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Nimm die Last von mir

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26.11.2010
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Nimm die Last von mir

Wenn er an nassen Tagen gemütlich im Schaukelstuhl sitzt und genüsslich an seiner Pfeife zieht, tauchen die Erinnerungen wieder auf. Es sind Augenblicke seines Lebens, die ihm so unendlich viel bedeuten, dass es ihm in der Brust schmerzt. Es ist lange her, aber die Erinnerungen sind so fest in seinem Herzen verankert, dass ihr Leuchten klar und hell ist. Es war die kaltnasse Zeit im November und es fröstelt ihn, wenn er daran denkt.
Ein kleines graues Wölkchen kommt aus der Pfeife hervorgekrochen und schwebt gemächlich zum Fenster hin. Leon schließt die Augen und lässt die alten Bilder an sich vorbeifliegen. Es tut ihm gut. Er ist wieder der kleine, schmächtige Junge mit braunem, zerzaustem Haar und Hornbrille. » Gerade mal zwölf Jahre alt und schon so mutig. Also Leon, ich bin wirklich sehr stolz auf dich. « Diese warme Stimme, mit unüberhörbar sarkastischem Unterton gehörte Lilli, seiner großen Schwester. » Das nennt man Umzug und Umzüge sind nun mal kein Zuckerschlecken! Also tu, was Papa dir aufgetragen hat und geh auf den Dachboden, um die ganzen alten Bücher vom Vormieter zu ordnen und abzustauben. Du hast Papa doch gehört. Wenn du was Interessantes findest, darfst du es behalten. « Leon schmollte und machte ein beleidigtes Gesicht, ging dann aber, wie man ihn geheißen hatte die steile Wendeltreppe hinauf auf den Dachboden. Er litt sehr unter dem Umzug, mit seinen ganzen Veränderungen und war mit seinem neuen Heim nicht sehr zufrieden. Das kleine Haus war sehr alt und hatte die Jahrhunderte nicht ganz unbeschadet überstanden. Die Wände waren schon etwas marode, aber im Großen und Ganzen hatte das Haus einen gewissen Charme. Nun stand er also da, sah sich im Halbdunkeln des verwinkelten Raumes um und fing an, die vielen alten Bücher zusammenzuklauben, die überall auf dem Boden verstreut waren. Warum hatte der alte Mann seine alten Sachen nicht mit genommen als er das Haus verließ? Vielleicht weil seine neue Wohnung zu klein war? Eine gute Stunde lang sammelte Leon fleißig und packte die Bücher in ordentlichen Stapeln neben die Treppe. Dann hielt er plötzlich inne, als er ein sehr staubiges, kleines Büchlein hinter mehreren großen Lexika hervorholte. Es sah anders aus, als die Bücher, die neben der Treppe lagen. Etwas war auf den Buchdeckel gekritzelt worden. Um es genauer betrachten zu können, ging er zu der Petroleumlampe, die er in der Mitte des Raumes platziert hatte. Das flackernde Licht fiel auf den karminroten Einband und Leon konnte die Schrift nun entziffern. In kleinen, krakeligen Buchstaben stand dort geschrieben: »Dieses Tagebuch ist Eigentum von Fritz Krämer«. Leon hatte diesen Namen schon einmal gehört; er wunderte sich, dass der Vormieter dieses Büchlein einfach auf dem Dachboden verstauben ließ. Ein Tagebuch bewahrt man doch in seinem Zimmer auf, weil es einem wichtig ist, dachte sich Leon. Vorsichtig schlug er den Buchdeckel auf. Ihm fiel sofort die kleine Notiz unten rechts auf der ersten Seite auf. »Anno 1940«. Die Neugierde hatte Leon nun endgültig gepackt und so sammelte er noch die letzten Bücher zusammen und rannte dann