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No Gangster, No Cry
Freddy setzte seine beste Kiffergrimasse auf und atmete ganz langsam den Rauch aus.
“Alter”, sagte er, “das ist richtig guter Shit!”
Ich nahm ihm den Joint ab, schaute kurz nach links und rechts und grinste ebenfalls.
Es waren nur noch drei Tage bis zu den großen Schulferien, und Freddy und ich hatten die Klasse nach etlichen Streitigkeiten mit unseren Lehrern gerade so bestanden. Ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder frei zu sein.
„Wir schauen doch jetzt diesen Film an, oder?”, fragte Freddy und blinzelte dabei mehrmals, als wäre er gerade aus einem Erdloch gekrochen.
Ich versuchte auf den Boden zu spucken, aber es kam nichts, mein Mund war zu trocken. „Sollen wir wirklich hingehen? Die Zeugnisse sind schon geschrieben, macht doch nichts wenn wir jetzt fehlen. Ich meine, der Film wird sowieso scheiße sein. Die Streber haben ihn ausgesucht.“
Freddy zuckte mit den Achseln. “Aber vielleicht gibt’s Pizza.“
Ich zögerte kurz.
Freddy rieb sich den Magen. „Pizza!“, wiederholte er, und seine Augen leuchteten kurz auf.
„Meinst du?“, fragte ich.
„Ja, klar Mann!“
Er hatte Recht. In der letzten Deutsch-Doppelstunde vor den großen Ferien gab es meistens Pizza.
„Also gut ...“, sagte ich. „Rauchen wir noch den Joint fertig.“
Wir waren, wie eigentlich immer, spät dran, was mich aber nicht weiter störte. Ich zog meine Baseball-Kappe runter ins Gesicht, damit man meine Augen nicht sehen konnte, und dann platzten Freddy und ich ins Klassenzimmer. Der Film lief schon. Unsere Klassenlehrerin, eine ältere, mürrische Frau mit einem spitzen Gesicht wie ein Windhund, warf Freddy und mir einen kritischen Blick zu, den ich aber ignorierte. Ich schaute mich kurz im Klassenzimmer um.
„Gibt’s hier keine Pizza, oder was?“, rief ich laut.
Die Klasse raunte leise.
„Daniel, wir schauen einen Film an“, knurrte Frau Müller. „Setz dich jetzt hin. Und wenn du nicht hier sein willst, kannst du meinetwegen auch gehen!“
Freddy und ich sahen uns an.
„Hauen wir ab, Alter?“
Freddy zuckte mit den Achseln, was so viel hieß wie „ja“.
Ich lief Richtung Tür, und wollte schon einen letzten coolen Spruch an die Klasse abgeben, aber dann sah ich etwas, das mich mächtig störte. Ingo Schreivogel hatte sich an meinen Platz gesetzt. Er saß normalerweise immer ganz vorne, und ich neben Freddy ganz hinten, aber da der Fernseher bei uns im Raum hinten stand, hatte der Schreivogel es tatsächlich gewagt, sich an meinen Platz zu setzten.
Ich stürmte auf ihn zu. „Du sitzt auf meinem Platz!“
Ingo sah erschrocken auf. Er hatte mich nicht kommen sehen, und sein Mund hing offen.
„Du - sitzt – auf – meinem - Platz!“, sagte ich ganz langsam und betonte dabei jedes Wort. Wenn er sich jetzt nicht bewegte, konnte er nach der Stunde aber echt was erleben.
„Sorry“, sagte er eingeschüchtert und dann stand er langsam auf und kroch davon.
Ich setzte mich sofort hin und wandte mich dann Simon zu, dem Streber, der auf Freddys Platz saß.
„Ja, ich geh schon“, sagte er genervt, und dann setzte sich Freddy neben mich.
„Solche Loser“, flüsterte Freddy mir ins Ohr.
Ich nickte zufrieden, lehnte mich zurück und blickte auf den Fernseher.
Der Film war richtig schlecht. Keine Ahnung, wie meine Klasse darauf gekommen war. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das hier. Es war ein amerikanischer Kriegsfilm, aber keiner der Sparte Platoon oder Full Metal Jacket. Er handelte von einem Soldaten, der im Krieg die Befehle seines Generals missachtete, um auf feindlichem Gebiet nach den verschollenen Kameraden zu suchen, die von allen anderen bereits für tot gehalten wurden.
Der Hauptdarsteller verhielt sich, als hätte er die Rolle in erster Linie für seinen Bizepsumfang bekommen, was wahrscheinlich auch der Fall war, und während er etliche böse Araber mühelos umbrachte, bewies er mir vor allem eins: dass die Bösen einfach nicht zielen konnten!
Ich schüttelte immer wieder bestürzt den Kopf. Jede Kugel segelte an ihm vorbei, wirklich jede, was da abging verstieß je beinahe gegen die Gesetze der Physik.
