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Never trust a man (with egg on his face)
Kevin schlich durch den Park, von Gebüsch zu Gebüsch.
Oh Mann, hoffentlich sah ihn niemand. Wie sollte er erklären, weswegen er mit einer Sporttasche voller Militärklamotten und Kanonen durch den Stadtpark schlich? Keine Chance, dafür fand er keine Ausrede. Dann würde das Gebolze am Ende schon früher losgehen, als er es geplant hatte.
Weswegen hatte er auch so viel Zeug in die Tasche gepackt? Jetzt musste er das Ding mit zwei Händen schleppen und machte sich damit vor allen Leuten zum Depp.
Aber nicht mehr lange, Kameraden. Nicht mehr lange! Dann würden alle, die ihn jetzt für einen Deppen hielten, ganz anders über ihn denken. Einige von ihnen würden sich in die Hose scheißen, wenn er mit ihnen abrechnete. Jawohl! Andere würden nicht einmal die Zeit haben, ihre Hosen vollzuscheißen, bevor er sie abknipste.
Und er würde mit allen abrechnen, die auf ihm herumgehackt hatten. Mit allen.
Na ja, mit den meisten - schließlich schleppte er nicht unbegrenzt viel Munition mit sich herum.
Jetzt musste er sich aber erstmal umziehen. Raus aus Jeans und Turnschuhen, rein in das Militärzeug. Eigentlich hatte er Tarnklamotten besorgen wollen, doch er hatte nur diesen Security-Mist in Schwarz auftreiben können. Scheiß Räumungsverkauf im Second-Hand-Laden. Aber Hauptsache, der Schnitt der Fummel stimmte.
Ursprünglich hatte er mit dem Gedanken gespielt, einen Trenchcoat zu tragen. Als er im Garten seiner Ollen geprobt hatte, war er aber beim Anschleichen auf den Saum getreten. Mitten im Rübenbeet hatte er sich auf die Zwölf gelegt. Nein, das durfte ihm im Einsatz nicht passieren! Also hatte er auf den Trenchcoat verzichtet.
Egal!
Ein Blick auf die Uhr. Er musste fertig werden! Die dritte Stunde hatte gerade begonnen. Er hatte nur 45 Minuten, um sein Ding durchzuziehen, dann kam der letzte Pausengong in diesem Schuljahr und alle gingen nach Hause.
Also los, Beeilung!
Die Klamotten saßen. Nun kamen die Kanonen an die Reihe. Zuerst die Pistole. Eine Walther P38. Magazin überprüfen und durchladen. Klick-klack. Ja, dieses Geräusch machte ihn total an. Das brachte seinen Saft so richtig in Wallung und kurbelte seine Phantasie an.
"Wartet nur ab, ihr Schweine! Gleich bin ich so weit. Dann könnt ihr was erleben!"
Ups. Hatte er das eben laut gesagt? Au weia, da musste er sich beherrschen. Am Ende hörte ihn noch jemand.
So, jetzt Opas alte Schrotflinte. Kevin hatte sie abgesägt, damit sie in die Tasche passte. Ziemlicher Aufwand, dieses Ding zu laden. Taugte bestenfalls zum Tontaubenschießen. Zwei Schüsse, dann musste er nachladen. Die zusätzlichen Schrotpatronen pusteten seine Jackentaschen auf wie die Backen eines Blasmusikanten. Aber egal, die Flinte würde er ohnehin nur einsetzen, um zu schocken - sozusagen als Showelement. Oder wenn er mal nach Gehör schießen musste.
"Keine Sau lacht mich aus! Ich mach euch alle kalt!"
Hoppla, schon wieder laut gedacht. Er musste sich wirklich zusammenreißen, sonst flog er auf.
"Wartet nur ab, gleich bin ich soweit. Dann lege ich euch alle um."
Moment mal!
Er hatte nicht laut gedacht. Nein, da zeterte jemand anderes vor sich hin, ein Gebüsch weiter. Was sollte das denn?
"Ich leg euch dermaßen um, da hilft euch auch euer Gejammer nicht mehr!"
Was quatschte der da? Tickte der nicht mehr richtig? Da musste er doch mal nachschauen - aber vorsichtig. Am Ende hatte er es mit einem Bekloppten zu tun ... das konnte er ja nun gar nicht brauchen.
"Ihr Scheißtypen, ich mach euch alle platt." Ritsch-ratsch ... Ratsch ... "Mist, blöde Kanone!" ... Ratsch.
Ach herrjeh, eine Waffe hatte der auch noch. Also, schön leise um das Gebüsch schleichen und die Lage peilen.
