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Neolithika
Neolithika
Als die Dämmerung hereinbrach blieben sie stehen. Die grauen Wolken, die den ganzen Tag nicht gewichen waren, wirkten jetzt noch unheilvoller und ballten sich dichter zusammen. Jasten rammte seinen Speer in den Heideboden. Er fuhr sich seufzend durchs helle Haar und setzte sich hin. Nird blieb stehen. Sie sah eine Weile in die Dämmerung vor sich und berührte ihren Bruder dann an der Schulter. „Komm, hier ist ein schlechter Platz.“ Nird sprach leise und war genauso erschöpft. Sie zog sich ihr Fell enger um die Schultern und ging weiter voran, langsam aber zielstrebig. Hinter ihr erhob sich Jasten mit Mühe und folgte ihrer Spur. Zwischen niedrigen Gehölzen und trockenen Büschen suchten sich die zwei ihren Weg durch die beginnende Nacht und fanden nicht lange darauf einen windgeschützten Platz unter einem Schwarzdorn, wo sie ein Feuer entzündeten und sich daran wärmten. Sie streckten ihre nackten Beine in Richtung der wohligen Wärme und starrten in die Flammen. Enttäuscht. Ernüchtert. Müde. Aber wovon enttäuscht ? Was hatten sie erwartet? Nichts anderes. Es war genauso, wie sie es sich vorgestellt hatten und das machte es noch schlimmer.
Nird umschlang ihre Knie mit den Armen, Jasten kratzte gedankenverloren an seiner Speerspitze, sie sprachen kein Wort. Kaum war der Stamm in der Lage sich selbst zu ernähren, trotz einer großen Anzahl erfahrener, weiser Jäger und Spurensucher. Doch Brauch ist Brauch. Und beiden, wie sie da so dasaßen und in die Flammen starrten, fielen die Worte der alten Urma wieder ein. Was sie gesagt hatte, was sie eh wussten. „Wer jung ist wird erwachsen. Wer erwachsen ist, ist Jäger. Wer erwachsen wird, wird Jäger. Wer erwachsen werden will muss Jäger werden. Wer Jäger werden will muss jagen können. Wer jagen kann muss es beweisen.“ So war es schon immer gewesen. So einfach. So würde es immer sein. Alle jungen Stammesmitglieder mussten allein oder zu zweit zwei Monde in der Wildnis überleben. Aber es gab kaum noch junge Menschen. Der Stamm schwand dahin. Als letztes hatte es vor fünf Jahren Darete geschafft. Sie hatte Glück gehabt und einen verletzten Eber in den südlichen Wäldern gefunden.
Nird legte sich hin, fast fielen ihr die Augen zu. Jasten hatte den Speer in Ruhe gelassen. Auch er lag fast zusammengerollt und war dem Schlafe nah.
Es gab welche die eher zurückkamen. Immer wieder. Im Laufe der Jahre. Halbverhungert und ausgemergelt. Manche kamen auch gar nicht wieder. Wer vor der Frist zurückkam genoss kein Ansehen im Stamm. War fast geächtet. Und vor allem ewig ein Kind und kein vollwertiges Stammesmitglied. Nird schüttelte sich. Sie würde nicht zurückgehen. Schon gar nicht nach sechs Tagen. Ihr Speer war scharf, sie mussten nur endlich etwas finden. Irgendwas. Wenigstens ein Kaninchen. „Schlaf gut.“, murmelte Jasten ihr zu, sie lächelte noch, dann waren beide von ihrer Erschöpfung übermannt.
Auch am nächsten Tag wollten die grauen Wolken nicht weichen. Der Wind war kühl und die Lerchen flogen über die Heide. Das hohe trockene, dürre Gras hörte nicht auf, vereinzelt Sträucher, manchmal ein Baum, zwischendurch Büsche, aber kein einziges Tier. „Wenigstens ein Kaninchen, wenigstens ein Kaninchen.“, sagte Jasten immer wieder. Er hatte furchtbaren Hunger, alle Vorräte hatten sie schon am Morgen zuvor aufgebraucht. Nird schwieg und wurde von Stunde zu Stunde bitterer.
