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Noch ein Tag
Die Musik von EinsLive riss Peter aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen und schaute sich orientierungslos in dem wegen der Rollläden völlig dunklen Raum um. Als seine Augen die leuchtend roten Ziffern des Radioweckers erblickten, musste er mehrmals zwinkern um die Zahlen zu erkennen. Der Wecker zeigte 6:10 Uhr. Noch ein paar Minuten, dachte Peter und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Wie schön wäre es, wenn er einfach liegen bleiben könnte. Doch dazu fehlte ihm der Mut und er hatte schon genug Ärger auf der Arbeit. Widerstrebend schlug er die zerwühlte Decke zur Seite und quälte sich aus dem Bett. Er stieß mit seinem Fuß an eine leere Colaflasche, die über das Laminat polterte und unter dem Schreibtisch liegen blieb.
Scheiße, dachte Peter und schaltete das Radio aus. Vorsichtig tapste er weiter in Richtung Tür. Einige Brotkrümel blieben an seinen Fußsohlen kleben.
Ich muss unbedingt die Wohnung mal wieder putzen - aber wann soll ich das alles schaffen. Verzweiflung überkam ihn. Er bekam sein Leben nicht in den Griff, weder bei der Arbeit noch privat und hatte das Gefühl es ihm entgleiten. Selbst auf die einfachsten Aufgaben konnte er sich nicht mehr konzentrieren.
Mir unterlaufen zu viele Fehler, sagte sich Peter, wie schon so oft in den letzten Wochen und nahm sich vor, sein Leben besser zu organisieren. Doch abends nach der Arbeit fühlte er sich zu erschöpft, sein Vorhaben umzusetzen und mit jedem Versuch wuchs das Gefühl ein Versager zu sein.
Das warme Wasser der Dusche prasselte auf sein Gesicht und schien den gehetzten Gesichtsausdruck mit in den Ausguss zu spülen. Er entspannte sich und blieb länger als nötig unter der Dusche stehen, um diesen schwerelosen Moment zu genießen.
Widerwillig stellte er das Wasser ab und zog den mit blaugrauen Möwen und von Kalkflecken übersäten Duschvorhang zur Seite. Sein Blick fiel auf den übervollen Wäschekorb und sofort breitete sich wieder Resignation auf seinem Gesicht aus. Er warf das graue Handtuch zum Stapel. Die Nebelschwaden verzogen sich langsam und der Spiegel gab Peters mutloses Gesicht frei. Zwei gehetzt wirkende, in tiefen Höhlen liegende Augen blickten ihn an. Ein Drei-Tage-Bart spross auf seinen eingefallenen Wangen. Von seinem eigenen Spiegelbild entsetzt schaute er sich im Badezimmer um.
Die Batterien der elektrischen Zahnbürste waren leer und die Liste in seinem Kopf wurde noch länger. Die Wäsche, die leere Shampooflasche, Zahnpastaspritzer am Spiegel, Staub auf der Badezimmerablage, kalkbedeckte Armaturen und mit Fusseln übersäter Boden.
Ist alles nicht so wichtig, dachte er, als er das Licht ausschaltete und die Badezimmertür schloss.
In der Küche setzte er sich an den mit Werbeprospekten und Arbeitsberichten übersäten Tisch. Peter hatte den Überblick verloren und seine Selbstzweifel wuchsen wie die Mängellisten des Marktleiters. Er wusste, dass es unmöglich war, die ganze Arbeit in dem vorgegebenen Zeitraum zu schaffen und trotzdem fühlte er sich, als habe er versagt. Vor ein paar Wochen, als er das Gespräch mit dem Betriebsrat führte, hatte er noch gehofft die Schikanen seines Vorgesetzten würden bald ein Ende haben. Doch nichts hatte sich geändert. Unter den ganzen Blättern suchte er nach den Zigaretten und dem Aschenbecher.