Aha, da stand der Typ. Tarnhosen, Trenchcoat, Sturmhaube und Armeestiefel - und eine Pistole in der Hand. SIG-Sauer P226. Um Himmels Willen, was hatte der Typ vor? Wollte der am Ende Amok laufen, oder was? Das ging ja nun gar nicht! Da musste er sofort eingreifen.
Kevin sagte: "Was wird denn das, wenn's fertig ist?"
Der Typ schreckte auf, sagte "Huch!", schoss sich in den Fuß, warf die Pistole in den Dreck und kippte um. Im Fallen sagte der Typ noch etwas, doch das verstand Kevin nicht. Seine Ohren klingelten noch vom Abschussknall der P226.
Bevor sich der Typ vom ersten Schreck erholte, kickte Kevin die Pistole beiseite. Dann baute er sich vor dem Typen auf und fuhr ihn an.
"Bist du bescheuert, oder was? Wieso ballerst du dir ein Loch in die Quanten?"
"Bin halt erschrocken."
"Ja toll. Und jetzt weiß die halbe Stadt Bescheid."
Der Typ beäugte das Loch in seinem Stiefel.
"Kann man durchgucken."
"War zu erwarten, oder? Hast schließlich mit einer SIG drauf geknallt. Was hattest du mit dem Ding eigentlich vor?"
"Mann, du kannst fragen! Wonach sieht das denn aus? Nach einem Amoklauf natürlich. Aber das wisst ihr doch schon. Wie habt ihr das überhaupt rausgekriegt?"
Jetzt kapierte Kevin gar nichts mehr.
"Wie jetzt? Was hat wer rausgekriegt? Ich raff das jetzt echt nicht."
Ah, verdammt - jetzt hatte er den bösen Satz schon wieder gesagt. In jeder zweiten Mathestunde war ihm das rausgerutscht: "Raff ich nicht!" Sie hatten ihn schon "Raffael" gerufen. Aber dafür würden die alle bezahlen. Bald war es soweit!
"Wie meinst du das, du raffst das nicht?" Der Typ holte ihn aus seinen Gedanken. "Du bist doch von der Spezialeinheit, oder?"
Oh Mann, jetzt raffte er es!
"Äh, nee, bin ich nicht. Aber bei deinem Geballer dürften die bald hier sein. Wer bist du denn überhaupt?"
Der Typ zog seine Sturmhaube ab.
"Ich bin der Rico. Und wenn du nicht von der Spezialeinheit bist, wer bist du dann?"
"Ich bin der Kevin." Er zog ebenfalls seine Sturmhaube runter. "Mann, Alter, du bist doch in der R10, beim Strothmann, oder?"
"Nee, beim Hüpf."
"Der Hüpf? Das ist doch der Mathe-Freak, der mal versucht hat, seinen Benz auf Glatteis mit dem Fuß zu bremsen, oder?"
"Nee, das war der Hollerbach, glaub ich. Der Hüpf hatte sich bei Glatteis mit 'ner Schüssel heißem Wasser auf die Fresse gelegt, als er die Scheiben von seinem Benz enteisen wollte. Und anschließend hat er das Auto zu Schrott gefahren."
"Ja, eben. Weil er die Tür aufgemacht hat, um mit dem Fuß zu bremsen. Der schöne Benz. Eine verdammte Schande ist das. Dafür sollte man ihn umlegen. Der Hollerbach fährt, glaube ich, einen Lada."
Rico guckte noch einmal durch das Loch und tat dabei so, als würde er zielen.
"Peng. Echt schade, dass ich mir in die Quanten geschossen habe. Was meinste, wir hätten vielleicht gemeinsam was anfangen können. Na ja, da steckt man nicht drin. Ich war halt echt total erschrocken."
"Tja, dann mache ich mich mal an die Arbeit." Er klopfte auf seine Uhr. "Nicht, dass wir hier schnacken, bis die Ferien anfa ... hey, was is'n das?"
Kevins Blick war in Ricos Sporttasche gefallen.
"Ach du Scheiße, was soll das denn sein? Ein Granatwerfer, oder was?"
Kevin zottelte einen Revolver aus der Tasche hervor, dessen Größe ohne Probleme mit einem Industriegebläse konkurrieren konnte. Oder mit einer Multifunktions-Küchenmaschine.
"Ach die." Rico winkte ab. "Das ist meine Kanone für den großen Abgang. Weißt schon, um mir das Licht auszupusten, wenn sie mich umstellt haben. Das hätte 'ne Riesenshow gegeben. Wumm!"
"Absolut fettes Teil." Kevin drehte den Revolver hin und her, beäugte ihn von allen Seiten.