Kaum zu fassen!
Als unser American Hero gegen Ende seine Kameraden lebend auffand, und dann auch noch rettete, nur um zum Schluss märtyrerhaft zu sterben, wollte ich gehen.
Immer dieser amerikanische Heldenmist. Siehe da! Ein wahrer Patriot. Ein richtiger Mann, einer mit Eiern so dick wie die Granaten, mit denen er um sich wirft. Einer, der sein Land richtig liebt.
Es war so fürchterlich klischeehaft, dass ich kotzen wollte.
Die Schlussszene zog sich ewig dahin, und so langsam merkte ich, wie bekifft ich war. Ich war viel zu sehr im Film drin, viel zu sehr dabei. Natürlich trafen die Kugeln den Helden nicht. Warum regte ich mich so auf? Es war ein scheiß Film, was konnte man da anders erwarten?
Ich schielte zur Tür. Ich musste mal an die frische Luft, eine Zigarette rauchen, vielleicht etwas Wasser trinken. Hauptsache weg von diesem Ami-Scheiß.
„Alles klar?“, fragte mich Freddy.
„Ja, ja ... wieso?“
„Bleib mal ruhig sitzen, Alter!“
„Ja ... schon klar ...“
Ich atmete tief durch.
Aber der Film wollte nicht enden.
Zum Schluss sollte einer der geretteten Soldaten die Frau des Helden über seinen Tod informieren. Ein idyllisches Südstaatenhaus mit großer Veranda und flatternder USA-Flagge im Vorgarten erschien im Bild.
Der Soldat bestieg ganz langsam die Treppen zur Tür, nahm seine Kappe ab und klingelte nach kurzem, melancholietriefendem Zögern. Die Frau des Helden machte auf, sah den Soldaten, der nicht ihr Mann war, und wusste sofort, was das bedeutete. Die Tränen schossen ihr in die Augen, und der Soldat umarmte sie nun so fest, dass man beinah meinen konnte, er wolle sie verführen.
Die Frau hatte einen beachtlichen Brustumfang, ähnlich wie der Bizeps des toten Helden, und das knappe Trägertop, in der sie steckten, war pinkfarben. Und natürlich leuchteten ihre Haare so blond wie die Sonne.
Für einen kurzen Augenblick hoffte ich, der Soldat würde ihr die Kleider vom Leib reißen. Ich hoffte es wirklich. Ich wollte sie nackt sehen. Für mich hatte eine solche Frau in einem solchen Film nichts zu suchen, wenn sie nicht auch sexuell in Aktion trat.
Doch es kam anders.
Die Kamera wanderte plötzlich nach links, wo ein kleines süßes Mädchen aus dem Wohnzimmer um die Ecke blickte. Ihre Haare waren so hell wie die ihrer Mutter, doch sie hatte nicht ihr billiges Aussehen; nein, ihre Haare waren nach hinten geflochten und sie hatte übergroße, saphirblaue Augen. Sie war süß. Klischeehaft süß vielleicht, aber trotzdem verdammt süß.
Ich hielt die Luft an. Was für ein tolles kleines Kind.
„Papa!“, schrie sie ganz laut, als sie den Soldaten sah, der ihre Mutter in den Arm nahm, und dann sie rannte sie auf ihn zu und klammerte sich an sein Bein.
Und nun entstand dieses fürchterliche Bild. Das Kind, das den Todesboten mit dem Vater verwechselte; die Frau, die, die richtigen Worte suchte und nie im Leben finden konnte, und der Soldat, der jetzt vor einer noch schwierigeren Aufgabe stand: Er musste nun nach unten blicken, und dem kleinen Mädchen sein Gesicht zeigen.
Und er machte es. Das kleine Mädchen hörte sofort auf zu lachen und der Soldat sah plötzlich so schuldig aus, als hätte er den Vater selbst umgebracht. Und wie in einer Tiefkühltruhe erstarrte alles. Das Bild schien stehen zu bleiben.
Plötzlich spürte ich, wie sich etwas hinter meinen Augen sammelte. Ich schaute weiter fassungslos zu, nahm aber Zeigerfinger und Daumen und drückte sie gegen meine Augenwinkel. Ich konnte mir beinah alles in diesem Klassenzimmer erlauben, aber weinen durfte ich nicht. Oh nein, bitte nicht weinen ...
Ich blickte nach links, wo Freddy mich mit einem Gesichtsausdruck ansah, den ich eigentlich liebte. Es war der ultimative, Alter-was-geht-Blick. Eine Mischung aus Staunen, Entsetzen und Coolheit. Ein Blick, den er aufsetzte, wenn eine endlos heiße Frau vorbeilief, oder wenn Messi zehn Mann ausdribbelte und ein Tor schoss. Oder eben, wenn sein bester Kumpel bei irgendeiner kitschigen Szene in einem richtig schlechten Film vor der kompletten Klasse zu weinen begann.