Doch plötzlich erstarrte sie, hielt mitten in der Bewegung inne. Jasten, der in ihrer Nähe gelaufen war, verharrte sofort und bewegte sich ebenfalls nicht mehr. „Wo?“ flüsterte er. „Unter der Hagebutte.“ Langsam hob er den Kopf. Richtig, unter der Hagebutte, einen halben Bogenschuss entfernt mümmelte ein Kaninchen. Nird schloss die Augen, als sie ganz langsam ihren Bogen vom Rücken nahm. Jasten tat das Gleiche. Und er trat noch einen Schritt vor. Und noch einen. Nird wollte kein Risiko eingehen, „Bleib hier!“ zischte sie. Ja, kein Risiko eingehen. Wenn sie von hier zielte, ging der Schuss vielleicht daneben, ging sie näher ran verscheuchte sie es vielleicht. Sie ging einen Schritt vor und legte dann den Bogen an die Sehne. Jasten zielte schon. Sie zählten. Ganz leise, ganz langsam. Jasten konnte schon den Duft von gebratenem Kaninchen riechen.
„Eins“ Mit einem Kaninchen kommt man zu zweit, wenn man sparsam ist, ein paar Tage aus. Sie durften nicht gleich alles essen, sie mussten es sich einteilen, auch wenn sie großen Hunger hatten.
„Zwei“ Und wahrscheinlich gab es hier noch andere. Vielleicht konnten sie einfach hier bleiben und warten, und müssten nicht mehr weiterziehen. Durch den kalten Wind. Durch das trockene Gras.
„Drei“ - Zwei Pfeile zischten fast gleichzeitig durch die Luft. Der Schafft des einen zitterte in der Erde, der andere verschwand im Hagebuttendickicht. Das Kaninchen hoppelte schnell davon. Die beiden bewegten sich nicht, diesmal aus dem Schock heraus. Was eben geschehen war konnten sie kaum glauben. Sie hatten es beide verfehlt. Beide! Verfehlt! Nach kurzer Zeit des Begreifens schleuderte Jasten den Bogen ins Gras, sich hinterher und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Sie ließ sich auch fallen, legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter und stieß mit ihrer Stirn an seine. „Jasten.“ Sagte sie. Er nahm die Hände vom Gesicht.
Auf einmal weiteten sich seine Augen. Nird drehte sich um. Hinter ihr lag ein großer, ein sehr großer Felsen im Gras. „Es ist bestimmt nicht weit.“ , rief er und stürmte schon auf den Felsen zu. Nird war sofort angesteckt und rannte hinterher. Die Hagebutte riss die Beine auf im Vorrüberrennen - egal, der Felsen konnte sie retten.
Es war nicht einfach heraufzukommen. Aber sie versuchten es. Und versuchten es. Und irgendwann, als die Haut schon wund war und die Knochen vom Krallen an nacktem Fels weh taten, schafften sie es doch. Gerade so, mit der Angst, kurz vor dem Ziel wieder abzurutschen, aber sie rutschten nicht ab.
Sie lagen oben auf dem Felsen, ruhten sich aus und keuchten. Kein Kaninchen war zu sehen und die Gebüsche und Gehölze, die hier am Felsen doch recht üppig gediehen, nahmen ihnen oftmals die Sicht. „Wir würden es in dem Gras auch gar nicht erkennen.“ Nird fand es nun sinnlos. Kaninchen waren im Gras gut getarnt auf die Entfernung. Aber Jasten wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Er erhob sich und beschattete die Augen mit der Hand. Das war zwar unsinnig, denn es war überhaupt nicht hell, aber alle erfahrenen Jäger machten das so. Er drehte sich um. Nird besah sich das Moos auf dem Felsen. Es war schön weich und schön grün. Moos eben.
„Und, siehst du was?“ Aber Jasten antwortete nicht. Nird hob schließlich den Kopf und sah zu ihm hoch. Jasten hatte die Hand heruntergenommen. Er stand nur noch da und starrte in die Ferne. Und er war leichenblass. „Was ist denn?“ Er antwortete nicht. Mit einem Satz war Nird auf den Beinen und sah in die selbe Richtung. Und wurde ebenso blass. Ein kühler Wind trieb ihr die dunkelblonden Haare in den Himmel.
