaufe. Und kneife meinen Mund zusammen.
„Um Stärke. Und Zusammenhalt.“
Er schweigt.
Ich weiß, dass er nicht überzeugt ist. Dass er nicht versteht.
Aber das ist mir egal.
Ich schweige auch.
Sie sah mich an, die schwarzen Haare wild abstehend.
„Lass uns schwören“, sagte sie.
„Warum? Was denn?“, fragte ich. Und merkte im gleichen Augenblick, wie dumm diese Fragen waren.
Giftig verengte sie ihre Augen, sodass nur noch die Hälfte der Pupillen zu sehen war.
„Damit so etwas wie heute nie wieder passiert.“
Ihre Stimme klang so gefährlich. Und ich hielt den Mund. Und nickte nur kurz, als Zeichen des Verständnisses.
Sie war so sauer auf mich gewesen. Ich hatte sie verraten. Und es noch nicht einmal selbst bemerkt.
Sie hatte Pflaumen geklaut. Und mich hatte sie zum Schmierestehen verurteilt.
Und ich hatte so dagestanden, geschaut. Langeweile hatte mich übermannt. Und dann war Jonas vorbeigekommen, hatte mich gefragt, was ich da machte.
Ich hatte es ihm nicht erzählt, war aber aus Langeweile mit ihm gegangen. Er hatte mich gelockt.
„Am Bach sind Frösche. Und Sven hat ein paar eingefangen.
Und Valerie hat Murmeln mitgebracht.“
Ich hatte sie im Stich gelassen. Sie war erwischt und von unseren Eltern bestraft worden.
Und ich hatte es erst bemerkt, als ich abends nach Hause gekommen war.
Der erste Bruch.
„Wie war denn dieser Satz eigentlich?“, fragt er nach langer Stille.
„Wenn du stirbst, sterbe ich auch. Und wenn ich sterbe, stirbst auch du.“
Er lacht. Und sagt: „Ja, ja. Das hatten wir als Kinder auch immer. Und hatten immer fest daran geglaubt. So ein Schwachsinn.“
Und lacht weiter.
Ich lache nicht. Und verabscheue ihn plötzlich für dieses Lachen.
Er versteht nicht. Niemand versteht.
Wenn er nicht lachen würde, würde ich ihm jetzt erzählen, dass ich irgendwann gestorben war und sie nicht mit mir.
Doch auch das würde er nicht verstehen.
„Warum hat er das gemacht?“, fragte ich sie. Und Tränen der Verzweiflung rannten über meine Wangen.
Sie sah mich mit harten Augen an.
„Weil Jungen böse sind. Das solltest du langsam verstehen.“
Und ihre Augen sagten: „Stütz dich auf mich, nicht auf andere. Dann bist du auf der sicheren Seite.“
Ich hasste sie in dem Moment.
Ich hatte diesen Jungen so geliebt. Anfangs hatte er mich auf Händen getragen. Und jetzt war er weg. Einfach so.
Vielleicht waren auch schwarz umwickelte Finger im Spiel gewesen. Ich bekam es nie heraus.
Ich zerbrach und starb.
„Sei nicht immer so schwach“, sagte sie. Und Abscheu schwang in ihrer Stimme mit.
Sie zog die weiße Decke über mich. Und stopfte sie an den Seiten fest.
Und löschte das Licht.
Und ihre weiße Haut leuchtete als sie sagte: „Schlaf. Und vergiss alle Jungen und Männer dieser Welt.“
Und während meine Tränen weiter flossen, fragte ich mich, warum die Farbe Weiß immer mit Unschuld in Verbindung gebracht wurde.
Weiß war gefährlich. Und scheinheilig.
„Erzählst du mir jetzt die lange und komplizierte Geschichte?“, fragt er und zündet sich dabei eine Zigarre an.
Wir parken auf einem abgelegenen Waldweg. Und ich knabbere an einem Müsliriegel, der mir nicht schmeckt.
Ich drehe mich zu ihm.
„Warum willst du das überhaupt wissen?“
Er lacht auf.