"Ja, das ist ein Riesending. Eine Casull, Kaliber .454. Die Patronen sind so dick wie mein Pimmel. Da gehen nur fünf Stück von in die Trommel. Mit dem Ding kannste einen Brontosaurier pürieren." Er peilte durch das Loch in seinem Fuß. "Oh Mann, zum Glück hab ich mir damit nicht in die Schlappen geschossen. Die wären sonst ab, ich schwör's."
Kevin glotzte die Kanone noch immer an.
"Willste das Ding haben?"
"Hä?"
"Nimm ruhig mit. Die SIG da drüben kannste auch nehmen. Wenn die Spezialeinheit anrückt, dann sag ich denen einfach, ich hätte dich überrascht und du hättest mir ein Ding verpasst."
Nun glotzte Kevin sein Gegenüber an. Sein Mund klappte auf und wieder zu. Dann wieder auf - und dann kamen Wörter raus: "Wie jetzt ... die beiden Kanonen? Echt? Wow, danke, Mann! Dann kann ich den blöden Schrotschießer drüben im Gebüsch verschwinden lassen. Haste auch noch Munition?"
"Ja, in der Tasche. Aber nur ..."
"Ah, ich seh schon: Nur für die Automatik. Schade. Aber die Muni für die Monsterknarre kostet bestimmt wie Sau."
"Nee, ich hab ..."
"Schon okay, ich auch nicht. Tja denn, ich muss los. Man sieht sich."
Netter Kerl, dieser Rico. Klar, der hatte schon ziemlich einen an der Klatsche, aber sonst ganz okay.
Hm, vielleicht sollte er doch nicht auf Schüler ballern, sondern verstärkt auf die Pauker zielen. Insbesondere den Hüpf würde er sich vorknöpfen.
Zuerst einmal musste er aber zur Schule rüber. Raus aus dem Park, dann über die Straße. Niemand in der Nähe. Sehr gut!
Das kurze Stück über den kleinen Pausenhof legte er im Sprint zurück und hielt dabei seinen Kopf unten. Mit einem Trenchcoat hätte er sich hier schon auf die Schnauze gelegt! Jetzt aber erstmal in die Hocke und die Lage peilen. Er musste nur noch zwischen Wand und Gebüsch entlang bis zum Notausgang. Da konnte er rein, denn die Tür stand immer offen, damit die Lehrer in den Freistunden qualmen ...
Er überholte sich selbst.
Während er dort hockte, kam er an sich selbst vorbei, schlich noch ein Stück weiter und hockte sich hin.
Anfangs kapierte er nicht genau, was er da sah. Auf den zweiten Blick verstand er es immer noch nicht, doch es interessierte ihn schon, was er da vor sich machte.
Und während er sich selbst angaffte, überholte er sich noch einmal. Und noch einmal. Und ... noch einmal.
Insgesamt fünf Kevins, alle in schwarzen Uniformen mit Sturmhaube und Knarre in der Hand. Er überlegte, was das nun wohl für ein Amoklauf werden würde - und ob er vorgestern nicht besser die Finger von der Flasche Küstennebel hätte lassen sollen.
Während er darüber nachdachte, was er nun machen sollte, drehte sich der Kevin vor ihm zu ihm um.
"Pssst!"
"Hä?"
"Los, weiter. Wir geben dir Deckung."
Wow, die wollten ihm auch noch helfen. Egal, woher diese Kasper auch stammten - das musste er ausnutzen. Doch als er sich selbst überholen wollte, hielt er sich am Arm fest.
"Moment ... was ist das denn?"
"Hä?"
Der Kevin glotzte seine Kanone an.
"Na, das da. Bist du blöd, hier mit so einem Schiffsgeschütz anzutanzen?"
"Äh ..."
Der andere Kevin quäkte in ein Funkgerät. Bei den drei weiteren Kevins quäkte seine Stimme aus den Empfängern.
"Klosterbruder 4 an alle: Was hat Klosterbruder 3 denn da für eine Kanone?"
Die restlichen Kevins - offenbar die Klosterbrüder - schauten sich um.
"Äh ... ich bin die Nummer 3", sagte einer der Burschen.
"'tschuldigung, ich meinte Nummer 2", sagte Nummer 4. Nummer 2 hob daraufhin seine Pistole.
"Also, ich habe die hier."
"Ruhe jetzt!"
Aha, das musste Nummer 1 sein.
"Was soll der Quatsch? Mal sehen ..."
Nummer 1 zählte ab.
"Verdammt, da ist doch einer zu viel!"
Kevin hatte allmählich die Nase voll. Er zog die Sturmhaube ab, damit sein Gehirn nicht überhitzte.
"Kann mir mal einer erklären, warum ich gleich fünfmal hier herumlaufe?"
Nummer 1 watschelte ein Stück auf ihn zu, ohne sich aus der Hocke zu erheben.