"Rauchen fügt ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu" stand schwarz umrandet auf der Schachtel. Peter zuckte gleichgültig mit den Schultern und zündete sich eine an. Er sog den Rauch tief ein und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Dann begann er lustlos die Arbeitsunterlagen zu sortieren und steckte sie in die Innentasche seiner über dem Stuhl hängenden Jacke.
So kann ich sie wenigstens nicht vergessen dachte er, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.
Mit einiger Mühe schaffte er es aus den abgerissenen Schnürsenkel noch eine Schleife zu binden, bevor er seine speckige Arbeitsjacke anzog und sich auf den Weg zur Arbeit machte.
Im Aufenthaltsraum saßen schon einige Arbeitskollegen und Peter atmete erleichtert auf, als er seinen Chef nicht entdecken konnte. Nach einem kurzen Gruß an die Kollegen verstaute er seine Sachen im Spind und verließ den Raum sofort wieder, um ihren mitleidsvollen Blicken zu entgehen. Von seinen Kollegen hatte er keine Hilfe zu erwarten. Am Büro des Marktleiters schlich er vorbei und versuchte aus den Augenwinkeln heraus zu erkennen, ob der Chef schon da war. Der Stuhl war leer.
Wenn ich Glück habe, ist er heute vielleicht gar nicht da, dachte Peter und genoss die Vorstellung einen ruhigen Tag zu haben.
Nach einer Stunde ertönt aus dem Lautsprecher:
"Herr Brenter bitte ins Marktleiterbüro!"
Peter zuckte zusammen. Auf seiner Stirn bildete sich kalter Schweiß und er spürte wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Mit jedem Schritt, den er der Bürotür näher kam, beschleunigte sich sein Herzschlag. Fieberhaft überlegte er, ob er irgend etwas vergessen oder eine Arbeit übersehen hatte. Auch dass ihm nichts einfiel beruhigte ihn nicht. Sein ganzer Körper war angespannt als er vor der Bürotür stand und zaghaft klopfte. Das gedämpfte "Herein" nahm er kaum noch war.
Er öffnete die Tür und überblickte schnell das Büro. Der Marktleiter war nicht da, doch der kurze Hoffnungschimmer erstarb, als er den Gebietsleiter, Herrn Einemann, sah. Jetzt wird es ernst fuhr es ihm durch den Kopf, als er sich marionettenhaft auf einen Stuhl sinken ließ.
„Wir haben ihre Beschwerde beim Betriebsrat sehr ernst genommen und sind allen Verweisen und Abmahnungen, die ihnen Herr Schmitz seit ihrem Krankenschein erteilt hat, nachgegangen.“ Der Gebietsleiter warf dem Stellvertreter einen kurzen Blick zu: „Wie mir Herr Müller bestätigt hat, fühlte sich Herr Schmitz durch diesen Krankenschein persönlich gekränkt.“
Peter war völlig verwirrt. Das war der Grund für die wochenlangen Schikanen?
„Wir haben Herrn Schmitz beurlaubt und er wird das Unternehmen verlassen. Herr Müller wird sein Nachfolger....“
Am liebsten wäre Peter vor Freude aufgesprungen, doch er beherrschte sich und nur ein zufriedenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
Zwei Tage später.
Die Musik von EinsLive zieht Peter aus seinen Träumen. Er steigt aus dem Bett und an seinen Fußsohlen spürt Peter die angenehme Kühle des glatten Laminat. Als er in das aufgeräumte und geputzte Badezimmer, kommt fällt sein Blick zuerst auf den mit blauen Delphinen verzierten Duschvorhang. Der Wäschekorb ist leer und die Wäsche hängt zum Trocknen im Keller.
In der Küche liegt eine neue Tischdecke auf dem Tisch und der Aschenbecher ist sauber. Für den Abend hatte Peter einige Freunde zu sich eingeladen.
Heute Abend werde ich ihnen erzählen, dass mein Chef entlassen worden ist, wegen Mobbing, denkt Peter zufrieden, als er dem Zwitschern der Vögel vor dem offenen Fenster zuhört.