„Weil ich an deinem Leben teilhaben will.“
Auch das klingt wie eine Frage.
Ich werfe den Riegel in ein Gebüsch. Und setze mich ins Auto.
Kurze Zeit später setzt er sich ebenfalls.
„Warum liegt sie jetzt da? Was hast du für ein Geheimnis? Und woher stammt die Narbe in deinem Nacken?“
Seine Stimme ist plötzlich sanft.
Ich erschrecke trotzdem. Er hat meine Narbe entdeckt.
„Die Narbe ist von ihr“, sage ich. Und versuche das Zittern meines Körpers zu unterdrücken.
„Was hat sie getan?“, fragt er.
„Das kann ich dir nicht sagen.“
Ich flüstere. Ohne, dass ich es will.
Ich saß am Rande eines Sees. Des Sees direkt in dem Wald vor unserem Haus.
Und das grünliche Wasser plätscherte leicht.
Sie stand hinter mir. Hatte sich angeschlichen. Dabei wollte ich doch alleine sein.
„Warum tust du das?“, fragte sie.
Und eigentlich wollte sie fragen: „Warum tust du mir das an?“
Das Messer in meiner Hand wackelte hin und her.
„Ich kann nicht mehr.“
Sie schnaufte.
„Du bist viel zu schwach, kleine Schwester.“
Die Klinge näherte sich meinem Handgelenk.
Und die Tränen liefen ununterbrochen.
„Weißt du noch? Wenn du stirbst, sterbe ich auch?
Du willst doch nicht meinen Tod auf dem Gewissen haben.“
Ihre Worte klangen so hart. Und herausfordernd.
Ich zögerte nicht. Mein Entschluss stand fest.
Es gab kein Zurück mehr.
„Du willst mich doch nur davon abhalten, weil du dann alleine wärst. Aber so geht das nicht. Du glaubst gar nicht wie oft ich alleine war. Obwohl du neben mir standest.“
Sie brach. Man konnte es sehen. Ihr Rückgrat bog sich, als könne es die Last nicht mehr tragen. Als könne es sie nicht mehr tragen.
Ein paar Sekunden später hatte sie sich wieder gefangen. Und sah mich an.
Abweisend.
Und plötzlich, mit einer schnellen und aggressiven Bewegung griff sie nach dem Messer.
Wir kämpften darum. Meine Hand gegen ihre Hand. Ihre gegen meine.
Und dann lief Blut.
Soviel Blut von meinem Nacken.
Und meine Haare verklebten, meine Kleider bekamen Flecken.
Und ich sank auf den Boden. Und sah zu ihr hoch.
Sie starrte mich an, das Messer in der Hand.
Und flüsterte: „Du bist die Schwächere von uns beiden. Ich habe gewonnen.“
Und ich verlor mein Bewusstsein.
„Ich bin daran schuld, dass sie jetzt dort liegt.“
Mein Hals ist trocken.
„Glaubst du nicht, du bildest dir das ein wenig ein?“
Ich schlucke.
„Du hast keine Ahnung. Keine“, sage ich. Und meine es ernst.
„Dann erzähle es mir doch, verdammt noch mal. Du sagst immer, ich hätte keine Ahnung, würde nichts verstehen. Aber wie kann ich das denn, wenn du mir nie etwas erzählst?“
Er ist wütend. Und der Leberfleck oberhalb der rechten Armbeuge tanzt nicht mehr lustig, sondern bedrohlich.
Und mein Puls rast. Der Wagen genauso.
Plötzlich bremst er abrupt ab. Und fährt an den Straßenrand.
„Los. Jetzt rede endlich!“, sagt er.
Und sieht mich an. Und lässt mich nicht aus den Augen.
Sein Blick ist bittend.
„Ich wollte ihr einmal beweisen, dass ich die Stärkere bin“, sage ich.
Und eigentlich bin nicht ich es, die spricht. Ich höre mich selbst, wie aus der Ferne.