"Wir sind von der Spezialeinheit, du Pausenclown. Ich wusste doch gleich, dass mit dir etwas nicht stimmt. Du bist viel zu dick für unsere Truppe."
Kevin hob die Casull.
"Vorsicht, Alter."
Nummer 3 watschelte heran.
''Oh Mann, ist das etwa eine Casull? Kaliber .454? Nummer 1, das ist der absolute Hammer! Patronen wie Fabrikschornsteine. Da passen nur fünf Stück von in die Trommel. Damit kann man einen Wolkenkratzer durchschlagen - und zwar von oben nach unten!"
"Aha. Und was macht ein Kasper wie du mit einem Kampfanzug und dieser Flak hier vor der Schule? Wolltest du dich etwa in meine Truppe einschleichen?"
"Äh, nein. Ich war eigentlich nur ..."
"Bist du etwa einer von ... Ihnen?"
Alle Klosterbrüder zuckten bei diesem Ausspruch zusammen und richteten ihre Pistolen auf ihn.
"Äh ... nein", stammelte er. "Ich heiße Kevin."
"Schlechter Versuch, Kleiner. Um meine Truppe zu infiltrieren, hättest du statt dieser Elefantenflinte eine SIG-Sauer mitbringen müssen. Das sind nämlich unsere Dienstwaffen."
"Ach so", sagte Kevin und zog mit seiner linken Hand die P226 aus dem Hosenbund. "So eine hab ich auch. Ich will aber kein Mönch sein."
"Mönch?", fragte Nummer 1.
"Der meint Klosterbruder", sagte Nummer 4.
"Himmel, was für ein Depp!", sagte Nummer 2.
"Der wird bestimmt immer von allen niedergemacht", sagte Nummer 3.
"Wenn ich der wäre, dann würde ich vor lauter Blödheit Amok laufen."
Schweigen.
Sekundenlang.
Dann sagte Nummer 1: "Aha!"
Wieder Schweigen.
"Und jetzt?", fragte schließlich Nummer 3.
"Keine Ahnung", meinte Kevin. "Wir können ja weitermachen mit ... äh ... was immer ihr Jungs gerade vorhattet. Oder ihr macht euer Ding, und ich zieh meins durch. Ganz wie ihr wollt."
Nummer 1 erhob sich. "Ich schlage vor, wir brechen den Einsatz erstmal ab, gehen zum Hauptquartier und fragen den Oberst, was wir jetzt machen sollen. Und du Knalltüte lässt die Waffen fallen und nimmst die Pfoten hoch."
"Ach, Scheiße."
Während sie im Gänsemarsch zum Hauptquartier schlurften, fluchte Kevin still vor sich hin. Hätte er die Casull nicht in den Hosenbund stecken können?
"Da haben Sie sich ein schönes Schlamassel eingebrockt, junger Mann!"
Oberst von Gaggenau legte die Casull auf den Tisch, genau vor Kevins Nase. Er hätte die Kanone nur greifen müssen. Stattdessen konnte er nur auf das Namensschild des Oberst stieren.
"Was hatten Sie denn mit dieser Haubitze vor? Wollten Sie den Dritten Weltkrieg anzetteln? Würde mich nicht wundern, wenn Sie den mit dieser Massenvernichtungswaffe auch noch gewonnen hätten."
Kevin wunderte sich, weswegen der Oberst sich derartig aufregte. Seine Gesichtsfarbe brachte es auf eine glatte 7 auf der zehnstufigen Herzinfarktskala.
"Aber nein, Sie wollten etwas ganz anderes, nicht wahr? Sie wollten Amok laufen. Auf Unschuldige schießen. Sie erbärmlicher Feigling!"
Verdammt, weswegen machten ihn eigentlich alle nieder? Das raffte er irgendwie nicht. Irgendwann musste ihm doch mal der Kragen platzen, war doch klar, oder? Allein wie sie jetzt wieder mit ihm umgesprungen waren. Diese Schlägertypen von der Spezialeinheit hatten ihn in dieses Militärzelt geschleppt, das ihn hier, mitten auf dem Schulhof, ziemlich merkwürdig angeschaut hatte. Nummer 1 hatte ihn auf diesen Stuhl geschubst, dem Oberst einige Worte geflüstert und dem Adjutanten des Oberst - einem Hauptmann Gelbke - die beiden Waffen in die Hand gedrückt. Seitdem machte ihn der Oberst zur Schnecke, während der Gelbke vor sich hin grinste und versuchte, nach Soldat auszusehen. Gelang dem Burschen nicht recht.
"Und nun?", donnerte der Oberst gerade. "Was soll ich jetzt mit Ihnen machen, Sie Träne? Wir stecken hier mitten in einem Kommandounternehmen. Und außerdem ... was gaffen Sie mich eigentlich so blöde an?"
