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Naturkosmetik

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12.05.2003
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Naturkosmetik

Enzo.

Bereitwillig vermischte sich der säuerlich stechende Geruch entrülpster Zwiebeln mit dem hauchsüßen Odem des Parfums „Opium“, während Enzo stapfend die baufällige und kalkbröselnde Treppe hinaufkam und dabei im Vorbeigehen V. gewahrte, die antropomorphisierte Duftwolke, die sich beim Anblick ihres Nachbarn größte Mühe gab, ihr Gesicht nur marginal zu verziehen, zumindest so lange, bis er ihren angewiderten Ausdruck nicht mehr wahrnehmen konnte. Hatte sie Enzo um vier der gefühlten 600 Stufen hinter sich gelassen, machte sie im Geiste drei Kreuze. Es war das letzte Mal, dass Enzo und sie sich Angesicht zu Angesicht trafen und dass ihre Ausdünstungen respektive Beduftungen in der Luft schwirrend auf den Treppenstufen des Altbaus ein nasenverachtendes Schäferstündchen hielten.

- Verdammte Tat! Das kann doch wohl nicht Warstein!

Enzo brummte die Worte in das Treppenhaus, in dem sich die eigentümliche Enge, die Biederkeit dunklen Stucks der Decke und die infernalische Hitze des Spätsommermittags verbündeten um den ohnehin geladenen Enzo noch stärker zum Schwitzen und Fluchen zu bringen. Nachdem er die heruntergefallenen Schlüssel wieder aufgehoben und seine Wohnung, die die Stadtverwaltung problemlos nach Enzos Auszug oder Tod zur Müllhalde erklären könnte, betreten hatte, schossen wieder die Schmerzen in seine Brust, die stechenden, vibrierenden Pfeile, die sein Herz wie eine Voodoopuppe mit ihren Spitzen zu maltretieren schienen. Er streifte unter animalischem Stöhnen und nicht weniger unmenschlichem Ächzen seine dicken Winterschuhe ab, die er in Ermangelung eines weiteren Paars und aus schlichter Faulheit, sich ein weiteres zu kaufen, das ganze Jahr über trug. Dementsprechend beschlug der Spiegel über der Stelle, an die Enzo seine Schuhe schmiss, wie er es jedes Mal tat. Enzo ließ sich in seinem winzigen Wohnzimmer – welch unzutreffende Bezeichnung für einen Raum voller Colaflaschen, Pizzakartons, Chinarestaurantpappteller und vor Schweiß gelblich-salzig-weiß strotzender Klamotten – auf den dauerfeuchten und nach altem Leder riechenden Sessel nieder.

Dort starb Enzo an einem Herzinfarkt. Noch Wochen nach Enzos Auffindung erzählte V. ihren Freundinnen, dass auch ein Mensch wie Enzo es wert war, zu leben.


Vera.

Mit einem minderelegant-wackeligen Kick beförderte Vera die alte, leicht diätjoghurtbeschmierte Ausgabe der Vanity Fair aus der sterilen Hochglanzküche ihrer kleinen, am heutigen Tage glühend aufgehitzten Mietwohnung, zwei Stockwerke über dem Wohnloch des ihrer Meinung nach schrecklichen Enzo, in den IKEA-Mülleimer, den sie liebevoll „Fibbe“ nannte, nach der gleichlautenden Bezeichnung jenes schwedischen Möbelprodukts. Sie setze sich auf den wenig genutzten Rattanstuhl im Zentrum ihrer wenig genutzten Küche, streifte behutsam ihre Pumps von den schmalen, kinderfußähnlichen Füßen, wobei sie penibel darauf achtete, ihren roséfarbenen Fußnagellack nicht zu zerkratzen. Daraufhin erhob sie ihren noch magere 46 Kilo umfassenden Körper, tapste blanken Fußes ins Wohnzimmer und entledigte sich ihrer Oberbekleidung, nicht ohne zuvor festzustellen, dass die Fenster auch gut verschlossen und keinesfalls durchsichtig sind. Mit Schrecken entdeckte sie den halbleeren Diätjoghurtbecher, der umgekippt war und sein weißes Inneres auf den persischen Teppichboden gegossen hatte, woraufhin sie einen schmerzverzehrten Schrei des Entsetzens ausstieß. Sie hatte seit 31 heißen Stunden nichts gegessen. Nach eingehender Analyse, während der sie die roséfarbenen Nervenbahnen ihres mäßig funktionierenden Gehirns bis zum Bersten strapazierte, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich dem diabloschen Diätjoghurt nicht nähern dürfe. Zu groß die Gefahr, eine Fingerkuppe voll Joghurt vom Teppich wegzuschlecken. Der Schweiß, der nach dieser Erkenntnis begann, ihre Stirn zu benetzen, verstärkte nur ihr Gefühl der Widerwärtigkeit. Sie war gefangen, konnte nicht handeln. Mit einem Kraftakt selten dagewesenen Ausmaßes bewegte sie ihren beperlenketteten, parfumstrotzenden Hals in Richtung Telefon. Sollte sie Gesine anrufen? Ja. Gesine würde ihr helfen.