Wenn die Wolken sich so ballen und schwer über die Landschaft ziehen, wird es schnell dunkel. Schon waren die Konturen schwach, das Licht war matt und zwischen den Büschen leckte der Nebel über das Gras und höher. Die Büsche blieben in der Dichte im Umkreis bestehen, das Land senkte sich aber ab, so dass man vom Felsen einen weiten Blick hatte. In der Ferne war das Gras nur noch graue Masse mit dunklen Punkten, weit hinten gab es vielleicht so etwas wie Wald, dort war es sehr dunkel und dahinter - dahinter erhob sich ein Geheimnis. Ein Ort den die Geschwister noch nie gesehen hatten, aber doch kannten. Aus den Erzählungen und Legenden der Alten des Stammes. Er war verboten und verflucht und man machte kleinen Kindern Angst damit. Aber jetzt, jetzt ihn so aus weiter Ferne zu sehen, im kalten Dämmerwind unter freiem Himmel, ganz allein, ohne Stamm und so unermesslich groß, so überwältigend... Dass der Ort so groß war hatte niemand erzählt. Und so düster und so unheimlich.
Am Horizont, von Nebel und Wolken leicht umwabert, standen riesige Kästen. Ganz gerade, ganz groß und dunkel. Erst kleine, dann größere und in der Mitte standen die größten, wie unsterbliche Riesen zwischen den Wolken. Aber dort, in der Mitte, erhob sich etwas anderes noch, wie ein gerader Baumstamm, der hoch und höher in die Wolken zu streben schien, immer weiter dem Himmel zu und schließlich, ganz oben lag eine große glänzende Kugel auf dem Stiel und auf der Kugel war noch eine lange Spitze. Unheildräuend stach sie in die hängende Wolkendecke. Vielleicht regnete es dort, es sah diesig aus.
Es war still. Unbewegt stand der Turm. Unbewegt, riesig und einschüchternd. Sie sahen den Ort so lange an, bis sie merkten, dass es schon um einiges dunkler geworden war. „Jasten,“ flüsterte Nird, „das ist Häuser“ . Jasten nickte nur.
Sie hatten den Ort gefunden, den man Häuser nennt und in dessen Nähe man nicht kommen darf. Kommt man von den großen Bergen und zieht zum vergifteten Meer, ein wenig Richtung Sonnenaufgang, hieß es, findet man den Ort der Häuser geheißen. Mit dem Himmelsturm. Das wussten sie, doch sie hatten keine Ahnung gehabt, dass sie soweit nach Norden gekommen waren, dass sie viel näher am giftigen Meer als an den großen Bergen waren. Und nie hätten sie gedacht, dass Häuser so nahe liegt. Auf der Suche nach Häuser wären sie weit Richtung Sonnenaufgang gezogen. Nie hätten sie es hier vermutet.
Das Feuer knackte. Jasten und Nird waren wenigstens eben so müde wie am Vorabend und noch viel ermatteter. Sie waren auch ebenso still und sprachen kein Wort. Aber an Schlaf war heute nicht zu denken. Mit aufgerissenen Augen starrten sie ins Feuer und lehnten an dem großen Felsen der sich in der Dunkelheit unter den Sternen wie der Schatten eines großen Tieres annahm. Ein Tier...Sie hatten ein paar Pilze gefunden und eine Knolle von der sie wussten, dass man sie notfalls essen konnte. Beides schmeckte furchtbar und verschlimmerte den Hunger nur noch.
„Es ist verboten“, Sagte Jasten plötzlich und führte damit laut einen Dialog fort, den sie beide in Gedanken die ganze Zeit führten. „Wir müssen es ja niemandem sagen.“ „Es ist sicherlich nicht umsonst verboten. Du weißt doch ...“ Nird schwieg. Sie war sich selbst nicht sicher was sie wollte. Genau sowenig wie ihr Bruder. Der sprach weiter. „Alles vergiftet. Alles verflucht. Ein Ort des Vergehens und so weiter. Du weißt doch...Ich meine vielleicht stimmt das ja auch alles gar nicht. Oder nicht mehr. Das müsste eigentlich mal jemand prüfen.“ Nird sah ins Feuer. „Es ist verboten.“ Jasten stocherte mit einem Pfeil im Gras herum. Lange Zeit war es still. Nird lehnte ihren Kopf gegen den kalten Fels hinter ihr. „Böse Menschen. Böse Menschen die sich gegenseitig essen. Die im Gift leben. Die gefährlich sind.“ „Ja,“, sagte er, „wer weiß wer dort ist.“ Nird sah ihren Bruder an. „Wir müssen ja nicht hineingehen. Also nicht ganz hinein.“ „Am Rand gibt es vielleicht viele Tiere. Wenn es hier keine gibt.“ Nird nickte nachdenklich. An diesem Abend dauerte es lange bis sie einschliefen.