Kevin fiel - wie immer - keine Ausrede ein. Also sagte er einfach die Wahrheit: "Ach, gar nichts. Ich frage mich nur die ganze Zeit über, wie die Ihren bescheuerten Namen auf das Namensschild gekriegt haben."
Der Oberst stierte einen Moment vor sich hin. Dann wechselte seine Gesichtsfarbe vom Herzinfarktmodus in den Gott-des-Donners-Modus. Kevin überlegte, ob er vielleicht schon einmal unter dem Tisch in Deckung gehen sollte.
Doch bevor der Oberst sich auf ihn stürzen konnte, donnerte es tatsächlich. Draußen. Zweimal.
Kevin stutzte. Das war doch seine Schrotflinte gewesen!
Und da - das Geknalle danach, da war auch seine P38 dabei. Er hatte ja wenig Ahnung, doch zwei Dinge erkannte er sofort: TV-Werbespots an ihren Erkennungsmelodien und Waffen an ihrem Abschussknall.
Hauptmann Gelbke schien sich da auch ein wenig auszukennen, denn er warf sich zu Boden. Der Oberst warf seinem Adjutanten einen Blick zu, den man bestenfalls als Mordversuch werten konnte. Dann marschierte er zum Zelteingang und spähte nach draußen. Kurz darauf hörte die Schießerei auf.
"Das kommt aus dem Park. Gelbke, rufen Sie die Spezialeinheit und fragen Sie nach, was da los ist ."
Gelbke murmelte ein "Jawohl" in die Grasnabe und robbte zum Funkgerät in der Ecke.
"Klosterbruder 1, hier Musikantenstadl, kommen!"
Aus dem Hörer des Funkgeräts quäkte eine Stimme. Sie quäkte und quäkte, während Gelbke zuhörte. Dann, endlich, sagte er: "Verstanden. Ende."
"Also, was ist?" Die Ungeduld stand dem Oberst ins Gesicht geschrieben - neben dieser Gott-des-Donners-Infarkt-Geschichte.
"Herr Oberst, wir haben die Spezialeinheit verloren", fing Gelbke an.
"Was?" Der Oberst explodierte und schaltete seine Gesichtsfarbe wieder um auf Herzinfarkt.
"Wie Nummer 1 gerade berichtete, rückte die Einheit durch den Park vor, als ein Mitglied der Einheit durch nicht vorschriftsmäßige Kleidung auffiel. Wie sich herausstellte, hatte ein Unbekannter die Einheit infiltriert. Als er angesprochen wurde, eröffnete er das Feuer aus einer Schrotflinte und einer Pistole. Beim Versuch, das Feuer zu erwidern, schossen sich unsere Männer gegenseitig nieder, weil jeder wegen der Sturmhauben dachte, der Andere sei der Feind. Nur Nummer 1 ist noch übrig, aber der hat keine Munition mehr. Der Täter konnte unerkannt entkommen."
"Verdammt!" Der Oberst drosch seine Faust auf den Tisch. "Das war sicher einer von ... Ihnen. Und ich dachte, wir hätten es nur mit dem einen da oben zu tun."
Gelbke zuckte mit den Schultern. "Nummer 1 konnte den Mann nicht identifizieren. Wir wissen nur, dass er Militärkleidung trägt und hinkt."
Kevin lachte sich in's Fäustchen. Dieser Rico war ein echter Teufelskerl. Hatte er es doch noch geschafft, auf seine Kosten zu kommen. Aber eines raffte er immer noch nicht.
"Sagen Sie mal, wer sind denn eigentlich ... Die? Also, diese Leute, von denen Ihr dauernd redet? Und wieso ist statt der Polizei das Militär hier? Und dann auch noch mit einer Spezialeinheit? Das raff ich alles irgendwie nicht.”
Der Oberst sinnierte einen Augenblick. Dann ließ er die Schultern nach unten sacken.
“Na gut, was soll's.”
Gelbke sprang von Boden auf. “Herr Oberst, nicht! Denken Sie an die nationale Sicherheit!”
“Halten Sie die Klappe, Gelbke. Es ist ohnehin alles zu spät. Und abgesehen davon: Hier geht es um die internationale Sicherheit. Aber für so etwas hat Ihr Horizont ja noch nie ausgereicht.”
Kevin schaute auf die Uhr. Tatsächlich. Zu spät. Die Ferien hatten schon angefangen. Damit waren seine Pläne endgültig den Bach runter – zumindest für dieses Jahr. Komischerweise regte sich draußen aber nichts. Dabei hätten doch einige hundert Schüler gerade aus dem Gebäude stürmen und einen Höllenlärm veranstalten müssen.
Der Oberst wandte sich wieder an ihn.