Ich wollte lachen, so wie eigentlich immer, wenn Freddy so dreinschaute. Es war ja alles so absurd, der Film, die Klasse, mein Dasein, einfach alles. Am liebsten hätte die ganze Welt in den Boden gekichert, doch der Reiz war tückisch. Er lockte mich aus meiner psychologischen Deckung, verführte mich wie ein kluger Werbeslogan. Ich öffnete meinen Mund zum Lachen, aber stattdessen entwich ein hohes, sirenenartiges Raunen meiner Kehle, eine Art Kreischen aus der Unterwelt. Es war ein grässlicher und schriller Ton, der eigentlich nur der Anfang von etwas viel Schlimmerem sein konnte.
Die Klasse wurde schlagartig ruhig. Dreißig Paar Augen bohrten Löcher in meinen Nacken. Ich schielte wieder kurz in Freddys Richtung und sah, dass der Ausdruck in seinen Augen sich verändert hatte. Er hatte Angst. Genau wie ich. Jahrelang waren wir zusammen so cool gewesen, so verdammt cool, und mit einem Schlag war ich kurz davor, alles zu ruinieren. Was würden die Leute über uns sagen? Von wegen hart und Gangster. Ich begann schon zu weinen wie ein Kind beim Filmschauen. Bei einem schlechten Film!
Ich schaute wieder weg, hielt meine Hände panisch vor mein Gesicht und drückte mit ganzer Kraft gegen meine Augen. Doch die Tränen waren kaum aufzuhalten, sie waren wie autonom geworden, flossen gegen meinen Willen. Die ersten heißen Tropfen quollen bereits durch meine Finger. Ich biss so fest auf meine Unterlippe, dass Blut kam. Ich hoffte, der Schmerz könne vielleicht die anderen Gefühle ausblenden.
„Alter!“, zischte Freddy leise in mein Ohr. „Was ist los?“
Ich wusste es selbst nicht, doch der Stausee, der sich scheinbar hinter meinen Augen befand, drohte jede Sekunde durchzurauschen. Ich musste schnell raus hier. Ich saß ja ganz vorne, vielleicht bekäme ja niemand einen Blick auf mein Gesicht, wenn ich ganz schnell hinauslief. Ich erhob mich und setzte zum Sprint an, doch aus irgendeinem Grund erlag ich der Versuchung, ein letztes Mal auf den Fernseher zu blicken.
Das Mädchen war im Bild, ihre Augen voller Sorge. Sie verstand den Ausdruck in den Augen der Erwachsenen nicht, doch sie wusste, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.
„Wo ist Papa?“, fragte sie leise.
Ich hätte nicht aufstehen dürfen. Meine Knie gaben nach, der Boden rauschte auf mich zu, und dann heulte ich los wie ein Baby. Die eigenartigsten Geräusche kamen aus mir heraus, halb wiehernd, halb keuchend, halb schreiend. Das Atmen fiel mir vor Schluchzen so schwer, dass ich zwischendurch panisch nach Luft schnappen musste, und mein Gesicht war zusammengeschrumpelt wie das eines dieser Hunde, die eigentlich hässlich sind, aber trotzdem jeder süß findet. Ich befand mich in einem Delirium des Loslassens, und nichts konnte diesen Gefühlsstrom mehr aufhalten.
„Daniel!“, hörte ich plötzlich eine wütende Stimme kreischen, die ich alsbald als Frau Müller erkannte. Ich lag mit dem Gesicht nach unten, und ich hörte ihre forschen Schritte auf dem harten Holzboden.
„Daniel, das ist wirklich unerhört! Musst du denn immer ...?“
Sie packte mich an meiner Schulter und zerrte mich herum. Und nun sah die ganze Klasse mein tränenüberströmtes Gesicht. Ich war entblößt, für immer und ewig entblößt.
„Oh je“, meinte Frau Müller. „Oh je ...“
Sie setzte sich neben mich auf den Boden und nahm mich in den Arm. Da und dort hörte ich das hämische Kichern meiner Mitschüler, aber ich weinte trotzdem weiter, konnte ja nicht anders. Ich war am Ende, in jeder Hinsicht. Frau Müller nahm meinen Kopf, drückte ihn gegen ihre Brust, und fuhr langsam mit ihrer Hand durch meine Haare. Das machte alles nur noch schlimmer. Ich spürte, wie ein zweiter, vielleicht noch heftigerer Anfall sich in mir ankündigte. Diese Zärtlichkeit ... es war einfach zu viel. Viel zu viel.
„Oh je“, sagte Frau Müller immer wieder. „Oh je ...“