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Nein
Noch vor Sonnenaufgang muss ich aufstehen. Es fällt mir sehr schwer, aus dem Bett zu kommen. Mühsam schleppe ich mich ins Badezimmer. Der Blick auf die Waage verrät eine erneute Differenz von zwei Kilogramm. Der Gewichtsverlust scheint immer rasanter voranzuschreiten. Keiner der Ärzte hat bisher die Ursache für mein kontinuierliches Abmagern ergründen können. Beim Anziehen meiner Jeans fällt mir auf, dass sie noch mehr schlackert, als gestern. Ich muss den Gürtel um ein weiteres Loch enger schnallen. Im Spiegel erblicke ich ein knochiges Gesicht mit dunklen Augenringen unter den grauen, glanzlosen Augen. Ich lege Make-Up und Rouge auf, um die weiße Leinwand meines Gesichtes anzufärben. Das strähnige Haar binde ich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen, woraufhin ich wieder ein Büschel dunkelbrauner Haare in der Hand halte.
Die Frühstücks-Haferflocken gleiten nur sehr schwer meine Kehle herunter. Ich habe einen großen Kloß im Hals sitzen. Meine Mutter erwartet mich heute. Seit ihrem Herzinfarkt fordert sie noch mehr Hilfe von mir ein, ungeachtet dessen, dass ich auch ein eigenes Leben führe. Aber ich kann nicht nein sagen, sie ist schließlich meine Mutter.
Ich kann sie nicht leiden. Nie kommt ein "Bitte" oder "Danke" von ihr. Ganz gleich, wie sehr ich sie unterstütze, ständig beschwert sie sich über mich. Für sie bin ich eine Träumerin und Versagerin, die alles falsch macht. Dabei ist sie selbst seit Jahren in Frührente, ihr einziger Lebensinhalt ist das Essen. Das Haus verlässt sie nur noch für Arztbesuche, sie kann sich kaum noch rühren angesichts ihres enormen Gewichts.
Aber da ist dieser Zwang in mir. Wir sind eine Familie. Familien müssen zusammenhalten, betont meine Mutter immer wieder. Seit ich denken kann. Sie sagt, niemand könne sich seine Familie aussuchen. Man müsse sie so akzeptieren und ehren, wie sie ist. Ich kann meiner Mutter unmöglich etwas abschlagen. Ich würde mich grauenhaft fühlen dabei. Wenn ich nur an die Möglichkeit denke, eine ihrer Bitten abzuwehren, fühle ich mich elend. Auch wenn ich weiß, dass sie sich mir gegenüber manchmal ungerecht verhält; der Samen des Familienzusammenhaltes, den sie in meiner Kindheit reichlich goss und düngte, ist herangewachsen und schlingt sich heute gewaltsam um mich. Ich kann mich aus den dornigen Würgeranken nicht befreien. Sie nehmen mir die Luft zum Atmen und doch halte ich an ihnen fest; sie sind die Wurzeln meiner Selbst, aus denen ich mich herausentwickelte zu der Person, die ich heute bin.
Die Straßenbahn ist hoffnungslos überfüllt. Fremde Menschen drücken sich von allen Seiten an mich. Der Geruch von Schweiß und verschiedenen Sorten stechenden Parfums dringt in meine Nase. Das Atmen fällt mir schwer. Schweißperlen sammeln sich an meiner Stirn. Mir wird schwindlig angesichts der übertriebenen Nähe unbekannter Personen. Obwohl eine Fahrkartenkontrolle unter diesen Umständen unwahrscheinlich ist, zwänge ich mich durch, um die Fahrkarte abzustempeln. Mein Herzschlag beruhigt sich ein wenig. Kontrolleure können mir nun nichts mehr anhaben.
Ich bin froh der erstickenden Enge der Straßenbahn, die mir die Luftröhre zuschnürte, zu entkommen. Vor mir liegen zehn Minuten Fußweg. Der frostige Wind betäubt mein nacktes Gesicht und die ungeschützten Hände. Es ist ein angenehmes Gefühl, wie die Kälte ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper fließen lässt. Ich atme tief ein und spüre, wie die prickelnde Kühle mein Innerstes durchdringt. Ich lockere meinen Schal und fühle mich für wenige Augenblicke angenehm verloren im eisigen Wind.
Als ich die Wohnungstür meiner Mutter öffne, weht mir muffige Luft entgegen. Wie ein umgekippter Sack Reis mit dem Gewicht eines Diplodocus liegt meine Mutter in ihrem Doppelbett, welches sie gänzlich alleine ausfüllt. Auf dem Nachttisch befinden sich leere Wurst- und Käsepackungen, aufgerissene Pralinenschachteln und zwei leere Marmeladengläser. Sie hält es grundsätzlich nicht für nötig, sich angesichts meines Eintreffens zumindest aufzusetzen. Ich begrüße sie mit einem Kuss auf ihre aufgedunsene Wange.
