Neues von Bogus Lamero: ... dann existiert kein Makel
"Bogus, komm einfach vorbei. Diese Gruppe ist sowas von ... total inspirierend", die Stimme von Doreen hatte soeben ihre satte sächsische Färbung verloren.
Heute lagen eigentlich noch tausend Dinge an. Der Abfluss in der Dusche, das fehlende Tomatenmark, die schriftliche Kündigung fürs Sportstudio, der Besuch in "Mario´s Buchladen" (nein, über das Apostroph lässt er nicht mit sich reden), die Hundeleckerlis - und, und, und.
Nachdenklich biss ich durch Brot, eine dicke Scheibe Emmentaler und eine feine Schicht Butter. Ich riss ein Blatt vom Tageskalender neben dem Kühlschrank. "Mit Hesse durch das Jahr", den hatte mir Doreen zu meinem fünfjährigen Jubiläum geschenkt.
Schon fünf Jahre in Hamburg, mir kam es exakt so lange vor.
Etwas kitzelte meine Nase, ein Schwall von nebenan aus der Kunststudenten-WG: gebratene Anchovis, Eier und Schwarzwurzeln. Ein Geheimrezept, kürzlich war es mir nach drei Flaschen Rotwein zwar nicht zubereitet, aber verraten worden - es sei makellos. Malik war also wach. Schon später Abend?
Ich konzentrierte mich auf die Kalenderzeilen: "Kein Mensch kann das beim andern sehen und verstehen, was er nicht selbst erlebt hat." Klar, so sah ich das auch. Meine Entscheidung war gefallen.
Wir saßen uns zu sechst im Kreis gegenüber. Um uns ein nackter Raum, an der Decke spiegelvergitterte Lichtquadrate.
Neben Doreen entdeckte ich ein gerahmtes Poster hinter Glas, vom Foto lächelte ein alter Mann auf dem Schoß eines noch älteren, darunter der Satz: "Erwachsene brauchen viel Zärtlichkeit, damit sie keine Drogen nehmen." Hinter einer Dame mit geblümter Strickweste und einer Nase, die wie mehrfach gebrochen aussah, ein weiterer Rahmen. Und die Worte: "Was du hier hörst, wen du hier siehst, lasse es zwischen diesen vier Wänden." Wenn man es genau nahm, hatte dieses Zimmer fünf bis sieben Wände, dachte ich.
"Hallo, ich bin der Stefan, seit dreieinhalb Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Buch der Wandlungen, dem I-Ging." Stefan links neben mir trug ein kurzärmliges Hemd, auf dem der Kopf eines Pitbulls eingestickt war, seine Bizeps-Muskeln sahen aus wie der aufblasbare Pinguin meines Neffen. Stefan trug das Haar seitlich rasiert, an seinem Hals prangte ein Tattoo in Old-English-Schrift. "Makellos"las ich im Stillen.
Die Kombi aus Strickweste und Boxernase begrüßte mich ganz offiziell, stellte mir das "I-Ging" als das älteste chinesische Weisheitsbuch vor, und erklärte, dass quasi alle hier seit Jahren damit „zu tun“ hätten.
Es folgten zwei weitere Frauen in den Vierzigern, die sich in Outfit und Aussehen auffällig ähnelten (braun-orange Cordröcke, peinlich genau rasierte Beine und Achseln, Crocs - einmal türkis, einmal rosa -, grellroter Lippenstift).
Doreen kam mir unter diesen Umständen so verführerisch wie nie vor, ich hing an ihren Lippen und bekam nur noch die letzten fünf Worte mit: "... an meinen Freund Bogus weitergeben."
Die Luft blieb mir weg, erst der Klang meiner Stimme, die endlich meinen Namen aussprach, gab mir Sicherheit. Ich erwähnte beiläufig einen Yogakurs, den ich mal belegt hatte, was mir einen Knieklapps von Pitbull Stefan einbrachte. Ich sprach weiter, und presste wie von Weitem meine letzten Worte raus: "... dass ich von so einer Scheiße hier echt nix erwarte", wie ferngesteuert drehte ich mich nach links, "und wenn du mich nochmal anfasst, dann ramm ich dir Tobis Delphin in deine rechtsradikale Fresse."
Stille. Stefan hüstelte. Die Augen über Giselas Boxernase musterten mich groß. Crocs scharrten. Doreen stand auf und trat ans Fenster.
Wieder mal war es mir passiert.
Ich hörte Doreens monotone Stimme, diesmal sächselte es ganz gewaltig: "Das Betrachten: In Betrachtungen hat die Reinigung stattgefunden, bevor das Opfer dargebracht wurde; da ist ehrfurchtsvolle Aufrichtigkeit."
Neben mir hatte Stefan seinen Frosch im Hals eingekriegt: "Das Nachfolgen: Das Nachfolgen ist ein großer Erfolg. Es ist förderlich, wenn es stimmt; dann existiert kein Makel."
Langsam erhob ich mich, nickte benommen in die Runde und verließ den Raum. Erst im Fahrstuhl stellte ich fest, dass ich barfuß war (wenn ich nervös werde, trete ich mir manchmal die Schuhe von den Füßen). Die Worte meiner Mutter klopften durch meine Brust: "Bis du heiratest, ist alles wieder gut."
Nachbar Maliks farbgesprenkelter Küchentisch wackelte etwas, kauend schob er die Oberschale eines Handys unter eins der Tischbeine. Vor mir dampfte ein Teller mit einem körnigen Berg, der zwischen Weiß, Gelb und Braun changierte.
"Soße?"
Ich presste rote Würste Tomatenmark über den Berg.
"Du hast nicht zufällig Fußpflaster?" fragte ich, bevor meine Gabel im Haufen verschwand.