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Neumondmärchen

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12.05.2004
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Neumondmärchen

Weiden sind heimtückische Bäume. Ihr wisst es nicht, denn ihr seht sie immer nur friedlich am Wasser stehen, ihre langen dünnen Zweige der im Mondlicht silbrig glänzenden Oberfläche entgegenstreckend. Doch bei Neumond, bei Neumond verlassen sie ihren angestammten Platz, recken knarrend ihre verschlungenen Glieder und stapfen langsam aber unaufhaltsam auf die Häuser der Menschen zu. Ihr glaubt mir nicht, ich sehe es euch an. Aber fragt eure Kinder. Fragt sie, wie oft sie schon in einer mondlosen Nacht voll Schrecken aus dem Schlaf erwacht sind, weil lange dürre Finger vor ihre Fensterscheiben klopften, ganz leise und sacht zunächst, aber mit immer größerer Beharrlichkeit. Und fragt sie nach den Gesichtern aus Holz und Blättern, die sie durch das Glas angestarrt haben. So sind sie, die Weiden. Und sie beschränken sich nicht darauf, Kinder zu erschrecken. Sie haben weit schlimmeres im Sinn und lauern nur auf die richtige Gelegenheit.

Ich hätte es verhindert, wenn Anna oder ihr Mann Klaus auch nur einmal stehen geblieben wären, um mir zuzuhören. Ich hätte sie gewarnt. Oft genug habe ich es versucht. Aber sie waren taub, so wie ihr überhaupt alle immer taub seid für das, was ich euch zu sagen habe.

Wie habe ich mich für die beiden gefreut, als sie im letzten Sommer hier eingezogen sind. Sie waren so voller Kraft und Liebe und so jung. Tag für Tag erfüllte Annas Lachen den alten Garten, während sie Beete anlegte und Unkraut jätete, Fallobst sammelte und Wäsche zum Trocknen in die Sonne hing. Abend für Abend kehrte Klaus heim zu ihr und stürzte sich mit Feuereifer darauf, das baufällige Haus zu reparieren und sein Lachen mischte sich mit ihrem und mit dem Geräusch von Sägen, Hobeln und Hämmern.

Natürlich konnte ich nicht alles sehen, was die beiden miteinander taten. Es ging mich ja auch nicht wirklich etwas an. Doch dass ihre Liebe Früchte trug, konnte ich Annas Leib schon im Winter deutlich ansehen. Natürlich war ich nicht die einzige, die es sah. Auch die Weiden am Bach, ganz in der hintersten Ecke des Gartens, wussten Bescheid. Ich spürte geradezu, wie ihre Gier und Vorfreude wuchs, wann immer Anna ihnen beim Wäscheaufhängen oder Unkraut jäten nahe kam. Sie hätte es auch bemerken können, wenn sie dem Wispern der Weidenblätter mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Als Annas Leib immer runder wurde, kam sie seltener in den Garten. Dafür übernahm Klaus mit dem Einsetzen des Frühjahrs viele ihrer Arbeiten. Oft blieb er auch bei mir stehen und fast hoffte ich, er hätte mich verstanden, als er eines Morgens die Beete unter den Schlafzimmerfenstern umgrub und neu bepflanzte. Doch er pflanzte nur fleißige Lieschen, hübsch anzuschauen, aber dumm wie Bohnenstroh und als Schutz nun wirklich keinen Pfifferling wert.

So konnte ich mich nicht wirklich für die beiden freuen, als schließlich der kleine Mischa zur Welt kam. Es war Mai und die Tage waren schon wieder lang und warm. Voller Stolz trugen Anna und Klaus ihren Sohn im Garten herum, nicht ahnend, dass sie damit die böse Begierde der Weiden noch mehr anstacheln würden.

Nachts ließen sie, stellt euch nur vor wie töricht, das Kinderzimmerfenster halb geöffnet. Dabei weiß doch jeder, wie gut ein Säugling riecht, und dass der Geruch die anlockt, die Böses im Sinn haben. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die alten Weiden sich auf den Weg machen würden, um ihr böses Spiel zu treiben. Sie warteten bis zur nächsten Neumondnacht.

Ich konnte hören, wie sich ihre Wurzeln mit leisem Schmatzen aus dem Schlick am Bachufer lösten. Langsam, ganz langsam, setzten sie knarrend einen Wurzelfuß vor den anderen und bewegten sich so auf das Haus zu.

Ein Kauz ließ seinen Warnruf erschallen. „Wenn ein Kauz ruft, stirbt ein Mensch!“, sagen die Alten. Sie haben recht damit. Aber es ist nicht die Schuld des Kauzes, er will nur Gutes tun. Doch auf ihn hört ihr ja genauso wenig, wie auf mich.

