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Nichts ist für dich!
Einen Moment lang hielt Helen inne und atmete schwer. Die letzten Stockwerke, die sie im Sturm genommen hatte, forderten nun ihren Tribut. Zitternd legte sie ihre Hand auf das Stahlgeländer, um sich zu stützen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und erklomm die letzten Stufen zur Dachterrassentür. Ohne weiteres Zögern griff sie nach dem Türknauf und riss die schwere Eisentür auf. Ein kalter Windzug sog sich in das Treppenhaus und ließ Helens Haare nach hinten wehen. Ihr Kleid flatterte und verfing sich an einer Kante des Geländers. Als Helen nach draußen rannte, hielt es sie nur kurz zurück. Mit einem knirschenden Geräusch riss das Sommerblumenmuster und sie konnte ihren Weg fortsetzen. Dennoch, überrascht durch diesen Haltegriff, verlor Helen das Gleichgewicht, strauchelte und fiel. Unsanft bremsten ihre Knie den Fall und der Beton hinterließ seine Spuren auf ihrer hellen Haut. Bäuchlings fand Helen sich auf der Dachterrasse wieder. Einen Moment lang war sie wie gelähmt. Der Schmerz kroch ihren Körper hinauf und betäubte ihre Sinne. Einfach liegen bleiben und darauf warten, dass alles vorbei geht, dachte Sie.
Die Abendsonne stand tief und tauchte das Dach in ein Spiel blutroter Farben. Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte sie noch Kraft und wärme Helen mit ihren letzten Strahlen, bevor die Nacht die Stadt in ihren schwarzen Mantel hüllte. Helen erhob den Kopf und blinzelte in den untergehenden Feuerball.
Am Ende der Terrasse konnte Helen die Silhouette von Jeremy erkennen, der am Rand mit dem Rücken zu ihr stand und ebenfalls das abendliche Schauspiel beobachtete.
Mühsam rappelte Helen sich auf, strich über ihr zerrissenes Kleid und ging langsam auf Jeremy zu. Sie versuchte einen ernsten Ausdruck auf ihr Gesicht zu legen und den pochenden Schmerz ihrer Knie zu ignorieren. Jetzt war sie nur noch wenige Schritte von Jeremy entfernt, als dieser sich zu ihr umdrehte. Helen stoppte ihren Gang und sah Jeremy direkt in seine kastanienbraunen Augen. Einige Strähnen seiner langen Haare wehten ihm ins Gesicht und teilten es in zwei Hälften. Mit der untergehenden Sonne im Rücken verlieh ihm diese Szene etwas Mystisches, ja beinahe Bedrohliches, obwohl er sie ganz entspannt da stand und Helen anblickte.
„Es ist schön dich zu sehen.“ Seine Augen funkelten und fixierten Helen eine Weile, dann wand er sich wieder um und beobachtete weiter den Horizont.
„Was machst du hier, Jeremy?“, fragte sie mit leicht zitternder Stimme.
„Warum muss ich dich ausgerechnet hier wieder sehen?“ Er drehte seinen Kopf ein kleines Stück zu ihr.
„Du hast es also nicht vergessen. Schön.“ Seine typische Arroganz schwangen mit seinen Worten.
„Wie könnte ich auch? Du hattest ja schon immer einen Hang zu einprägsamen Orten, Jeremy.“, sagte Sie und stützte dabei ihre Hände in die Seiten.
Jeremy stieß ein kurzes Lachen aus, das in Helens Ohren wie Spott klang.
„Melancholie und Dramatik liegen mir nicht. Ich bin da eher für das Handfeste.“, sagte Jeremy in die Leere vor sich.
Helen erwiderte das herablassende Lachen und festigte ihre Stimme, in der nun eine ordentliche Portion Sarkasmus mitschwang.
„Du lässt mich hierher kommen, stehst auf dem Dach eines zwanzigstöckigen Hochhauses und schaust über den Rand bei Sonnenuntergang. Ich frage dich, was bitte könnte dramatischer wirken?“
Jeremy drehte sich erneut zu ihr um.
„So viel Zeit haben wir miteinander verbracht. So viele Augenblicke zusammen erlebt und du scheinst mich immer noch nicht zu kennen.“ Sein Blick senkte sich.
„Ich kenne dich gut genug Jeremy. Ich kenne dich so gut, dass ich weiß, dass du jeden dieser Augenblicke, von denen du da sprichst, nur und ausschließlich nur für dich gelebt hast. Dir ist niemand wichtig, nur du dir selbst.“
Helen biss fest auf ihre Zähne und ihr Kiefer knackte leicht unter dieser Anspannung. Die alten Gefühle und die Wut gegenüber Jeremy brodelten in ihr und schlossen sich zu einem dicken Knäul zusammen, welches Helens Kehle verstopfte.
„Wie dem auch sei.“,
Jeremy blickte sie nun wieder mit einem völlig ausdruckslosen Gesicht an,
„Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Ich habe etwas für dich, ein Geschenk. Vielleicht erfüllt es dir, was es mir versprochen hat.“
Er knöpfte sein Hemd auf und zog es aus. Um seinen Hals hing eine silberne Kette, an der ein auf dem Kopf stehendes Kreuz befestigt war. Das Schmuckstück schmiegte sich an seinen austrainierten Körper und schwang leicht mit seinen Bewegungen mit.
„Was soll das werden Jeremy? Ich hoffe du hast nicht vor, mir dich als Geschenk zu machen. Ich bin ehrlich gesagt, nicht in Stimmung für eine solche Show.“ Helen wich einen Schritt zurück.
Jeremy grinste sein arrogantestes Lächeln und starrte sie an. Seine Hand wanderte langsam zu seinem Hals und griff nach der Kette. Er zog sie über den Kopf und steckte sie ihr entgegen. Sie funkelte im Licht der untergehenden Sonne und wog langsam im Wind hin und her.
„Gerne würde ich die alten Zeiten wieder aufleben lassen.“, sagte Jeremy.
„Aber ich glaube, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Bitte, nimm sie. Sie soll nun dir gehören. Vielleicht verleiht sie dir die Flügel, um zu den Wächtern des Himmels zu gelangen.“ Helen trat auf Jeremy zu und streckte ihre Hand aus. Das Silber war kalt und Helen zuckte etwas zurück, als es in ihre Hand glitt. Sie schaute Jeremy wieder in die Augen.
„Böse Engel können nicht im Himmel leben“, sagte Sie und Tränen stiegen in ihren Augen auf. Jeremy drehte sich um und kletterte auf die Brüstung. Auf seinem Rücken konnte Sie nun etwas sehen, was sie schlagartig erkenne ließ, was Jeremy vorhatte. Ein riesiges, tätowiertes Flügelpaar erstreckte sich über die Haut und straffte sich, als Jeremy seine Arme ausbreitete.
„Jeremy, nein!“
„Du hast Recht. Sie können nicht im Himmel leben. Sie werden in den Abgrund gestoßen und stürzen in das Fegefeuer.“
Eine Träne rollte über ihre Wange und tropfte auf ihr Kleid. Die Nacht hatte die Sonne besiegt und es wurde dunkel.