“Passen Sie auf, sie Pfeife: Seit gestern früh um elfhundert hält ein Mitglied des Lehrkörpers eine ganze Schulklasse als Geisel. Er hat sich in einem Klassenraum verschanzt. Die örtlichen Behörden versuchten zu verhandeln, doch als sie erkannten, womit sie es zu tun hatten, schalteten sie uns ein und zogen sich zurück.
Wie wir inzwischen wissen, handelt es sich nicht um eine einfache Entführung, sondern vielmehr um eine Verschwörung auf höchster Ebene, an der noch weitere subversive Elemente beteiligt sind. Da wir nicht wissen, womit wir es genau zu tun haben, konnten wir ... Ihnen noch keinen Namen geben. Deswegen sagen wir einfach ... Sie zu ihnen.
Die ganze Nacht über haben wir versucht, die Sache mit Diplomatie beizulegen. Das heißt, wir haben abgewartet und nicht geschossen. Gerade eben hat dann der Bundeskanzler, nach Absprache mit dem amerikanischen Präsidenten, das Go für den Einsatz der Spezialeinheit gegeben. Was soll ich sagen? Den Rest kennen Sie ja.”
Kevin überlegte. “Hier geht's also nur um einen durchgeknallten Pauker, der ein paar Schüler als Geisel genommen hat? Mann, so viel Schneid hätte ich keinem dieser Idioten zugetraut. Wer ist der Kerl?”
Gelbke wühlte neben dem Funkgerät in einigen Unterlagen. “Er heißt ... er heißt ... moment, ich hab's gleich.”
“Ist doch unwichtig”, polterte der Oberst und deutete zum Zelteingang hinaus. “Er fährt diesen Benz da drüben.”
Kevin spähte nach draußen.
Da drüben, auf dem Parkplatz: Ein grüner Benz mit zerdeppertem Kotflügel. Konnte das wirklich wahr sein?
“Der Hüpf? Ich fass' es nicht! Der bescheuerte Hüpf? Den wollte ich zuallererst kaltmachen! Äh ...”
Ups, da war ihm aber was rausgerutscht!
Die Blicke der beiden Soldaten schwangen herum wie Radargeräte und hefteten sich auf ihn. Dann schauten sich die beiden Männer kurz gegenseitig an. Dann wieder zu ihm – und dann schlich sich ein kleines Grinsen in das Gesicht des Oberst. Außerdem schaltete er seine Gesichtsfarbe noch ein Stück zurück, von Herzinfarkt auf Hirnschlag.
“Hören Sie zu, mein Sohn. Ich habe eine Idee. Ich bin zwar nicht in der Position, Ihnen einen Deal anzubieten, aber ich schlage Ihnen ein Geschäft vor.” Er setzte sich an den Tisch und senkte seine Stimme. “Ich nehme an, Sie wollten so richtig aufräumen. Alle abknallen, die Ihnen vor die Flinte kommen, nicht wahr?”
“Äh, nein. Eigentlich nicht. Ich hatte da schon eine kleine Liste vorbereitet ...”
“Unwichtig! Hören Sie zu: Wie wäre es, wenn Sie ihr Eisenbahngeschütz hier nehmen, nach oben gehen und sich den Geiselnehmer vorknöpfen. Lassen Sie die Schüler in Ruhe und kommen Sie einfach wieder hierher zurück, dann vergessen wir die ganze Sache. Was meinen Sie?”
Kevin überlegte. “Also, ich kann den Hüpf zusammenschießen. Ich meine ... so richtig über den Haufen knallen – und dann einfach wieder nach Hause spazieren? Ohne Scheiß?”
“Das ist mein Plan.”
“Das ist ja echt der Hammer! Alles klar, ich bin dabei. Mann, und ich dachte schon, ich hätte alles verpasst.”
Der Oberst hob den Finger. “Und Sie bleiben am Leben. Aber Vorsicht, wir wissen nicht genau, womit Sie es da oben zu tun bekommen.”
“Ist mir doch völlig schnuppe. Ich hab schließlich diese Riesenwumme hier.”
“Ist das eine .454 Casull?”, fragte Gelbke aus dem Hintergrund. Kevin nickte.
“Das ist absoluter Irrsinn, Herr Oberst. Patronen wie Baumstämme. Davon passen nur fünf Stück in die Trommel. Mit dieser Höllenposaune könnte sogar der Gandhi zum Jüngsten Gericht blasen!”
“Nun gut. An Feuerkraft mangelt es nicht. Also dann, gehen Sie da rein, mein Junge, laufen Sie rauf zu Klassenraum Nummer 42 und zeigen Sie diesem Mistkerl, woraus ein Soldat ... äh ... ich meine ... äääh, Bartel seinen Most gezogen hat. Vorwärts, Marsch!”
