Nichts Neues
Dass die Medien zunehmend abstumpfender wirken, ist mittlerweile jedem bewusst, der auch nur einen Zentimeter über den Tellerrand gucken kann. In Afrika verhungern Kinder, in Amerika wird ein Superstar tot aufgefunden, in Holland werden Drogenbarone hochgenommen. Wir sind so gesättigt von den alltäglichen Grausamkeiten, dass wir sie nur noch schwach wahrnehmen. So, wie man während der Autofahrt ein Werbeplakat am Straßenrand wahrnimmt. Und doch konsumieren die Menschen täglich weltweit Nachrichten, um sich am Elend zu laben und ihre eigenen Sorgen zu vergessen. Ich hab noch Schulden in meiner Stammkneipe? Ach, die arme Sau hier hat bei einem Unfall beide Beine verloren, das ist schlimmer. Doch ein Thema, das immer allgegenwärtiger wird, ist Kindesentführung, die zu Vergewaltigung und Mord führen kann. Ich gebe zu, auch das lässt mich sehr kalt. Als Kind hat es mich noch getroffen. Die Welt war damals noch klein für mich, und jeder erwachsene Mann hätte mir was tun können. Das verging, als ich als Jugendlicher wusste, welche Stelle einen kräftigen Tritt am schmerzvollsten empfing, wenn es nötig war. Auch Eltern mögen anders darüber denken, es könnten ja ihre Kinder sein. Aber als kinderloser Erwachsener war ich eben übersättigt, was Nachrichten bezüglich Kindesvergewaltigungen anbetraf, auch wenn ich mir manchmal schon insgeheim wünschte, die Verantwortlichen würde man kastrieren. Ein Tag wie jeder andere, als ich meinen Fernseher einschaltete und mir und Tausenden anderen mitgeteilt wurde, dass die neunjährige Sophie M. aus F. seit gestern nachmittag verschwunden war. Eine Viertelstunde später schaltete ich die Glotze wieder aus, und noch bevor ich zum einkaufen im Supermarkt ankam, war Sophie vergessen. Am Abend ging ich spazieren und kaufte mir eine Schachtel Zigaretten am Kiosk. Auf der Titelseite der heutigen Zeitung wurde verkündet, dass ein Freund der Familie den sechsjährigen Felix regelmäßig sexuell missbraucht hat, als er auf ihn aufpassen sollte. Auch Felix fiel dem Kurzzeitgedächtnis zum Opfer, während ich mir eine Zigarette anzündete und in der Dämmerung durch den Park schlenderte. Als ich nur noch zwei Straßen von zu Hause entfernt war, war es bereits stockdunkel. Es war Spätherbst, und gepaart mit dem pfeifendem Wind und der Stille hier wirkte die Gegend bedrohlich, obwohl sich hinter den beleuchteten Fenstern Welten befanden, in denen es Wärme und Geborgenheit gab. Wie die Stromversorgung manchmal so will, waren mehrere Laternen defekt, nur vereinzelt gab es Lichtinseln, die über die Dunkelheit hinwegtrösteten. An diesem Ende der Straße befand sich rechts und links nur Feld, das letzte Haus hatte ich schon gut zweihundert Meter hinter mir gelassen. Ein Mädchen kam mir entgegen. Sie war ungefähr sechszehn und das, was man eine natürliche Schönheit nennt. Nicht zu dick, nicht zu dünn. Schulterlanges, schwarzes Haar. Große Augen und weiche Gesichtszüge. Ein erneuter Windstoß kam auf, und sie zog ihren Schal enger. Jetzt sah sie mich auf sie zukommen, und schien mich lauernd im Auge zu behalten. Für den Bruchteil einer Sekunde nur sah ich zu ihr, dann war ich vorbei. Ich sagte nichts zu ihr und drehte mich auch nicht noch einmal um. Ich war mir aber sicher, dass sie letzteres tat, um sich zu vergewissern, dass ich mich nicht doch still zu ihr umdrehte, um sie anzufallen. Zu Hause schaltete ich wieder den Fernseher ein. Sophie wurde gefunden, in der Nähe einer Steingrube im Nachbarort. Sie wurde erwürgt, der Körper wies Spuren von Vergewaltigung auf. Ich knipste den Fernseher aus und hatte das Gefühl, dem Mädchen von vorhin etwas Gutes getan zu haben.