Das Wetter änderte sich nicht. Dazu war es eh zu träge. Und so war es nun mal in der Jahreszeit. Trotzdem war es am nächsten Tag ein wenig heller und die Geschwister pirschten sich umsichtig durchs Gras. Versuchten all ihr junges Jägerwissen und -können anzuwenden. Einmal stießen sie auf eine Spur von einem Hunderudel. Aber sie war schon zu alt. Tatsächlich verdichtete sich der spärliche Baumbestand schon bald zu einer Art lichten Wald. Häuser konnte man von hier aus nicht mehr sehen, aber sie mussten schon nahe dran sein. Und als sie von einer jungen Eiche schon den Himmelsturm, gar nicht so weit weg, ausmachen konnten, wussten sie mit beklommener Aufregung, dass es nun nicht mehr weit war. Und bald schon kamen sie auf eine Lichtung, da fanden sie das erste Anzeichen, dass sie den dunklen Ort betreten hatten. Es war grau und groß und sah eigentlich aus wie eine Höhle, denn es war aus Stein. Aber es gab keinen Berg dazu. Es war viereckig und hoch, teilweise umrankt, teilweise verfallen, mit viel Schutt an der Seite. Jasten und Nird hatten so etwas noch nie gesehen, wenn es sie auch an die großen Kästen erinnerte, die sie vom Felsen aus gesehen hatten. Es war nur viel kleiner. Sie traten scheu an die Wände und betasteten sie. Da waren wohl auch mal Öffnungen gewesen, aber jemand hatte sie mit Lehm geschlossen. Und als sie so um das Ding herumgingen, sahen sie, dass das was an den Wänden rankelte, Wein war. Und er trug Früchte. Und sie waren süß und fruchtig.
Ehrfürchtig pflückten sie die weißen und roten Trauben herunter und steckten sie sich immer schneller in den Mund. Es war ein Genuss, der sie alles andere vergessen ließ. Aber sie wurden aus ihrer glücklichen Trance jäh herausgerissen. Dumpf und hohl erklang eine Stimme von innen: „Wer ist da?“ die Geschwister zuckten zusammen und die Trauben rollten ihnen aus den Händen. Kein Mucks kam von ihren Lippen, ihre Speere lagen am Rand der Lichtung im Gras. Sie gingen einige Schritte rückwärts, die Blicke scharf auf die eckige Höhle gerichtet. Langsam und leise. Doch plötzlich wurde das Leder das vor dem Eingang hing zurückgeschlagen und eine alte Frau trat heraus. Die Felle und das Leder das sie trug waren alt, genau wie sie. Sie ging an einem knorrigen Eichenknüttel und auf ihrer Schulter hockte eine große Dohle. Die alte Frau beugte sich vor und besah sich die beiden. Die waren stehen geblieben und atmeten tief und schnell.
Die Alte sah zum fürchten aus. Ihr eines Auge war erblindet, Ihre Nase verwachsen wie ein alte Wurzel, ihre Zähne schwarze Stumpen und ihre Hände lang und dürr. Wenig fettes Haar spross auf ihrem Schädel und Warzen verunzierten ihr Gesicht. Sie murmelte etwas vor sich hin und sprach dann laut. „Sieh an, sieh an, Besuch. Wer hätte das gedacht.“ Jasten und Nird wichen zurück vor der alten Frau. Aber die ließ nur ein zahnfaules Lächeln sehen und sagte dann: „Kommt doch herein ihr Lieben. Ihr seid bestimmt hungrig. Ich werde euch Gastfreundschaft erweisen.“ Die Geschwister sahen sich an. Die Alte wirkte unheimlich, aber nicht gefährlich. Sie konnte ja kaum gehen. Sie nahmen ihre Speere und die Einladung an. Die alte Frau führte sie kichernd und sabbernd in die Höhle, ins „Haus“ wie sie später immer wieder sagte.