Unglaublich! Der Tag war gerettet. Kevin hätte jubeln können, während er die Treppen hinauf stieg. Und das Beste: Im nächsten Jahr konnte er sich mit Rico verabreden und sie konnten gemeinsam nochmal so richtig die Raketen steigen lassen.
Ah, da: Klassenraum 42. Nun konnte der Tanz beginnen. Zuerst einmal an der Tür horchen ... hm, alles ruhig. Hoffentlich hatte er sich nicht in der Tür vertan.
Okay, nun musste er ganz vorsichtig vorgehen. Irgendwo da drin lauerte der Hüpf. Der machte irgendwas mit Leichtathletik. Sah zwar aus wie ein Klappergestell, konnte aber rennen wie ein Panther.
Da gab es nur eins: Überraschung!
Kevin trat bis zur gegenüber liegenden Wand zurück, nahm Anlauf und pflanzte einen Tritt mit seinem Armeestiefel genau unter die Türklinke.
Bomm!
Ein Riesenknall. Sonsts aber nichts. Die Tür rührte sich kein Stück. So ein Mist!
Okay, blieb also noch der herkömmliche Weg. Tür aufmachen, rein und erstmal umschauen.
Huch, was fand hier denn statt?
Da saßen die Schüler an ihren Tischen. Sie scheinen irgendwie weggetreten. Ob das wohl an diesen Helmen lag, die sie auf den Köpfen trugen? Oder waren das Kochtöpfe? Kevin konnte es nicht genau erkennen. Dieser grüne Nebel, der über den Kindern herumwaberte, nahm ihm die Sicht. In jedem Fall schauten Kabel aus diesen Helmen heraus und verbanden die Kopfbedeckungen untereinander – so, als seien die Kinder miteinander vernetzt.
Und da drüben, am Fenster, hantierte der Hüpf an einem umgedrehten Regenschirm herum, den er auf ein Stativ montiert hatte. Oh, halt ... kein Regenschirm, sondern eine Art Satellitenschüssel.
Und überall dieser grüne Nebel. Nein – vielmehr ein grünes Schimmern.
Und diese Kiddies – das war die 6b. Er erkannte diesen kleinen Arsch Manuel, der ihm den Spitznamen “Raffael” angehängt hatte. Nun saß klein Manuel da und sabberte vor sich hin, die Augen zur Decke verdreht. Alle sabberten vor sich hin.
Was sollte dieser Scheiß?
Zeit, damit Schluss zu machen!
“Okay, Hüpf, das war's. Umdrehen und Hände hoch. Kannst sie auch unten lassen. Oder sonstwas machen. Du bist nämlich tot, du Arsch!”
Der Mann drehte sich um.
“Wer bist du?” Seine Stimme klang, als habe er mit Kerosin gegurgelt.
“Äh ... Herr Hollerbach, Sie? Was machen Sie denn hier? Ich dachte, der Hüpf hätte ...”
“Hier hüpft niemand!”
“Ääääh, ich meine ihren Kollegen, der ... oh Mann, dann waren Sie das doch mit dem Benz. Und ich hätte schwören können ...”
“Ihr werdet alle sterben!”
“Hä? Ach so, ja: Sagen Sie mal, was soll das hier für eine blöde Scheiße sein? Was machen Sie da mit der Satellitenschüssel? Und wieso sabbern die alle vor sich hin?”
Hollerbach trat einen Schritt von der Antenne zurück.
“Das”, verkündete er stolz, “ist mein Peilsender für unsere Flotte. Sie sind schon unterwegs.”
“Hä? Was für eine Flotte. Hey, Herr Hollerbach, was labern Sie da für einen Blödsinn? Haben Sie irgendwas eingeschmissen, oder was?”
“Nenn' mich nicht Hollerbach.”
Himmel, reflektierten seine Augen dieses Schimmern – oder leuchteten die wirklich grün? Da konnte man ja Schiss bekommen.
“Na ja, aber Sie sind doch der Herr ... äh ... na gut. Wenn Sie nicht der Hollerbach sind, wer sind Sie dann?”
Nun warf sich der Typ so richtig in die Brust. “Ich komme nicht von dieser Welt. Ich bin das Vorauskommando einer Rasse aus dem Weltraum und habe das Gehirn dieses Menschen gefressen, um seinen Körper zu übernehmen. Nun rufe ich unsere Invasionsflotte herbei. Die Energie für meinen Sender” - er zeigte auf die Satellitenschüssel - “beziehe ich übrigens aus den Gehirnen dieser kleinen Erdlinge.
Sobald meine Kameraden hier eingetroffen sind, werden wir die Gehirne aller Menschen fressen und über den Planeten herrschen.”