„Ich war 18 Jahre alt. Sie 20. Und man könnte meinen, wir wären aus dem Alter heraus gewesen, in dem man sich bekämpft. In dem man eifersüchtig auf den jeweils anderen ist.
Aber das war es auch nicht. Ich war nie eifersüchtig. Nur wütend. Und schwach.“
Und er nickt.
Und vielleicht versteht er jetzt doch.
Die rote Hose stand ihr gut. Und die weiße, lockere Bluse darüber auch.
Die schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Ich hatte sie lange nicht gesehen. Zwei Monate.
Wir umarmten uns.
„Hallo, kleine Schwester“, sagte sie und lächelte mich an.
„Warum bist du wieder hier?“, fragte ich.
„Ich habe dich vermisst. Darum bin ich wieder hier.“
Und sie zeigte mit einer Hand auf die großen Taschen, die in der Tür standen, während sie mit dem Finger der anderen Hand Haare umwickeln ließ.
Mein Lächeln erstarrte.
Sie war wieder da. Sie wollte wieder hier bleiben. Für immer.
Dabei war ich sie doch gerade erst losgeworden.
„Freust du dich nicht?“, fragte sie.
„Doch.“
Ich log. Doch man konnte sie nicht anlügen.
„Auch wenn es dir nicht gefällt. Ich bin wieder hier. Wir sind zwei Hälften einer Medaille. Wir können nicht getrennt sein.“
Sie grinste mich an. Als hätte sie einen guten Scherz gemacht.
Doch ihre Augen meinten alles ernst.
Ich kochte. Innerlich.
Das Feuer loderte.
„Hilfst du mir, die Taschen hoch zutragen?“
Ich nickte. Und griff nach einer Lasche. Und stieg als Erste die Treppe hinauf.
Sie kam mit einer weiteren Tasche nach.
„Wollen wir morgen zusammen an den See gehen? Schwimmen? Oder etwas anderes machen?“
Und dabei lachte sie. Als wäre der See nur ein Ort gewesen, an dem man viel Spaß haben konnte. Nur ein Spielplatz.
Wie wahnsinnig lachte ich mit. Und drehte mich um.
Und warf die Tasche die Treppe herunter.
Und sie schrie nicht.
Und ich begann erst zu begreifen, als sie schon am Fuße der Treppe lag und sich nicht mehr regte. Zwei Taschen über ihr.
Und das Feuer erlosch.
Und ich fing wieder an zu lachen. Denn die Bluse blieb weiß. Wurde nicht rot.
Und weiß ist doch viel gefährlicher als rot.
Nachdem ich geendet habe, nimmt er meine Hand in seine Hand.
Und ich bemerke jetzt erst, dass ich die ganze Zeit über geweint habe.
„Es war nur ein Unfall“, sagt er und streichelt über meine Finger.
Und ich denke kurz daran, dass ich diesen Satz schon viel zu oft gehört habe.
„Nein, das war es nicht. Ich wollte sie umbringen.“
„Aber das hast du nicht.“
Ich schüttele den Kopf.
„Nein, das habe ich wohl nicht.“
Wir schweigen.
„Sie nimmt nichts mehr wahr, weißt du. Da ist irgendetwas in ihrem Gehirn kaputt gegangen. Und jetzt ist sie wie ein Kleinkind. Sie kann nicht mehr alleine auf die Toilette gehen. Geschweige denn jemanden erkennen.“
Er sieht mich an. Und kramt kurz in einer seiner Taschen.
Und reicht mir ein Taschentuch.
„Warum warst du nicht bei ihr drin? Warum standest du nur eine Stunde lang vor der Tür des Heimes?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern.
„Sie hätte mich doch sowieso nicht erkannt.“
Und wir fahren weiter. Nach Hause.
Und das Schlimmste kann ich ihm nicht sagen.
Nämlich, wie erleichtert ich war, als die Ärzte sagten, dass die Chance, dass sie wieder normal würde etwa bei Dreißig Prozent lägen.
Und dass meine Tränen auch nur zu Dreißig Prozent aus Schuld bestanden.
Und dass es sich gut anfühlt, die Stärkere zu sein.