zu seinem Vater. »Kann ich das Buch behalten? «, fragte er atemlos. Sein Vater blickte verwundert auf das kleine Büchlein, das Leon so fest umklammert hielt, und nickte langsam. »Also, ich habe nichts dagegen. Ich glaube, deine Mutter auch nicht. Sie ist sowieso viel zu erschöpft, als dass wir sie jetzt damit behelligen sollten. « Leon bedankte sich und lief in sein neues Zimmer, um das kleine Ding genauer unter die Lupe zu nehmen. Die ersten Seiten des Tagebuchs fesselten ihn nicht besonders und so kam er zu dem Schluss, dass der Eigentümer keine besonders spannende Vergangenheit gehabt hatte. Dieser schrieb fast ausschließlich über seine kleine Tochter, die wahrscheinlich auch der Grund für dieses Tagebuch war. Von der Geburt bis zu den ersten Schritten, alles war feinsäuberlich dokumentiert und kommentiert. Nichts Besonderes, dachte sich Leon. Die Wochen verstrichen, ohne dass Leon das Buch wieder in die Hand nahm und so vergaß er es immer mehr. Bis zu einem besonders ungemütlichen Tag, kurz vor dem ersten Advent. Es war der Geburtstag seiner Mutter. Leon wurde von einem pochenden Kopfschmerz geweckt und setzte sich kerzengerade auf die Bettkante. Er hatte schlecht geträumt, irgendetwas von dem Tagebuch. Im fahlen Mondlicht tastete er nach der Schublade seines Nachttisches und zog das kleine Büchlein hervor. Dann schlug er die Seite 158 auf. Er wusste nicht warum, es war nur so ein Gefühl. Um besser sehen zu können, knipste er die Nachttischlampe an. »29. November 1941«. Leon stutzte kurz, denn dieser Tag war genau ein Tag vor dem Geburtstag seiner Mutter.
Am 30. November 1941 musste sie genau zwei Jahre alt geworden sein. Merkwürdiger Zufall, dachte sich Leon, doch als er die ersten Sätze des Eintrags las, drehte sich sein Magen um. »Meine kleine Lisa wird morgen schon zwei Jahre alt. Sie hat solch große Fortschritte gemacht, sowohl beim Parlieren als auch beim Lesen. Ich bin so stolz auf sie und danke dem lieben Gott für dieses wunderbare Geschöpf. Es betrübt mich sehr, dass Katharina bei der Geburt sterben musste und das Mädchen nicht heranwachsen sehen darf. Vielleicht schaut sie ja von oben auf uns herab? Es wäre zu schön. « Leon schluckte, als er diesen Eintrag las. Das war vielleicht ein Zufall mit dem Geburtstag.
Das Schicksal der Frau ging ihm sehr nahe. Er schaute wieder auf das Buch und bemerkte die leere Seite neben dem letzten Eintrag. Der Autor hatte bisher immer für jeden Eintrag eine Seite verwendet, kontinuierlich. Dieser Bruch konnte nur eines bedeuten: Das Tagebuch war zu Ende. Doch als er umblätterte, sah er einen kleinen Briefumschlag, der locker zwischen die Seiten gesteckt war. Auf dem Umschlag stand in feinsäuberlicher Schönschrift geschrieben: »Für meine kleine Lisa, damit sie versteht «
Sonst nichts. Leon war ein sehr neugieriger Mensch und so öffnete er vorsichtig den Briefumschlag. Zwei Dinge fanden sich im Inneren: Einmal eine Urkunde aus dickem Pergament und ein kurzer Brief. Dem ersten Dokument war zu entnehmen, dass dem Vater das Sorgerecht für seine Tochter entzogen wurde und diese von nun an in einem Waisenhaus leben musste. Als Grund wurde genannt: »Dem Vater des Kindes Lisa Marlene Krämer ist die Mitgliedschaft in einer sozialdemokratischen, verbotenen Vereinigung nachgewiesen. Herr Fritz Krämer war an mehreren Aktionen