Vera begann, sich zu erheben, doch die Hitze, ihre mangelnde Kraft und – am schlimmsten – der Perserteppichjoghurtfleck hinderten sie. Und dann kam die Panik. Zum ersten mal seit 31 heißen Stunden schloss sie semibewusst ihre beringten, überschminkten Rehkitzaugen. Nein, einen Anfall würde sie nicht bekommen. Ganz sicher nicht. Nicht schon wieder. Nicht heute.

Kurz darauf spülte ein epilleptischer Anfall den letzten Funken Kraft aus Vera. Man fand sie ähnlich spät wie Enzo. Auch im Leichenschauhaus lagen sie übereinander. In der richtigen Reihenfolge.


Gesine.

Die Sonne schien, und Gesine liebte es, wenn die Sonne schien. „Diese böse große Welt“, dachte sie dann immer, „kommt mir gleich viel besser vor, wenn die Sonne scheint.“ Sie stieg aus ihrem Hochbett, tappste durch ihr kleines Zimmer und zog sich ihre unterschiedlich farbigen Socken an, die für jeden Zeh, einem Handschuh gleich, eine extra Kammer hatten. Daraufhin stülpte Gesine sich flink ihren roten Kimono über, ein besonders schönes Kleidungsstück, wie sie fand, und er hatte im Second-Hand-Shop auch nur zwei Euro gekostet. Sie nahm die in Klarsichtfolie eingewickelten Selleriesandwiches aus dem Kühlschrank, setzte sich an ihren selbstgebauten Esstisch und machte sich daran, die Sandwiches von der Folie zu befreien und langsam aufzuessen. „Jeden Happen 32 mal kauen“, sagte sie zu sich selbst, „wie Oma es erklärt hat. Dann schmeckt’s auch gleich besser.“ Doch als sie den ersten Happen 26 mal gekaut und also quasi unverrichteter Dinge heruntergeschluckt hatte, stand sie auf, ging an ihr kleines Regal, wo ein paar Gewürze standen, und nahm ein selbstbeschriftetes Gläschen heraus, auf dem „Bärlauch, 2005“ stand. Das hatte sie von diesem schmierigen Gewürzhändler gekauft, schon vor Jahren. Sie meinte sich zu erinnern, dass er Enzo hieße. Aber wen interessierte das schon? Die Sonne schien so schön. Mit der rechten Hand drehte Gesine, die von ihren Freundinnen, allen voran Vera, auch liebevoll-neckisch „Bärlauchprinzessin“ genannt wurde, das Bärlauchgewürzgläschen wieder zu, nachdem sie mit der linken Hand etwas Bärlauchgewürz auf einen Teelöffel gegeben und es danach streuselnd auf ihrem Sandwich verteilt hatte. Danach biss sie herzhaft ab und kaute 32 Mal.

