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No Way Out
Die Sonne geht unter. Wie ein großer Feuerball versinkt sie im Meer. Am weißen Sandstrand stehen Palmen. Die Blätter wiegen sich im Wind. Die Brandung schäumt. Die Wellen plätschern leise. K. kann sich von dem Poster an der nackten Betonwand fast nicht losreißen. Zu verlockend, zu romantisch. Der Alltag hat ihn wieder.
Die Normalzeituhr zeigt 26. April 1986 03:00am.
Das Kontrollzentrum hat eine grelle Neonbeleuchtung. An den Wänden stehen 19 Zoll Schaltschränke mit Servern und Netzwerkkomponenten. Die Lüfter surren leise. Es ist kalt im Raum. Die Klimaanlage leistet ganze Arbeit. Auf den grünen Bildschirmen huschen Zahlenkolonnen vorbei. Es blinken viele Lichter, tanzen Zeiger auf großen Skalen.. Im Hintergrund surrt ein Bandlaufwerk. Das Drehen der Bandspulen hat eine fast magische Wirkung. Ein Wunder der Technik. Unterdruckkammern verhindern den Bandriss. Daten sichern. Daten archivieren. Daten, immer abrufbereit. Die Luft riecht nach Schweiß, kaltem Kaffee und Zigarettenrauch. Hier ist Rauchen strengstens verboten, aber in der Nacht ist es langweilig. Und ein richtiger Raucher lässt sich nicht abschrecken. Den Rauchmelder mit einem Stück Stanniolpapier umwickeln. Wo ein Wille, da auch ein Weg.
Der alte Kettendrucker spuckt ratternd Berge von Papier aus. Modems synchronisieren mit dem typischen Pfeifgeräusch. Ein Lochkartenleser frisst – wie ein unersättliches Ungeheuer – Berge von bunten Lochkarten. Auf einem Tisch liegen, malerisch verteilt, alte Bauteile. Ein Lötkolben, Zangen, Draht. Hier wird alles verwertet. Neues gibt’s schon lange nicht mehr. K. ist darin ein Künstler. Er kann sich stundenlang mit widerspenstigen Schaltungen beschäftigen. Aus alt mach neu.
Die Normalzeituhr zeigt 26. April 1986 06:00am
Schichtwechsel.
Das Stanniolpapier vom Rauchmelder entfernen. Die Zigaretten entsorgen.
Die Ablösung ist da. K. geht auf einer rostigen Stahltreppe in sein Zimmer. Die ganze Anlage ist unterirdisch. In einem Granitberg. Strahlensicher. Autonom auf Jahre. Treibstoff für die großen Schiffsdiesel auf 10 Jahre. Ein kleiner Atomreaktor für den Notfall. Konserven. Trockengerichte. Wasseraufbereitung. Eigener Tiefbrunnen. Die Luft wird mit Kohlefilter gereinigt. Sie hat einen eigenen Geruch, ein bisschen nach heißem Öl.
In seinem Zimmer ist nur wenig Inventar. Ein Bett. Ein kleiner Tisch. Eine Bibel. Ein Stuhl. 10 Quadratmeter. Weiß gekalkte Betonwände. Eine zuckende Neonröhre. In der Wand ein eingebauter Spind. K. zieht seine Uniform aus, und wirft sie achtlos über den Sessel. Er vermischt die Trockennahrung mit Wasser. Schnell gegessen, die grausliche Pampe. Ein tiefer, traumloser Schlaf. Tag und Nacht haben hier keine Bedeutung. Der Ablauf der Ereignisse ist in ein strenges militärisches Korsett gepresst und lässt keine Freiheiten zu. Alles ist geplant. Der Computer entwirft die Schichtpläne. Er steuert die Luft, die Klimaanlage, einfach alles. Zuwenig Personal. Die meisten sind krank. Das Essen, die Hoffnungslosigkeit, keine Sonne. Nie mehr Sonne. Die Außenwelt hat sich in eine unwirtliche Wüste verwandelt. Ein kleiner Atomreaktorunfall in Europa. Ein Supergau. Kettenreaktion. Die Welt ist seit vielen Jahren verstrahlt. Alles Leben ausgelöscht. Es gibt nur mehr die Menschen hier um Bunker. Granit. Strahlenfest. Für die Ewigkeit gebaut. Die Lage ist hoffnungslos.
Die Alarmsirene ertönt. Alarm, Alarm. Überall blinken rote Lampen. Sie tauchen die Gänge in ein gespenstisches Licht. Rot, rot wie Blut. K. springt aus dem Bett. Rasch in die Uniform. Die Pistole umgeschnallt. Das ist Vorschrift.