beteiligt, die eindeutig gegen die Nationalsozialistische Arbeiterpartei gerichtet waren. Vater und Tochter sollen von nun an getrennt bleiben, aus Sicherheitsgründen. « Leon bekam plötzlich Mitleid mit diesem Mann. Erst hatte er seine Frau verloren und dann auch noch seine Tochter. Herr Krämer, ja so hieß der Vormieter. Aber dass seine Tochter am gleichen Tag Geburtstag hatte wie seine Mutter und auch genau wie sie Marlene hieß, war ein bisschen viel Zufall, dachte sich Leon. Völlig verstört faltete er den Brief auseinander und fing an zu lesen:
» 19.Dezember 1956. Liebe Lisa, es ist mir wahrscheinlich nicht mehr vergönnt, dich als junge Frau kennenzulernen, wenn du in der Lage bist, zu verstehen warum du ohne Vater aufwachsen musstest. Deswegen hinterlasse ich dir dieses Tagebuch, in der Hoffnung, dass du es irgendwann durch glücklichen Zufall in den Händen halten wirst. Meine Versuche, dich aufzuspüren blieben vergeblich. Ich kann nie wieder gut machen, was ich dir angetan habe, als ich deine Zukunft, nur meiner politischen Überzeugungen wegen zerstört habe. Ich war Mitglied einer sozialdemokratischen Widerstandsbewegung gegen das nationalsozialistische Regime. Ich kämpfte für ein besseres, freieres Leben, doch setzte unser beider Zukunft aufs Spiel. An deinem zweiten Geburtstag schließlich wurde ich von der Gestapo verhaftet. Bis zum Kriegsende hielt man mich im Konzentrationslager Dachau gefangen und es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich dachte. Die Ungewissheit über deine Zukunft hielt mich gefangen, als ich eingesperrt war und hält mich noch heute gefangen. Was für ein Mensch bist du geworden? Hast du die gleichen Ideale wie ich? Heute bin ich ein zweites Mal glücklich verheiratet, ich habe eine gute Frau gefunden, die mit mir den Rest meines Lebens verbringen will. Aber ein weiteres Kind? Nein, das bringe ich nicht fertig. Falls du diesen Brief nun in den Händen hältst und anfängst zu verstehen, ist mein größter Wunsch erfüllt. Ich hoffe, dass du gesund und fröhlich bist und ich wünsche dir alles Glück, was ich dir wünschen kann für dein weiteres Leben.
Bitte verzeihe mir, denn die Scham darüber, was ich dir angetan habe, lastet schwer auf mir. Und sie wird mit den Jahren immer schwerer. In Liebe, dein Vater Fritz« Leon schloss die Augen und dachte lange nach. Nun verstand er, was das alles zu bedeuten hatte. Und so schloss er das Buch, sprang auf und lief die Treppe hinunter zu seiner Mutter. Als sie alles gelesen hatte, standen ihr Tränen in den Augen. Nie hatte sie ihren Vater kennengelernt, nie hatte sie etwas wie eine Familie gehabt und nie wurde sie wirklich geliebt. Nun wusste sie, dass sie stolz sein konnte, auf ihren Vater. Voller Vorfreude, aber auch Furcht vereinbarte sie sofort ein Treffen mit ihm. Sie verbrachten viele Stunden miteinander, Stunden, die sie nachzuholen hatten. Doch es wurde nicht viel über das Vergangene gesprochen, nein, die Gegenwart und die Zukunft waren viel wichtiger. Zwei Wochen nach dem Treffen war Großvater tot. Leon wusste, warum. Sein Opa war nun frei.
Als auch die letzte Glut in seiner Pfeife erloschen ist, steht Leon auf und schaut aus dem Fenster, weit, weit in die Ferne. Ja, es ist lange her, aber die Erinnerungen sind so fest in seinem Herzen verankert, dass ihr Leuchten klar und hell ist.

