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Natalies Geburtstag

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24.05.2005
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Natalies Geburtstag

Das Hübscheste an Natalie ist ihr Name. Man übersieht sie leicht. Sie ist dünn und blass und wirkt irgendwie immer ein bisschen grau. Eigentlich hätte sie nicht auf der Welt sein sollen. Das hat Mama einmal zu einer Bekannten gesagt, als sie wohl glaubte, Natalie würde es nicht hören. Aber die Wohnung ist nicht sehr groß, und die Wohnzimmertür war nur angelehnt. Da war sie acht. Seit dem Tag scheint sie noch ein wenig unscheinbarer geworden zu sein. Morgen ist ihr zehnter Geburtstag. Vielleicht wird Mama diesmal daran denken. Den letzten Geburtstag hatte sie beinahe vergessen. Sie war damals den ganzen Tag fort gewesen. Wo, wusste Natalie nicht. Erst spät, als Natalie schon fast schlief, war Mama noch einmal in ihr Zimmer gekommen und hatte ihr alles Gute gewünscht. Ihre Augen hatten geglänzt, und sie war gut gelaunt gewesen, wie immer, wenn sie nach ein paar Stunden von irgendwoher mit dem Taxi nach Hause kam. Die Nachbarn reden schlecht über Mama, manchmal auch über ihre Brüder. Zu Natalie sind sie ganz nett, meistens. Aber Mama hat gesagt, dass die Nachbarn alle Spießer sind, und dass sie dumm sind, wenn sie so leben. Sie sieht es nicht gern, wenn eines der Kinder mit ihnen spricht.

Ihre Brüder haben jeder einen Vater, den sie kennen. Sie sehen ihn fast nie, aber immerhin. Natalie möchte auch einen Vater haben. Sie würde ihn gern besuchen. Natalie ist sicher, er wartet nur darauf, dass sie kommt. Manchmal steht sie vor dem Spiegel und versucht, sich ihre braunen Augen wegzudenken und die leicht gebogene Nase, die sie von ihrer Mutter hat. Die rötlichen Haare hat sie wohl von ihm. Und die Sommersprossen. Sieht sie ihm ähnlich? Wie alt mag er sein? Bestimmt ist er groß und sieht gut aus. Ein paar mal hat sie gefragt, aber Mama hat nur ärgerlich ihre Zigarette ausgedrückt und gesagt, sie solle es gut sein lassen. Zur See gefahren ist er damals. Schluss mit der Fragerei. Und wozu sie wohl einen Vater brauchte, der sich nie für sie interessiert hatte. Natalie will ihre Mutter nicht verärgern und fragt nicht mehr. Sie spricht mit Papa, wenn sie allein ist und fragt ihn um Rat. Mama ist ja meistens nicht da, oder sie schläft. Natalie schreibt heimlich Briefe an ihn und versteckt sie in ihrem Kleiderschrank. Manchmal, wenn der Postbote kommt, hofft sie, dass ein Brief von ihm dabei ist. Aber die wenigen Briefe, die kommen, sind an Angelika Neubauer adressiert und niemals an Natalie. Na ja, woher soll er denn auch wissen, wo sie wohnt. Aber eines Tages wird sie Papa finden, ganz sicher. Und dann wird sie einfach vor seiner Tür stehen. Vielleicht hat er ein großes schönes Haus und einen Garten. Er wird sie in den Arm nehmen und mit ihr Eis essen gehen oder vielleicht ans Meer fahren. Sie mag das Meer. Vielleicht wird er ihr einen Hund schenken. Den hätte sie ganz für sich allein. Ja, es wäre schön, einen Hund zu haben.

***

Dieter taumelt über die Straße, der verdammte kleine Köter zerrt an der Leine. Irgendwas stimmt nicht. Mensch, so viel hat er nun auch wieder nicht getrunken heute. Gerd hatte ihm ja keinen Kredit mehr geben wollen. Er soll erst mal seinen alten Zettel bezahlen, hat Gerd gesagt. Zum Teufel mit Gerd. Zum Teufel mit dem ganzen Pack. Er braucht die nicht. Kleinkariertes, dämliches Scheißpack. Was soll’s. Nächste Woche wird er wieder einsteigen, gestern kam der Anruf von der Reederei, er soll Vertretung machen. Dann ist er erst mal wieder für ein paar Wochen weg. Wenn er dann Geld hat, wollen sie wieder alle auf seine Kosten saufen. Aber diesmal können sie ihn. Auch Angelika. Vor allem die. Was will die überhaupt. Er hat sie neulich auf der Straße gesehen, stockbesoffen, hat ihn angepöbelt.
Ist ja auch scheißegal. Er muss noch den Hund wegbringen. Tut ihm irgendwie Leid, das arme Vieh, aber was soll er machen. Scheiße, was ist bloß los mit ihm. Sein Arm. Irgendwas ist mit seinem linken Arm, verdammt. Er kann nicht mal mehr die Leine halten.