Drinnen war es dunkel, einige Talglichte brannten, aber es war auch sehr voll, überall hingen Felle, gegerbtes Leder, sogar Gefäße aus Ton waren zu finden und viele getrocknete Pflanzen und Pilze. Ein Bärenschädel lag in einer Ecke, eine andere war mit weichen Fellen ausgelegt. Auf denen durften sie Platz nehmen.
Sie bekamen Ziegenfleisch vorgesetzt und Kohl, Bucheckern, Zwiebeln und Kartoffeln. Und zum Schluss etwas ganz besonderes: Eine duftende trockene Masse, außen härter, innen weich, die schnell Satt machte. Sie verschlangen einen ganzen Laib und bekamen zum Nachtisch noch Weintrauben. Aber was sie da gegessen hatten, beantwortete die alte Frau nur mit einem Kichern. Das Feuer in einer Steingrube, in der Mitte des Hauses, glomm nur noch. Die Alte stocherte darin herum, Jasten und Nird streckten sich genüsslich auf den Fellen aus. Sie waren satt und müde. Es ging ihnen wunderbar. „Zum Schluss“ nuschelte die Alte, „noch etwas ganz besonderes.“ Aus der Asche holte sie heiße Kartoffeln und in einem kleinen hohlen Horn präsentierte sie den beiden etwas wie weißen Sand. Zuerst waren sie verwirrt, dann schrie Jasten auf „Salz! Es gibt hier Salz!“ Es war tatsächlich Salz und obwohl sie schon so satt waren, genossen sie eine Köstlichkeit, die nur wenige in ihrem Stamm je hatten erfahren können. Es war Salz.
Nird lag in der Sonne. Es war doch noch ein schöner Herbst geworden. Schon viele Tage wohnten sie bei der Alten und ließen es sich gut gehen. Es gab viele Mahlzeiten am Tag, besonders viel fettes Fleisch, von dem die Alte Jasten immer mal gerne etwas zusteckte.
Bereits am zweiten Tag hatte die Alte viele ihrer Geheimnisse verraten. Sie war mit den beiden hinausgetreten aus dem Haus und hatte mit ihnen einen Pfad eingeschlagen, der ein wenig abseits führte. Es war absonderlich, was sie hier erlebten und Nird fühlte sich die ganze Zeit wie in einer anderen Welt. Aber besonders als sie aus dem Wald heraustraten und vor ihnen eine große Fläche lag. Sand. Nein, Erde. Und seltsam, in Reihe und Glied wuchsen dort Pflanzen. Die Alte hatte sie dort hineingesetzt, es waren Kartoffeln. Hatte sie erklärt. Jasten war fasziniert. Nie brauchte sie welche zu suchen, sie wusste immer wo welche waren. Die Alte nickte und bat Nird das Unkraut das zwischen den Kartoffeln wuchs herauszureißen. Nird tat das gerne, aber inzwischen zeigte die Alte Jasten eine andere Stelle. Dort wuchs Korn. Korn konnte man doch nicht so essen, hatte sich Nird später verwundert, aber Jasten bestand darauf, da wuchs Korn. Und hinter Pfählen, noch ein Stück weiter, grasten Ziegen. Sie konnten nicht weg, denn da waren ja die Pfähle. Nird musste die morschen gegen neue auswechseln.
Seltsam kam ihnen alles vor, aber es machte alles auch Sinn. Nird ärgerte sich aber nach einigen Tagen, denn während sie zu den „Feldern“ hinausmusste, sich um die Ziegen und die Pflanzen kümmern, auch Fallen kontrollierte, die die Alte aufgestellt hatte und den ganzen Tag unterwegs war, machte Jasten andere „Arbeit“. Er sollte aus Holz Gefäße schnitzen, dafür gab ihm die Alte einen scharfen Obsidian. Wenn die Schwester ging, lag er auf den Fellen und schnitzte und wenn sie wiederkam lag er in der Sonne und schnitzte vielleicht auch, oft aber hörte er der alten Frau zu, die von Häuser erzählte und davon, dass hier vor uralten Zeiten viele Menschen gewohnt hatten und Geister und viele Wunderdinge.