Nach dem Frühstück würde sie Vera anrufen. Irgendwer musste sich ja um sie kümmern.​

 

Hallo Tobbi,

schön, mal wieder von dir zu lesen. :)
Dein Text baut auf Episodenfilmen auf, einzelne Stränge, die eigene Geschichten erzählen und dennoch über die Protagonisten miteinander verwoben sind. Im Grunde die Art, in der Altman oder Jarmush manchmal Filme erzählen.
Gesine darf zum Glück überleben, ob sie die Leichen findet, ist eher unwahrscheinlich, denn du schreibst ja, es würde lange dauern. Es ist an jedem Tag heiß, aber es kann nicht derselbe Tag sein, es sei denn, du hast etwas übersehen. Vera und Enzo liegen in der Leichenhalle, aber noch Wochen nach Enzos Tod erzählt Vera ihren Freundinnen etwas von dessen Lebenswert. Gut, V. muss nicht Vera sein, der Schluss liegt doch aber zumindest sehr nahe.
Es ist also manches nicht ganz stimmig in deiner Geschichte. Oder ich habe sie nicht verstanden.
Ein sprachliches oder gestalterisches Experiment finde ich eher nicht, die Erzählweise ist nicht so unkoventionell, dass ich sie als Experiment betrachten würde.
Details:

während Enzo stapfend die baufällige und kalkbröselnde Treppe hinaufkam und dabei im Vorbeigehen V. gewahrte,
Perspektive: Wenn er hinaufkam kann es nicht Enzos Perspektive sein. MMn müsste es hinauf ging heißen, wenn es aber die Perspektive eines Zweiten ist, der oben an der Treppe steht (da würde man "kam" benutzen, müsste es aber herauf heißen.
nicht mehr wahrnehmen konnte
Wortwiederholung zu gewahren
Enzo brummte die Worte in das Treppenhaus, in dem sich die eigentümliche Enge, die Biederkeit dunklen Stucks der Decke und die infernalische Hitze des Spätsommermittags verbündeten um den ohnehin geladenen Enzo noch stärker zum Schwitzen und Fluchen zu bringen.
Wortwiederholung Enzo in einem Satz
verbündeten um den ohnehin geladenen Enzo noch stärker zum Schwitzen und Fluchen zu bringen.
verbündeten, um
unnötige Substantivierung von Schwitzen und Fluchen, liest sich stilistisch nicht sauber, da man ins Schwitzen gebracht wird (wenn es ein Substantiv sein soll). Es wäre aber auch möglich zu schreiben: noch stärker schwitzen und fluchen zu lassen.
(Über den Warstein-Gag schweigen wir mal besser und betrachten ihn lediglich als Charakterisierung von Enzo)
die die Stadtverwaltung problemlos nach Enzos Auszug oder Tod zur Müllhalde erklären könnte
"problemlos" wäre mE besser nach "Tod" platziert.
mit ihren Spitzen
wenn du schon Pfeile als Bild bemühst, womit sonst? Ist mE redundant.
Dementsprechend beschlug der Spiegel über der Stelle, an die Enzo seine Schuhe schmiss
Und der ist immer noch heile?
Noch Wochen nach Enzos Auffindung
Auffindung liest sich hier für mein Gefühl eher falsch.
während der sie die roséfarbenen Nervenbahnen ihres mäßig funktionierenden Gehirns bis zum Bersten strapazierte
welche Bedeutung hat die Farbe in diesem Zusammenhang?
dass sie sich dem diabloschen Diätjoghurt nicht nähern dürfe.
diabolischen; dürfte
Daraufhin stülpte Gesine sich flink ihren roten Kimono über
Wickelt man den nicht? Dann ist überstülpen falsch.
und also quasi unverrichteter Dinge heruntergeschluckt hatte
hinuntergeschluckt
Gesine, die von ihren Freundinnen, allen voran Vera, auch liebevoll-neckisch „Bärlauchprinzessin“
und das, obwohl das Gläschen, das sie vor Jahren gekauft hat, noch nicht leer ist?

Das liest sich jetzt, als fände ich die Geschichte ganz schrecklich, dem ist nicht so. Ich finde sie in Aufbau uns Struktur ansprechend und auch die Atmosphäre finde ich angenehm. Manchmal übertreibst du vielleicht etwas mit den Formulierungen, weniger, weil ich sie nicht mag, sondern eher, weil sie für mein Gefühl dieser Geschichte nicht dienen, aber immerhin verläufst du dich darin kaum.
Also trotz der vielen Anmerkungen hat die Geschichte für mich durchaus Charme.

Lieben Gruß
sim

 

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