Nichts als die Wahrheit
Nichts als die Wahrheit
Man konnte seine Schritte hören. Seine Schuhe trafen den Asphalt wie ein Metronom. Gleichmäßig und ein Schritt wie der andere. Er lief seine Strecke. So wie jeden Abend. Sie führte über eine lange Allee, über viele Brücken, an Feldern vorbei und um einen See. Keine Menschen, keine Häuser, keine Hektik. Einfach nur Natur.
Er mochte die Stadt nicht. In der Stadt sind alle Menschen immer so unfreundlich. Sie schauen ihn immer so verachtend an. Als wenn er von einem anderen Stern sei.
Mit 7 Jahren hatte er einen Unfall. Ein betrunkener Autofahrer hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren und das Auto seiner Eltern frontal gerammt. Seine Mutter war sofort tot. Sein Vater fiel danach ins Koma. Er hatte eine große klaffende Wunde im Gesicht und trägt auch heute noch eine Narbe davon. Wie sein Vater starb bekam er nicht mit da er in dem Moment genäht wurde. Er war noch so jung und begriff es zuallererst nicht. Das erste mal so richtig realisiert hatte er es in der Schule. Beim Schulfest waren alle Eltern seiner Freunde da. Von ihm nur seine Großmutter. Es wurde eine schwere Zeit. Seine Gefühl der Leere entwickelte sich zu Hass. Hass gegen seine Freunde. Warum hatten sie ihre Eltern noch? Wieso wurden ihm seine so einfach weggenommen? Über die Jahre veränderte er sich. Verbittert, mürrisch und stets abgeneigt von jeglichem Kontakt zu anderen Menschen.
So wurde er freier Fotograf. Das war seine Leidenschaft geworden. Hier war er alleine und es gab nur die Natur. Die Natur war immer gerecht. Und er musste sie nicht bestechen oder bezahlen um sie fotografieren zu können. Er machte Landschaftsbilder. Eine Firma hatte ihn engagiert. Für ihre Desktophintergründe schoss er Bilder. Und so sind mehrere Firmen auf ihn aufmerksam geworden. Mit den Aufträgen kann er leben. Es reicht für ihn, denn er lebt nunmal allein. So will er es.
So lief er diesen Abend seine Route. Von seinem Haus auf dem Lande, er hatte es von seiner Großmutter geerbt, die Allee entlang, über die Brücken, vorbei an den Feldern bis hin zum See.
Doch diesen Abend war etwas anders. Er musste aus einem ihm unerklärlichen Grund am See stehen bleiben. Die Nacht war immer noch sternenklar. Sie spiegelten sich auf der ruhigen Wasseroberfläche. Er sah sein Gesicht und merkte wie er selber starrte. So wie SIE ihn immer anstarrten. Einen kurzen Moment richtete er sich auf und hielt inne. Er hörte Schritte hinter sich. Sie kamen näher. Er vermochte sich nicht umzudrehen. Zu groß war seine Angst. Sie übersteig seine Neugier. Als die Schritte aufhörten schien ihm sein Herz bis an den Hals zu schlagen.
Erst als eine Hand seine Schulter antippte und er ein ruhiges ängstliches ,,Hallo?” hörte, traute er sich, sich umzudrehen. Ihm schien es, als drehte er sich in Zeitlupe und als er ihr Gesicht erblickte verspürte er eine Gänsehaut. Im Mondlicht sah er wie sich eine großflächige Brandnarbe über ihr Gesicht zog. Vom Ansatz ihrer langen dunklen Haare, über ihre dünne rechte Augenbraue, sowie ihre schmale kurze Nase und ihre im Lichte weiche Wange bis hin zum Kehlkopf zog sie sich. Ihre Stimme war ein Kontrast dazu als sie sagte: ,,Ich habe dich schon oft hier gesehen. Du kommst mir so vertraut vor und ich glaube ich weiß wie du dich fühlst. Ich sitze immer dort hinten am Baum und schaue in die Sterne. Ich sehe dich jeden abend hier entlanglaufen und sehe jeden Abend die Verbittertheit in deinem Gesicht. Eines Abends sah ich deine Narbe und wusste was du durchgemacht hast. Heute hab ich mich durchgerungen dich anzusprechen und würde gerne deine Stimme hören und dich näher kennen lernen.”
Er war wie versteinert. Sein Atem war flach und sein Herz raste immer noch. ,,Ehm”, stotterte er ,,Wie soll ich das sagen?” Er hielt einen Moment inne und musste nachdenken. Wann hatte er sich das letze mal so gefühlt? Hatte er überhaupt jemals so empfunden wie jetzt. Er war sich sicher, es war Zorn. Wie konnte sie ihn nur als verbittert bezeichnen? Er war stets normal. Alle Anderen waren doch die unnormalen die ihn erst verbittert wirken ließen! ,,Entschuldigung, dass ich so direkt bin, aber ich glaube nicht, dass sie mich kennen lernen möchten. Verarschen kann ich mich alleine. Und wenn sie dieses aufgeklebte Etwas in ihrem Gesicht auf irgendeine Weise amüsant finden und denken ich lache mich gleich tot, wie lustig sie doch aussehen, dann muss ich sie enttäuschen denn ich finde es abstoßend. Sie widern mich an.” , waren seine Worte und lief wieder in Richtung Felder, Brücken und Allee nach Hause.
Die nächsten Tage verliefen so wie immer. Fotos machen und abends laufen. Daraus bestand sein Leben. Aber nach einer Woche hatte er Post. Ein Scherz war es nicht, denn die Fahne seines Postkasten war unten. Das war sie die letzten Jahre nicht. Als er den Brief öffnete musste er stutzen. Es war eine Frauenhandschrift, das hätte sogar ein Blinder mit Krückstock gesehen.
,,Ich bin enttäuscht. Nicht von ihnen sondern von mir. Wie konnte ich nur annehmen sie seien wie ich. Eine einsame Seele, von Allen abgestoßen auf der Suche nach jemand Gleichgesinntem. Doch sie haben mich eines Besseren belehrt. Sie haben ihr Leben lang wohl nicht durch einen Moment alles verloren. Ihre Familie, ihre Zukunft, ihr Gefühl zu lieben. Einen Moment der sie verbittert werden ließ, weil ihnen die Welt als ungerecht erschien. Als ich sie sah, bekam ich das Gefühl jemanden gefunden zu haben, den ein ähnliches Schicksal ereilt hat, wie mich. Doch sie haben mir gezeigt, dass sie das nicht sind. Dass sie nicht wie ich wieder lieben möchten und somit wieder zu leben...”
Diese Worte trafen ihn nicht. Er knüllte den Brief und warf ihn im hohen Bogen in den Papierkorb und ging auf den Balkon um die Sterne zu sehen. Er schaute diesen Abend das erste mal in den Himmel und das eine ganze Weile. Er wurde den Gedanken nicht los, wie sie sich erlauben konnte ihn als verbittert zu bezeichnen. Demnächst würde er eine neue Route laufen.
Eine die nicht am See vorbeigeht.
Verbittert. Wie konnte sie nur?