***

Natalie nimmt das Fahrrad ihrer Mutter, sie muss noch etwas einkaufen. Mama geht es mal wieder nicht gut. Sie hat sich gleich hingelegt, als sie zurückkam, schaffte gerade mal so die Treppe. In ein paar Stunden wird sie wieder aufwachen, vielleicht auch erst morgen, an Natalies Geburtstag.

An der Kreuzung stehen viele Leute. Natalie bremst vorsichtig und sieht, dass ein Mann mitten auf der Strasse liegt. Er ist nicht sehr groß und ziemlich dick. Seine Jeans ist voller Flecken, und auch das karierte Hemd ist schmutzig. Die Baseballmütze ist verrutscht und liegt quer über seinem Gesicht, so, als ob er sich vor der Sonne schützen wollte. Von seinen Haaren sind nur ein paar wirre rote Strähnen zu sehen. Der Mann bewegt sich nicht. Neben ihm sitzt ein zotteliger brauner Hund und bellt. Die Leute reden wild durcheinander. Jemand hat einen Krankenwagen und die Polizei gerufen. Die Sanitäter untersuchen den Mann auf der Straße. „Nichts mehr zu machen“, sagt der eine von ihnen. Sie heben ihn auf die Bahre und wollen ihn in den Krankenwagen schieben. Der Hund gebärdet sich wie verrückt. „Kann vielleicht mal einer das Scheißvieh hier wegnehmen“, brüllt der Sanitäter.

Die Polizisten fragen die Leute, ob sie etwas gesehen haben oder ob jemand von ihnen den Mann gekannt hat. Einige sagen, sie hätten ihn vom Sehen gekannt. Wohnte hier irgendwo in der Gegend. Ziemlicher Säufer. Näheres wissen sie auch nicht, mit solchen Typen will doch keiner was zu tun haben.

Der zottelige Hund sitzt immer noch da und jault. Niemand kümmert sich um ihn, auch die Polizisten nicht. Natalie legt das Rad hin und läuft zu ihm hin. Sie streichelt ihn und spricht leise mit ihm. Versucht, ihn zu beruhigen. Einer der Beamten sagt „So, Mädchen, nun nimm mal endlich deinen Hund da weg von der Straße, was macht ihr überhaupt hier.“ Sie will ihm sagen, dass es nicht ihr Hund ist, aber der Polizist hört nicht mehr zu. Er schreibt irgendwas auf. Die Menschenmenge zerstreut sich langsam, es gibt nichts mehr zu sehen. Der Krankenwagen ist weggefahren, und die Polizisten steigen jetzt auch ins Auto. Natalie bleibt mit dem Hund zurück. Er wimmert jetzt leise. Sie beugt sich zu ihm hinunter und streichelt seinen Kopf.

Vielleicht erlaubt Mama ja, dass sie ihn behält. Sie hat doch morgen Geburtstag. Papa hätte bestimmt nichts dagegen.

 

Hallo Alicia,

da hast Du ein inspirierendes Thema. Sehr schön wie Du die Mutter in Szene gesetzt hast. 3 Kinder und 3 verschiedene Väter. Wunderschön geschrieben, das alles hat mir gefallen ... bis Person und Ort wechselten, also bis Dieter ins Spiel kam. Dieter hat auch rote Haare, so wie Natalie, so wie ihr Vater in ihren Wünschen. ABER - es folgte keine Assoziation darauf. Das Kind hat nicht den Vater in ihm gesehen. Aber Du spielst darauf an. Also ganz ehrlich, gerade weil die erste Szene sehr schön ist, weil Du den Leser neugierig machst und auf die Folter spannst, ist das Ende enttäuschend. Ach, was hätte alles aus der Geschichte werden können?! Es endet mit einem Wunsch für den Hund. Hach, schade! Eine billige Variante wäre ja noch gewesen, dass sie aus irgendeinem autorischen Grund Dieter für ihren Vater hält. Aber es gibt auch noch ganz andere Möglichkeiten.
Nun ok.
Der Erzählstil ist angemessen und gut, obwohl ich bei der Natalie bei der Interaktion mit dem Hund gerne mehr Leben gesehen hätte.

Einer der Beamten sagt "So, Mädchen, nun nimm mal deinen Hund da weg von der Straße, was macht der überhaupt hier." Sie will sagen, dass es nicht ihr Hund ist, aber der Polizist hört nicht mehr zu.