 

Hallo jappa92, herzlich Willkommen hier!

» Gerade mal zwölf Jahre alt und schon so mutig. Also Leon, ich bin wirklich sehr stolz auf dich. «
Leerzeichen an den Anführungszeichen weg

ging dann aber, wie man ihn geheißen hatte die steile Wendeltreppe
hatte, die

er wunderte sich, dass der Vormieter dieses Büchlein einfach auf dem Dachboden verstauben ließ. Ein Tagebuch bewahrt man doch in seinem Zimmer auf, weil es einem wichtig ist, dachte sich Leon.
Würde ich streichen.

Leon war ein sehr neugieriger Mensch und so öffnete er vorsichtig den Briefumschlag.
Das Kursive würde ich streichen.

Zwei Dinge fanden sich im Inneren: Einmal eine Urkunde aus dickem Pergament und ein kurzer Brief.
Dann kann der Briefumschlag ja nicht soo dünn sein..

Dem ersten Dokument war zu entnehmen, dass dem Vater das Sorgerecht für seine Tochter entzogen wurde und diese von nun an in einem Waisenhaus leben musste.
Worden war statt wurde

Völlig verstört faltete er den Brief auseinander und fing an zu lesen:
‚Völlig verstört’ finde ich zu stark

Meine Versuche, dich aufzuspüren blieben vergeblich.
aufzuspüren, blieben

Der Anfang von der Nachricht des Vaters liest sich sehr holperig und enthält nervige Schachtelsätze

als ich deine Zukunft, nur meiner politischen Überzeugungen wegen zerstört habe.
wegen, zerstört

Der Schluss der Geschichte wirkt ziemlich abgehackt.

Hier ist es üblich, wörtliche Rede immer in einer neuen Zeile anfangen zu lassen. Außerdem täten dem Text mehr Absätze gut, dadurch wird er lesbarer.

Soweit meine Kommentare.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hi Jappa,

und herzlich willkommen hier.
Den Plot finde ich schön, nur hast du ihn für mein Gefühl etwas nachlässig und wegen der doppelten Rückblende auch etwas ungeschickt erzählt.
Nachlässig, weil die Frau Marlene heißen soll, im Brief aber als Lisa angeschrieben wird. Bei Leon denke ich an einen Jungen, nicht aber an einen alten Mann, der im Schaukelstuhl Pfeife raucht. Wenn das Tagebuch 1940 mit der Geburt beginnt, kann das Mädchen nicht im November 1941 schon zwei Jahre alt werden. Wenn das Mädchen 1940 geboren wurde, ist es gerade 16 geworden, als der Vater den Brief schreibt. Nehmen wir mal an, sie bekam ihr erstes Kind mit 23 (das war zu der Zeit in etwa das durchschnittliche Alter), bekam sie die Tochter 1963, den Sohn Leon vielleicht 1965. Da war Leon kein wirklich gebräuchlicher Name für Kinder. Heuer ist Leon dann gerade mal 45, da ist ein Schaukelstuhl mit Pfeifchen natürlich auch gemütlich, weckt aber falsche Assoziationen und bei mir das Gefühl, über die beschriebenen zeitlichen Abläufe hast du dir nicht all zu viele Gedanken gemacht.
Die doppelte Rückblende verkompliziert gerade diese Zeitgebilde, aber sie schafft auch Distanz zum Geschehen. Viel direkter wäre es, du würdest die Geschichte in der Gegenwart der 70er Jahre ansiedeln und die Entdeckung des Jungen im Präsens erzählen.
Interessant wäre natürlich, ob Leon wusste, dass seine Mutter nicht bei ihrem Vater aufgewachsen ist. Auch kommen Gefühle wie Stolz natürlich vor, brauchen aber gewiss eine Zeit, denn Heimunterkunft war in den Jahren 1941 bis 1961 (Volljährigkeit ja erst mit 21) ganz sicher keine Zeit im Paradies. Wenn sie den Brief also gelesen hat, müssten die Gefühle viel widersprüchlicher sein. "Mein Vater war im Widerstand" steht gegen "Mein Vater hat mich im Stich gelassen" und reicht möglicherweise nicht, ihm so schnell zu vergeben. Wenn es doch reicht, müsste dies plausibler und ausführlicher erzählt werden. Auch da steht dir die doppelte Rückblende im Weg.

Soweit meine Gedanken.

Liebe Grüße
sim

 

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