Nird erfuhr nicht viel davon, sie war auch bitter gegen die Geschichten bei deren Jastens Augen zu leuchten anfingen und gegen die alte Frau, die sie so ungleich behandelte. Aber sie sagte nichts, das stand ihr nicht zu, ob der Stamm aus Sechzig Personen oder drei bestand. Manchmal machten sie Ausflüge nach Häuser, aber nie weit hinein. Dort war viel Stein, auch auf dem Boden, Tiere gab es keine. Es war sehr still dort und unheimlich, sie fühlten sich dort beide nicht wohl und überall standen Mauern und Häuser, halb oder ganz zerfallen. Und mit jedem Schritt wuchs der große Turm ins unermessliche und es war, als drückte er einen mit der gewaltigen Kugel platt, in einer fremden Sprache drohend und immer da, immer von oben beobachtend, wie ein riesiger Augapfel. Einmal sahen sie einen Mann, er hatte verzerrte Gesichtszüge, nur ein Auge Stümpfe als Arme. Er hastete, humpelte, hinkte von einer Ruine zur nächsten. Jasten und Nird verließen Häuser sofort. Niemals kehrten sie wieder soweit zurück.
Nird genoss die Sonne. Aber sie dachte auch daran, wie nah Häuser eigentlich war. Und sie wusste trotz der alten Frau nicht viel. Das meiste was sie erzählte klang nach Märchen. Sie vertraute der Frau nicht. Jasten glaubte aber alles was sie sagte, wenn sie erzählte, hing er an ihren Lippen und sie fütterte ihn mit Fleisch sooft sie wollte.
Auch ein anderes sonderbares Geheimnis hatte sie schließlich gelüftet. Die dunkle duftende Masse, die sie am ersten Tag gegessen hatten, nannte die Frau Brot. Sie nahm das Korn zur Erntezeit, schlug mit einem Stock die Körner Heraus, zerrieb sie zwischen Steinen, mischte das Pulver mit Wasser und legte den Fladen in die Asche des Feuers. So machte sie Brot, wie sie sagte und dafür brauchte sie das Korn. Nird wollte sich das merken. Das konnte für ihren Stamm bestimmt von Nutzen sein. Sie wollte auch nicht immer bei der alten Frau bleiben. Sie fühlte sich immer unwohler hier. Aber Jasten wollte nicht weg. „Besser können wir es doch gar nicht haben.“ Meinte er. Nird dachte daran, dass sie doch beweisen mussten, dass sie es alleine schaffen konnten. Sie seufzte. Vielleicht konnten sie es ja gar nicht.
Die Alte kam um die Hausecke geschlurft. „Mein liebes Kind,“, murmelte sie, „ ich habe dir einen Aufguss aus Kräutern bereitet. Trink ihn und es wird dir gut gehen.“ Nird nahm die Tonschale in die Hände. Es duftete gut. Die Alte sah sie aufmerksam an. „Trink ruhig, du hast viel gearbeitet, es wird dir helfen neue Kräfte zu sammeln.“ „Wo ist Jasten?“ „Im Haus, er schläft.“ Nird setzt die Schale an die Lippen und trank einen großen Schluck. Die Alte lächelte und schlurfte ins Haus zurück.
Kaum war sie um die Ecke, spie Nird alles wieder aus. Es schmeckte grauenhaft. Mühsam erhob sie sich. Allein der stark duftende Dampf hatte sie ein wenig benebelt. Sie atmete tief aus und ein, der Geschmack des Suds auf ihrer Zunge wurde pelzig und unausstehlich. Sie beschloss hinein zu gehen und Wasser zu trinken. Ihre Beine wurden ein wenig weich, dann ging es ihr wieder besser. Als sie das Leder vor dem Eingang zur Seite schob, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.