Ich musste wirklich lachen darüber. Aber dass sie den Polizisten aufklären wollte (Verständnishilfe für den Leser?) könnte man auch gerne weglassen. Der aufmerksame Leser weiss, dass es nicht ihr Hund ist. Stattdessen kannst du das Mädchen verdutzt gucken lassen, eine Augenbraue hochziehen und dann kindgerecht es dem Hund zunicken lassen können. So nach der Idee "Ja, mein Hund jetzt, warum nicht?!!"

Der Schreibstil ist sauber und leicht.

Fazit: Eine wirklich sehr schöne (halbe) Geschichte, mit gutem Ansatz für eine Idee.

Bis dann

Barde

Das hübscheste an Natalie ist ihr Name.

"hübscheste" gross
Diese Wertung sollte nicht der Autor abgeben. Lass es die Mutter sagen, dann muss der Leser sich nicht damit anfreunden, dass Natalie hässlich ist. Literarische Kinder sind nicht hässlich *smile*!

Natalie ist sicher, dass er nur darauf wartet, dass sie kommt.
besser "sich" vor "sicher"
Sehr schöner Satz!

 

Hallo Barde,

erstmal herzlichen Dank fürs Lesen und natürlich für deine Kritik.
Offenbar ist die Auflösung nicht ganz so rübergekommen, wie ich geplant hatte. Ich habe daher im ersten Absatz der "Erklärung" der Mutter noch hinzugefügt, dass Natalies Vater Seemann war. Vielleicht wird es dadurch etwas klarer?

Zu der Szene mit dem Hund und dem Polizisten: die war eigentlich nicht als Erklärung für den Leser gedacht. Ich sehe Natalie eher schüchtern und zurückhaltend, und so ein Kind würde den Hund nicht einfach als seinen eigenen ausgeben, meine ich.

"hübscheste" habe ich korrigiert - danke, war mir nicht aufgefallen. Es könnte ja durchaus ein Zitat von ihrer Mutter sein, aus dem Gespräch von damals. Übrigens: warum sollen literarische Kinder eigentlich nicht auch mal hässlich sein? ;)

Ich bin mir sicher, dass "sich sicher" sich nicht so gut anhört - ist mir irgendwie zuviel "sich" - aber ich habe bei der Gelegenheit das doppelte "dass" rausgenommen :)

Liebe Grüße
Alicia

 

Hallo Alicia und herzlich willkommen! :)

Vornweg: mir hat Deine Art zu schreiben gut gefallen. Inhaltlich war ich, wie der Barde auch davon ausgegangen dass da eben mehr kommt mit Dieter - auch wenn der Seemanntipp drinnen ist. Man assoziert es dennoch ... Die letzten Sätze haben mir übrigens wieder sehr gefallen. Der offene Schluss mit der Mutter passt mE auch gut.

Die Szene ab Dieter könntest Du auch sichtbar nochmal etwas abtrennen, z.B. durch ***
oder so - ist ja quasie ein neues Bühenbild, das würde es für den Leser einfacher machen.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Maus,

auch an dich ein ganz großes Dankeschön! Die *** habe ich schon gleich mal reineditiert :)

Zu Dieter:
Die Assoziation Dieter/Natalies Vater ist ja auch gewollt - schon weil er tatsächlich ihr Vater ist...
Natalie würde allerdings sicher trotz der roten Haare nicht auf diese Idee kommen, weil sie sich ihren Vater ganz bestimmt nicht so vorgestellt hat.

Oder hab ich euch da jetzt irgendwie falsch verstanden?

Danke für eure Aufklärung und Entschuldigung für meine Begriffstutzigkeit :confused:

 

Hallo Barde,
Hallo Anne,

hab noch mal über die Geschichte geschlafen und sie an einigen Stellen etwas überarbeitet. Vielleicht ist sie etwas schlüssiger geworden dadurch.

An euch beide noch mal sehr herzlichen Dank für die Mühe, die ihr euch gemacht habt und die Anregungen, die sehr wertvoll für mich waren.

Ganz liebe Grüße
Alicia

 

hallo alicia,

nun, ja. es ist jetzt schlüssiger. auch der schlusssatz gefällt mir ein stück besser jetzt. aber damit ist das eigentliche problem, dass die ganze geschichte mehr hätte sein dürfen, nicht gelöst.

bis dann

barde

 

Hallo Barde,

danke nochmal für deine Rückmeldung und fürs nochmalige Lesen. Ich steh jetzt ein wenig auf dem berühmten Schlauch, glaube ich. Ich kann's ja nochmal überschlafen - vielleicht hilft das. :confused:

Liebe Grüße
Alicia

 

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