Ihre winzigen Augen, eingesenkt in die Fettmasse ihres Gesichts, durchbohren mich. Sie sprechen stumm das aus, was ihr Mund laut echauffierend äußert:
„Sieh dich an! Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du dürrer und armseliger aus. Du bist 23 Jahre und nicht in der Lage, dich vernünftig zu ernähren. Ein blasses Klappergestell, das sich noch dazu kleidet wie eine Obdachlose. Was meinst du, was die Ärzte eigentlich bei dir finden sollen?“ Sie lachte gehässig auf. „Kein Arzt kann dir eine erklärende Krankheit liefern für dein Versagen. Selbst in rein elementaren Fähigkeiten wie der Nahrungsaufnahme versagst du. Du kommst einfach nicht zurecht im Leben. Hör auf, dir Krankheiten auszudenken, um deine eigene Unfähigkeit zu entschuldigen.“
Sie schüttelt ihren Kopf, ihr üppiges Doppelkinn schwabbelt bei der kleinsten Bewegung. "Nichts kriegst du alleine auf die Reihe. In deinem Alter war ich bereits Mutter und habe mich abgeschuftet für dich, damit du genügend zu Fressen hast. Und du?!“ Sie schnaubt verächtlich und verdreht ihre Erbsenaugen. Ich wende meinen Blick ab und möchte das Fenster öffnen. Mir ist übel von der beißenden Raumluft, auf meiner Brust lastet ein derber Druck, der mir das Atmen sabotiert. Mit einem Fingerzeig macht mir meine Mutter deutlich, dass sie das Fenster geschlossen halten möchte. Ihr angeschwollener Finger deutet auf den verdreckten Fußboden. Ich hole mir den Eimer mit Wasser und einen Lappen.
„Nicht damit“, grinst sie mich diabolisch an. Sie reicht mir eine Zahnbürste. Ich reibe mir beim Kriechen durch die Wohnung die Knie wund. Ich schrubbe gründlich jeden Zentimeter des Bodens unter den strengen Blicken meiner Mutter. Meine aufgeschürften Knie schmerzen, grauenhafte Stiche quälen meinen Rücken. Ich scheuere weiter. Und weiter. Der Boden ist übersät von Fettflecken, die nicht weniger zu werden scheinen, unbedeutend, wie viel ich schrubbe. Die modrige Luft schnürt meine Kehle zu, ich kann den Brechreiz nicht länger unterdrücken. Mein Unterleib spannt sich und ich spüre das unaufhaltsame Brennen in meinem Schlund. Gelblicher Mageninhalt ergießt sich auf dem fetttriefenden Fußboden, Haferflocken vom Frühstück haken sich in meiner Nase fest. Mir steigen versalzene Tränen in die Augen, voller Erschöpfung sinke ich nieder in mein Erbrochenes. Mit zitternden Armen versuche ich mich erfolglos aufzurichten. Meine verdorrten, rissigen Lippen formen lautlos die Worte „Ich kann nicht mehr.“
Ich sehe, wie meine Mutter beginnt, sich aus dem Bett zu erheben. Mühselig hievt sie ihren massigen Körper in die Höhe, das Bett ächzt und knarrt. Sie schleppt sich zu mir, begleitet vom Dröhnen der zitternden Erde und des Geräusches ihrer aneinander reibenden Oberschenkel.
Vor mir bleibt sie stehen und sieht verächtlich auf mich herab. Ihre Stimme durchbricht ohrenbetäubend meine Welt.
„Du kannst nicht mehr?! Als ich dich unter folternden Schmerzen aus meinen Gedärmen herauspresste, konnte ich da noch?! Du hast dich genährt von mir, hast mir meine Lebenskraft ausgesaugt wie ein widerwärtiger Bandwurm, du elender Parasit! Bis sich mein Körper endlich gegen deine Gift spuckende Existenz gewehrt hat und sich Deiner entledigen wollte." Ihr Geifer regnet auf mich herab. "Du beschwerst dich über das kleine bisschen Arbeit, das ich hier von dir verlange. Meine Eltern waren nicht so umgänglich mit mir. Bei deinem Verhalten wäre ich sofort grün und blau geschlagen worden. Ich war immer gut zu dir. Mein ganzes Leben habe ich für dich aufgegeben, musste dich ernähren, deine verschissenen Windeln wechseln und was tust du für mich?! Schwächelst bei der kleinsten Anstrengung wie ein jämmerlicher Wurm.“ Sie lässt ein angestrengtes Schnaufen von sich. „Ich bin deine Mutter! Ich habe dich geboren und es steht mir frei, mit dir zu tun, was ich will. Als dein duldsamer Wirt habe ich dir Schmarotzer das Leben ermöglicht. Ich verlange Dankbarkeit, ich verlange Entlohnung.“
Die wulstige Bestie beugt sich zu mir herunter und packt mit unmenschlich kräftigen Griff meinen kantigen Arm. Das Knacken meines splitternden Oberarmknochens entlockt ihr ein mitleidloses Lächeln. Sie reißt mich federgleich in die Luft und drückt mich an ihren fleischigen Leib. Mein Körper schmiegt sich in ihre mächtigen Berge aus Fettwülsten. Ich spüre, wie meine Haut sich um meinen Korpus straffzieht, wie sich jede Muskelfaser, jede Fettzelle, jegliches verbliebene Fleisch in mir auflöst. Langsam und genüsslich schlürft sie meinen Lebenssaft aus. Meine Haut spannt sich stramm um meine Knochen. Ich versinke immer mehr im undurchdringlichen Gebirge ihres Leibes. Die warmen Fettlappen drücken sich von allen Seiten an mich, pressen sich auch an mein Gesicht. Ich versuche nach Luft zu schnappen. Vergeblich.