Schon hatten die Weiden die Hauswand erreicht. Warum nur hörten Anna und Klaus das Klappern nicht, als ihre höchsten Äste an die Dachrinne schlugen? Warum sah keiner von ihnen die dürren, langen Schatten vor den Fenstern? Die erste Weide streckte ihre dünnen langen Zweige durch den Fensterspalt. Ihre Spießgesellinnen taten es ihr nach.

Jetzt wurde das Baby wach, doch sein Versuch zu schreien, als es das Böse auf sich zukommen sah, wurde sogleich durch Weidenblätter erstickt, die sich in seinen Mund schoben. Dünne, biegsame Weidenruten schlangen sich um seinen Hals. Es braucht so wenig, einen Säugling zu töten -- so ein kleiner, hilfloser Körper.

Niemand weiß, warum die Weiden das tun, warum es ihnen solche Befriedigung bereitet, junges unschuldiges Leben zu nehmen. Ebenso unbemerkt, wie sie gekommen waren, zogen sich die Bäume wieder ans Bachbett zurück.

Kurz darauf ging das Licht im Kinderzimmer an. Es war Zeit für Anna, Mischa zu stillen, der in dieser Nacht so besonders ruhig in seinem Bett zu schlummern schien. Erst als Anna näher trat, sah sie, dass er blau angelaufen war. Ihr verzweifelter Schrei weckte Klaus.

Später tauchten die flackernden blauen Lichter auf dem Polizei- und Notarztwagen den Garten in unheimliches Licht. „Dort!“, versuchte ich ihnen zuzurufen. „Seht ihr nicht, dass die Weiden an anderer Stelle wurzeln als zuvor? Schaut euch doch den aufgerissenen Boden an!“ Doch natürlich hörten sie mich nicht. Sie verluden den kleinen Leichnam in einem Plastiksarg. Dann führten sie Anna und Klaus ab. „Schrecklich, wie oft Eltern mit ihrem Neugeborenen überfordert sind“, sagt der Notarzt zu einem der Polizisten. „Das ist doch kein Grund, ein Kind zu töten. Dann holt man sich eben Hilfe“, antwortet dieser, sichtlich erschüttert.

Inzwischen ist der Garten verwildert. Klaus und Anna leben hier nicht mehr. Ich hätte ihnen geholfen, aber sie haben ja nicht auf mich gehört. Ich bin nur eine alte Eberesche, die am Ende des Gartens steht. Neben die Schlafzimmerfenster sollt ihr uns pflanzen! Nur da können wir euch beschützen.

 

Hallo MissyLaMotte!

Treiben da der alte Weidenmann und seine Gefährten wieder ihr Unwesen? Eine schön geschriebne Geschichte über einen alten Stoff.Leider können die Menschen ja wirklich micht mehr mit der Natur kommunizieren und wissen nicht mehr bescheid. Allerdings - die Kinder haben schon ihre Erfahrungen, wie du ja auch schreibst. Das könntest du vielleicht noch deutlicher herausstellen.

Ihr wisst es nicht, denn ihr seht sie immer nur friedlich im Wasser stehen,
Die Erwachsenen wissen es nicht mehr, denn sie haben ihre kindlichen Erfahrungen abgetan, verdrängt, vergessen.

Gruselig an deiner Geschichte finde ich, dass die Eheleute für ihre Unwissenheit auch noch mit Gefängnis bestraft werden. Sonst hätte ich die Geschichte eher in Fantasy vermutet.

Spätestens in der Mitte der Geschichte dürfte klar sein, dass die Erzählerin nicht eine alte kräuterkundige Nachbarin ist, sondern wohl ein Baum. Gut man fragt sich dann nur noch, was für ein Baum. Und da kommt der einzige Punkt, den ich ein wenig monieren möchte:

Ich bin nur eine alte knorrige Eberesche
Meinetwegen eine alte knorrige Esche, aber Ebereschen (Vogelbeerbäume) sind kleine schlanke Bäume. Vielleicht meisnt du ja auch die Esche, die in alten Zeit Kinder vor Zauberei schützte. Aber Ebereschen sind wohl wirksamer, denn sie schützen vor allem Unheil und wurden deshalb gerne angepflanzt.

Lieben Gruß

Jo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Jo,

danke für deinen Kommentar.