Er läuft zum Kontrollzentrum. Die Kontrollen sind im roten Bereich. Zeiger huschen hektisch über die Skalen. Die Zahlenkolonnen zeigen viel zu hohe Werte. Mit einem lauten Knall fällt der Hauptserver aus. Das Netzteil defekt. Die Bildschirme erlöschen. Nur mehr der Cursor blinkt vor sich hin. Durch die Gänge ziehen Rauchschwaden. Das Löschsystem funktioniert schon lange nicht mehr. Der Atomreaktor hat keine Kühlung mehr. Die Notabschaltung funktioniert nicht – eingerostet. Der Strom in der ganzen Anlage fällt aus. Flackernd beginnt ein fahles Notlicht aufzuglühen. Menschen laufen panisch durch die Gänge. Schreie. Hilferufe. K. hat die Panzertüre zur Kommandozentrale verriegelt. Das ist Vorschrift. Die Steuerungseinheit muss auf jeden Fall überleben. Die alten Notstrombleibatterien halten noch 1 Stunde.
Die Kühlung ist ausgefallen. Es wird heiß und stickig. Die Luft beginnt sich mit Rauchschwaden zu füllen. Der Server muss wieder laufen. Dann wird alles wieder gut. K. zieht das Netzteil heraus und beginnt es hektisch zu zerlegen. Vollkommen abgebrannt. Wahrscheinlich ein Spannungsstoß. Er beginnt mit der Reparatur. Ein neuer Trafo. Kondensatoren schnell ausgebaut. Im Überwachungsmonitor sieht er panische Menschen, die an seine Panzertüre klopfen. Schreie. Hilferufe. Die Türe muss geschlossen bleiben. Der Server ist wichtiger als Menschenleben. Das ist Vorschrift. Er dreht den Ton ab. Der Server muss repariert werden, um jeden Preis. Ein Spannungsregler eingelötet. Geschafft. Das Netzteil wieder einbauen. Power On. Leise surrend beginnt der Rechner zu laufen. Auf den Bildschirmen erscheint
Booting…. Please wait
System cold start
Checking all components
Temperature of the board 41°
Memory check ok
Spinning disks up
RAID full functional
System coming up
Startup completed
Welcome to the USAF Computer Network
Please login:>
Please login:>
Please login:>
Aber niemand kann mehr einloggen. K. liegt am Boden. Keine Luft, die man atmen kann. In den Gängen sind alle Schreie verstummt. Niemand mehr da. Alles ist vorbei.
Die Normalzeituhr zeigt 26. April 1986 09:00pm
Surrend öffnen sich die Außentüren. Teams in Schutzanzügen räumen auf. Stellen die Ordnung wieder her. Die Menschen werden in ihre Quartiere gebracht. Gehirnwäsche. Injektionen. Löschen der Erinnerung. Ein starkes Ventilationssystem saugt den Rauch ab. Alles wieder wie vorher.
Am Äußeren Eingang steht ein Multiplast Schild:
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NEU!
Erleben Sie die letzten Tage der Menschheit!
Alles echt! Alles live!
Ihr Überlebenskampf, ihr Alltag, ihr Tod.
Jeden Tag non-stop. Ein Erlebnis für die ganze
Familie. Die letzten noch lebenden Menschen.
Ihre alte Technik. Ihre Arroganz. Ihre Dummheit.
Die Geschichte startet immer am 26.April 1986
Am historischen Tag:
Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986
im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der Stadt Prypjat, Ukraine
(damals Sowjetunion) als Folge einer Kernschmelze und Explosion
im Kernreaktor Tschernobyl Block 4. In weiterer Folge wurde durch
die entstandenen Kettenreaktionen schließlich die ganze Erde
verstrahlt und die Menschheit ausgerottet.
Diese Attraktion wird Ihnen präsentiert
von den Bewohnern des Planeten QR2344Y
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Die Besucher der Vorstellung haben schon Platz genommen. In einer kleinen Einführung sieht man eine kurze Zusammenfassung über die Geschichte der
ehemaligen Menschheit. Das Atomunglück und Ihr Ende. Die Holoprojektoren
beginnen zu surren. Man sieht einen kahlen Raum, mit greller Neonbeleuchtung.
An einer Wand hängt ein Poster mit der untergehenden Sonne. In der Mitte sitzt ein Mann, im mittleren Alter, mit Uniform.
Die Normalzeituhr zeigt 26. April 1986 03:00am.
K. sitzt in seinem schäbigen Rollsessel und betrachtet das Poster mit dem Sonnenuntergang. Es ist ein Tag wie jeder andere. Er fühlt sich schon fast wie ein Roboter. Kein Ausweg. Fast so, als wenn er in einer Zeitschleife gefangen wäre, und den gleichen Tag immer von neuem erlebt. Das ist absurd. Vollkommen unmöglich. Er spürt die Pistole an seiner Koppel. Doch ein Ausweg? Er hat Angst. Aber der Militärische Drill wirkt. Die Selbstdisziplin. Befehle müssen ausgeführt werden – ohne wenn und aber. Unbedingtes Gehorchen. Kein Platz für Individualisten. Der Einzelne ist unwichtig, die Gemeinschaft muss überleben.
Der alte Kettendrucker beginnt zu rattern. Spuckt Papier aus.
Endlospapier – endlos.