Jasten lag auf dem Boden, in der Nähe des Feuers. Den größten Teil seiner Kleidung hatte er abgelegt, er lag auf dem Bauch, die Augen geschlossen, friedlich aber ernst sein Gesicht. Die Alte beugte sich gerade über ihn, strich ihm die blonden Haare aus dem Nacken und hielt in der Hand ein riesiges schwarzes Obsidianmesser, wie Nird noch keines gesehen hatte. Der durchdringende Geruch des Suds schlug ihr entgegen. Mit einem Schrei stürzte Nird der Alten in den Arm, rang mit ihr. Doch die dünne alte Frau fasste Nird ebenfalls im Nacken, mit dürren festen Fingern und einem Griff der keine Lockerung duldete; Nird schrie auf und ließ das Messer los, um sich von dem Griff zu befreien, die Alte zischte, Jasten regte sich nicht. Schon bewegte sich das Messer auf ihre Kehle zu, Nird würgte unter dem Klammergriff und trat nach der Alten. Hätte sie nur ihren Speer, erlegt wie ein wundes Wild hätte sie die Alte. Die gurgelte und keuchte, schnitt mit dem Messer immer wieder die Luft in Stücke, konnte Nird aber nicht erreichen.
Die junge Jägerin hatte sich schon gewundert, wie die Alte es geschafft hatte, all die Arbeiten zu verrichten. Jetzt wusste sie es, sie war weit stärker, ausdauernder und zäher als ihre Gestalt vermuten ließ. Wie eine Weidengerte ließ sie sich zwar immer wieder zurückdrängen, aber sobald man nur ein wenig nachließ, kam sie zurück, mit mehr Kraft, ausdauernder, schneller, wütend wurde die Alte jetzt und versuchte Nird mit dem Messer zu treffen, egal wo.
Nird wurde nur gestreift, aber schließlich reichte es ihr. Sie war jung. Sie war stark. Sie wollte zu ihrem Stamm zurück. Sie Wollte ihren Bruder zurück. Wenn sie schon keine Wild erlegt hatte, wenn sie schon in den Landschaften versagt hatte, dann durfte sie es jetzt nicht. Nicht gegen eine alte böse Frau an einem alten bösen Ort.
Und als das Obsidianmesser mit der Bosheit und Kraft vieler einsamer Jahre auf ihre Kehle zuraste, ließ sich Nird einfach fallen. Ihr Gewicht konnte der Klammergriff nicht halten und die junge Jägerin war frei, kam behände aber sofort hinter der Alten wieder hoch, packte von hinten beide Handgelenke und riss die Arme nach oben.
Das Messer flog in hohem Bogen dahin und zersprang auf dem Steinfußboden. Die Alte zischte wieder und schnaufte. Nird, dagegen war ratlos, was nun? Jasten lag noch immer friedlich schlummernd da.
Nird stieß die Alte von sich, mit aller Kraft. Jene fiel. Sie schlug mit dem Kopf an der steinernen Kante der Feuergrube auf und blieb über dem Feuer liegen. Ihre trockenen Felle fingen sofort Feuer, sie brannte, aber sie rührte sich nicht.
Nird war in Panik, sie rannte in die Ecke, nahm die Arme voller Holz und warf alles auf die brennende Frau. Das ganze Holz. Ein riesiges Feuer loderte schon bald, in dem der Leichnam der Alten verbrannte. Jasten hatte sie nach draußen ins Gras gezogen. Er übergab sich und heulte vor Schmerzen. Der Sud musste eine ungeheure Wirkung haben. Nird heulte auch. Und der Himmel mit ihnen, es fing zu nieseln an, die alte Wolkendecke war wieder über die Landschaft gebreitet.
Der ganz Raum war voller Ruß und alles irgendwie angekohlt. Nird beeilte sich, sie wollte so schnell wie möglich hier weg. Mit Jasten. Schon bald hatte sie gefunden was sie suchte, in der hintersten Ecke, sorgfältig verwahrt.
Und so schleppten sie sich wieder durchs hohe Gras, unter Nieselregen und Nebel. In Richtung ihres heimatlichen Stammes. Ihre Speere hielten sie fest in ihren Händen, Pfeile und Bogen ruhten auf ihren Rücken. Wieder waren sie müde und erschöpft, aber sie gingen weiter, in der Abenddämmerung. Bei jedem Schritt wippten an ihrer Seite kleine Lederbeutel, darin waren Samen für verschiedenes Getreide und Setzlinge von Kartoffeln und Zwiebeln, außerdem einige Hörner mit Salz. Mit Rufen und Stöcken trieben sie eine Ziegenherde vor sich her.
Unter einem Hagebuttenbusch saß ein Kaninchen und sah ihnen nach.