(Neu)anfang
Wie soll ich anfangen? Allmählich sollte ich doch darin Übung haben.
Jeder Tag ist für mich ein Neuanfang, selbst wenn er noch gar nicht begonnen hat. “Ab morgen wieder” oder “Morgen wird es besser”. Ich lebe nicht mehr im Jetzt, nicht mehr heute, erst morgen wieder...
Aber wie fange ich an?
Ich stütze mein Kinn auf mein angewinkeltes Knie, sinne nach und lege die Hände über meine Augen.
Wie soll ich nur anfangen? Wie soll ich es nur anfangen? Wie hat die ES nur angefangen?
Ich versuche mich zurück zu erinnern, grüble. Vielleicht hilft es mir dabei morgen wieder von vorne zu beginnen.
Ich blicke zurück, suche nach dem Moment, in dem alles begonnen hat, dem Moment, in dem die ES begonnen hat.
Doch alles was ich sehe ist ein ewiges Rauf und Runter, ein Geschwür aus Schwarz-Weiß-Denken, das zu einer grauen, formlosen Masse verwischt und unergründlich geworden ist. Hinter mir liegt ein langer Weg, der mich an Orte geführt hat, die dunkel, fremd und hässlich waren, kreuz und quer durch Trauer, Wut, Hass, aber auch unendliche Leidenschaft, immer wieder kehrende Katharsis, Euphorie, in eine Sucht danach, eine Sucht nach Selbstqualen, danach sich das Leben so kompliziert wie möglich zu machen, eine Sucht nach Endorphinen, nach dem Gefühl alles kontrollieren zu können, nach Erhabenheit über alles und jeden anderen.
Jedes Mal, wenn ich ganz unten war bestärkte mich die Gewissheit, dass es auch wieder ganz hoch hinauf gehen würde. Es wird wieder besser. Aber erst ab morgen.
Der Weg bis hier her war lang. Manchmal war er unbeschwerlich, doch manchmal führte er mich auch durch Schmerzen und Scham, den ich mir nie hätte vorstellen können, auch jetzt nicht, hinterher.
Manchmal da dachte ich, dass es nicht schlimmer werden könnte, manchmal dachte ich, dass ich jetzt alles hinter mir habe. Doch dann offenbarte sich mir wieder etwas Neues, bisher nie Dagewesenes, dass mich voll in Anspruch nahm
So folgte ich diesen Weg, über viele Jahre.
Ein ewiger Balanceakt zwischen zwei Extremen unterschiedlicher Art, aber hergerührt durch ein einziges Extrem.
Doch wie hat es angefangen? Wie und wann war der erste Schritt auf diesem Weg? Hab ich ihn alleine, freiwillig betreten? Habe ich gewählt?
Ja, diese Fragen müsste ich mir stellen. Doch ich habe Angst, denn diese Fragen dürfen eine, mir viel wichtigere, nicht überschatten, mich nicht von ihr ablenken:
Die Frage nach dem Ziel!
Wo endet der Weg? Wo führt er mich hin? Gibt es ein Ende? Werde ich an meinem Ziel zufrieden sein, glücklich? Und viel eher: Wie komme ich dahin?
Ich kenne die Antworten, sie waren mir von Anfang an bewusst. Doch ich weigere mich sie zu akzeptieren, bin zu stur dafür. Ich muss es nur weiter versuchen, meine Bemühungen verdoppeln, besser werden, alles geben, kontrollierter sein. Ich darf mich nicht ablenken lassen, denn nur das ist wichtig. Egal was die anderen sagen, denn die sind schwach, zu schwach das zu versuchen, was ich durchziehe.
Ich bin stark, denn aus dem Bemühen ziehe ich meine Stärke. In jeder Qual, eine Bestätigung, in jedem sorgenvollem Blick, eine Hochachtung.
Weniger von mir, ist mehr von mir. Iss weniger, ist besser! Kälte bedeutet innerliche Wärme, Schlaflosigkeit ist nur der Wille nach Konzentration. Schmerzen bedeuten Erhabenheit.
Nur ein bisschen mehr, nur ein Bissen weniger.
Askese und dann? -Ich schwebe, alles ist dumpf, alles ist fern, ich bin fern! Ich bin geflohen, bin ausgebrochen aus dieser Welt, habe meine eigene, gehe nie wieder zurück. Stille, Frieden, Ungebundenheit, dedürfnislos....
...Ab morgen. Einen kleinen Schritt näher, einen Weg finden, einen neue Nische, einen neuen Winkel, eine neue Methode, die ich noch nicht ausprobiert habe, neue Motivation.
Die Erfüllung wird kommen. Erfüllung nach dem Wunsch keinen Wahnsinn mehr zu empfinden, nichts mehr zu empfinden, schwerelos zu sein, zu schweben, der Wunsch nach Zusammhang, nach Vollkommenheit, unerschütterlich, ganz einfach nur noch ICH!!!
Ich renne und renne, jeden Tag, laufe darauf zu, atemlos, aber noch nicht schwerelos, mit geschlossenen Lidern, sehe nur schwarz, noch nicht angekommen, angekommen würde ich hindurch sehen können. Ich zittere, ich friere, ich träume, ich bin gefangen, gefesselt an etwas, dass nicht ich bin, fremd in mir, fremd in dieser Welt.
Ich muss nur noch ein kleines Stückchen weiter gehen... nur noch wenige Schritte.
Ich warte. Ich warte auf den Moment, auf den Endspurt, auf die Zielgerade, darauf, dass ich endlich ankomme.
Die innere Unruhe treibt mich voran, meistens.
Nicht ausruhen! Nein, tu es nicht! Denn jeder Neuanfang, jedes Aufstehen ist schwer. Doch ich falle, falle weiter, tiefer, ins Bodenlose.
Mein Leben: fallen, aufstehen, rückwärts, vorwärts, hoch und runter. Nicht stehen bleiben, denn das führt dich nirgends hin.
Eine Alternative? -Es gibt keine... nicht etwa weil es vorbestimmt ist, sondern weil es das Richtige ist, das einzig Richtige!
Ich atme tief durch, wie so viele Male, ich spüre mein Herz, taktlos, wie so viele Male.
Ich sehe wie es mein Blut durch meine durchscheinenden Adern pumpt.
Ich sehe Haare auf dem Badezimmerboden, seufze und binde mir die Haare erneut zusammen, dabei schlafen mir die Hände ein.
Ich sehe auf meine Hände: blau. Aber ich sehe es nicht, ich sehe nur zuviel. Wie immer.
Wie konnte es nur soweit kommen?
Wie konnte ich es nur soweit kommen lassen?
Es wurde doch endlich wieder besser. ES machte mich besser.
Jetzt ist es nicht mehr gutzumachen.
Erst morgen wieder.
Aber wie?
Wie fange ich morgen an?
Ich bin selber Schuld, dass ich morgen wieder anfangen muss.
Na ja, morgen wird es besser. Morgen kannst du neu anfangen... denn heute, ist es vorbei.
Wie kann man auch nur so blöd sein...
...und eine ganze Scheibe Brot essen?