“So ähnlich wie in 'Star Wars', gell?”
“Nein, eher wie in 'Independence Day'.”
“Oh. Ach so.”
Draußen senkte sich Dunkelheit über das Land. Hollerbach – oder das, was einmal Hollerbach gewesen war – schaute aus dem Fenster und verdrehte seinen Kopf, um nach oben blicken zu können. Nach und nach erschienen grüne Lichtsäulen, die von den Wolken bis zum Boden reichten. Viele Lichtsäulen, die aussahen wie die Laserstrahlen in der örtlichen Disco.
“Da, da kommen meine Freunde!” Der ehemalige Hollerbach schien sich prächtig zu amüsieren.
Zeit, diesem Schwachsinn ein Ende zu bereiten!
“Na gut, Herr Außerirdischer. Das genügt dann jetzt. Ihre Spezialeffekte können Sie sich in ihren galaktischen Arsch pressen. Und jetzt sprechen Sie ihre Gebete, jetzt ist nämlich Feierabend!”
Kevin hob die Casull und spannte den Hahn.
“Du armseliger Wurm”, geiferte Hollerbach. “Auf dem Sirius beten ...”
Bumm!
Die Casull ging los wie der Furz eines klingonischen Kriegsgottes. Sie schickte Hollerbach zu Boden und stampfte Kevins Arm bis zum Handgelenk in die Schulter. Zumindest fühlte es sich so an.
Schade. Dabei hätte er so gerne noch gehört, was dieser komische Marsmensch über das Beten sagen wollte. Die Kanone war ihm schlichtweg zu früh losgegangen.
Na gut, nun musste er nur noch sehen, wie er diese Satellitenschüssel außer Betrieb nehmen konnte. Am Ende war da draußen wirklich irgendwas. Diese Geschichte mit den Laserstrahlen sah schon ziemlich echt aus. Außerdem drangen nun auf einmal Schreie durch das Fenster herein. Unten auf der Straße ging irgendwas ab. Etwas Unheimliches.
Als sei das noch nicht der Aufregung genug, erhob sich plötzlich der Hollerbach wieder vom Boden. Durch das Loch in seinem Bauch konnte man durchgucken – genau wie durch Ricos Stiefel.
“Du kleiner Wicht. Dachtest du, du könntest mich mit deiner rückständigen Waffe aufhalten?”
Oh Mann, das konnte nun wirklich nicht sein! Der Typ musste doch sowas von tot sein. Aber nein, da stand er. Und nun leuchteten seine Augen wirklich – da gab es keinen Zweifel mehr. Und seine Zähne hatten sich auch verändert. Hilfe, das sah total fies aus! Und nun kam er auch noch langsam angetappt, die Hände nach Kevin ausgestreckt.
“Du kannst mir nicht entkommen. Niemand kann entkommen!”
Kevin wich zurück.
Verdammt, was sollte er jetzt tun? Abhauen? Keine Chance – draußen auf der Straße veranstalteten Hollerbachs Kumpels schon ein Gehirnbüffet.
Was blieb sonst noch?
Diesem Weltraumzombie noch ein Ding verpassen?
Nein, Blödsinn. Wenn er jetzt noch stand, dann stand er auch noch nach fünf Treffern. Also gab es nur noch einen Ausweg: Kevin richtete die Mündung der Casull auf seine Stirn.
“So, du Blödmann. Das hatte ich sowieso vor. Ich drücke jetzt ab und knalle mir das Gehirn zum Flurfenster raus. Du kannst dann ablecken, was am Fensterrahmen hängen bleibt. Aber mein ganzes Gehirn kriegst du nicht!”
Das Hollerbach-Ding reagierte nicht, sondern näherte sich weiter. Oh, seine Fingernägel schienen auch zu wachsen. Igitt, wie übel!
Also dann, Feuer frei. Das war's dann. Leb wohl, du schöne Welt. Genau so hatte er es sich vorgestellt – sich mit einem Riesenknall zu verabschieden.
Obwohl ...
Ach, drauf geschissen! Feuer!
Er krümmte seinen Zeigefinger ...
Klick.
Mehr kam nicht.
“Hä?”
Nochmal.
Klick.
“Äh ...”
Scheiße. Jetzt fiel es ihm wieder ein.
'Das ist meine Kanone für den großen Abgang.'
Sowas in der Art hatte Rico gesagt. Na klar, er hatte sich damit den Fangschuss geben wollen – und deswegen nur eine Patrone in der Trommel gehabt. So ein elender Mist aber auch!
“Jetzt fresse ich dein Gehirn”, sagte Hollerbach und schloss seine Klauenfinger um Kevins Hals.
“Oh Mann”, sagte Kevin, “das ist jetzt aber irgendwie doof.”