Ich kenne durchaus auch "knorrige" Ebereschen. Die Wuchsform ist tatsächlich eher schlank, zumindest in hiesigen Breiten. In rauherem Klima, z.B. im schottischen Hochland, sind Ebereschen so ziemlich die einzigen Bäume, die überhaupt eine Überlebenschance haben, und da sind sie nicht hoch und schlank wie hier, sondern ducken sich in Bachbetten und unter Felsvorsprünge. Aber ich gebe zu, dass sie in einem heimischen Garten wahrscheinlich anders aussehen.

Ich schmeiß das "knorrig" raus.

gruß,
Missy

 

Hi,

hatte ich doch mit meiner Vermutung, dass da schottisch/keltisches durchscheint, wohl nicht ganz Unrecht.

Lieben Gruß

Jo

 

Hallo Missy.

Seichter, gepflegter Horror. Hat mir gut gefallen.
Dein Stil ist fesselnd, und die Tatsache, dass Weiden sooo heimtückisch sind, hat mich doch echt erschrocken. Dabei mochte ich sie immer so ...

Und, verdammt noch mal, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum sagt die doofe Nachbarin denn nichts? :shy:
Naja, aber ich bin eh leicht aufs Glatteis zu führen.

Vielen Dank für die nette Unterhaltung!

Gruß! Salem

 

Ja, diese Geschichte hat mir prima gefallen, und ich spreche hier eher selten ein Lob aus. Alte, gruslige Mythen werden mit einer durchaus bedenkenswerten Aussage verbunden, daß der heutige Mensch die Fähigkeit verloren hat, mit der Natur zu kommunizieren.
Dein Stil zeichnet sich durch eine gelungene Synthese aus: Er ist einerseits märchenhaft, aber andererseits frisch und ganz und gar nicht antiquiert.
Vielleicht hast du ein-, zweimal zu oft erwähnt, daß die Weiden böse sind, das weiß der Leser schon, du verspielst damit auch ein bißchen Dramatik, weil sich so eh jeder denken kann, wie die Geschichte endet. Der Passus, daß die Eltern verhaftet werden, halte ich übrigens für eher plump, warum nicht der in der Medizin immer noch mysteriöse Plötzliche Kindstod?
Daß der Sprecher der Geschichte ebenfalls ein Baum ist, ist eine geniale Idee.

Weiter so, ich würde mich freuen, mehr von dir zu lesen! :)

 

@menedemos

warum nicht der in der Medizin immer noch mysteriöse Plötzliche Kindstod?

Klingt auf den ersten Blick besser, aber:
... wurde sogleich durch Weidenblätter erstickt, die sich in seinen Mund schoben. Dünne, biegsame Weidenruten schlangen sich um seinen Hals ...

Die Strangulierungs- und evt. Erstickungsmerkmale dürften für den Arzt eindeutig sein. Weiden sind eben keine zarten Gesellen.

Sie wollen die Menschen loswerden, besonders die nachwachsenden, weil die ja den Fortbestand der verhaßten Nachbarn sichern. Da braucht es schon brutale Methoden.

Lieben Gruß

Jo

 

Hi,

danke für eure Kommentare.

@Menedemos:

ja, ursprünglich wollte ich mit der Geschichte auch auf die Diagnose "plötzlicher Kindstod" hinaus, aber dann fiel mir beim Schreiben das auf, was auch Jobär schon schrieb: den Totenschein unterschreibt kein Mediziner, wenn da so blaurote Würgemale um den Hals laufen. Da erschien es mir schlüssiger, die Eltern mal vorsichtshalber mit auf die Wache zu nehmen ;)

@Salem: ich freue mich, dass ich dich bezüglich des Erzählers hinters Licht führen konnte, die meisten anderen Leser bisher sagten, sie hätten spätestens bei den fleißigen Lieschen bescheid gewusst :)

gruß,
Missy

 

Hi Missy!

Eine schöne Geschichte hast du da geschrieben.
Stilistisch flüssig.
Der Inhalt erschien mir anfangs etwas 0815, aber als dann das Ende kam, war ich sehr überrascht. Eine sehr tolle Pointe, die wunderbar nachwirkt.

Details:

Doch bei Neumond, bei Neumond verlassen
Unnötige Wiederholung.

was ich euch zu sagen habe
Die permanetne Ansprache des Lesers finde ich unnötig. Hier würde sich eine Verkürzung anbieten:
"was ich zu sagen habe"

Dafür übernahm Klaus mit dem Einsetzen des Frühjahrs
Wenn jetzt Frühjahr ist, dann wurde Anna wahrscheinlich im Winter schwanger. Oder im Herbst. Was machte sie dann im Garten?

Doch auf ihn hört ihr ja genauso wenig, wie auf mich.
Sehr gut.

In diesem Sinne
c

 

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