Nora
Nora schaute an sich herunter. Jetzt war es also soweit, der Bleistift blieb hartnäckig an seinem Platz, - horizontal direkt über ihrem Herzen. Es machte auch keinerlei Sinn, die Schultern nach hinten zu ziehen, ihre Brust hatte den Stift fest im Griff.
Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel und begann, langsam auf den Zehenspitzen zu wippen. Es dauerte nicht lange, und der Bleistift fiel zu Boden. „Wenigstens muss ich noch nicht springen“ murmelte Nora und legte den Stift zurück in die Schale auf ihrem Schreibtisch, zog sich den Kimono über und ging ins Bad, um die Wasserhähne zu schließen.
Ein intensiver Blumenduft hüllte sie ein. Der bunte Strauß Freesien, ihre Lieblingsblumen, schmückte das wohlig warme Badezimmer.
Nora zündete die Kerzen an und stieg in die Wanne. Zufrieden lächelnd lehnte sie sich zurück.
Auf diesen Abend hatte sie sich gefreut, Bernd war mit Geschäftsfreunden zum Essen verabredet, und es würde bestimmt spät werden. Sie hatte sich vorgenommen, diese Stunden ausschließlich sich selbst zu widmen, - mit all den Accessoires, die ihrer Meinung nach dazu gehörten, Kerzen, Blumen und leise Musik. Ärgerlich, sie hatte die Musik vergessen, und der CD - Player stand noch unten im Wohnzimmer. Die Vorstellung, jetzt tropfnass durchs Haus zu laufen, überzeugte sie recht schnell, dass es auch ohne musikalische Untermalung ging.
Nora schloss die Augen, und prompt sah sie den Bleistift vor sich. Hätte sie doch bloß nicht diesen albernen Test gemacht, der ihr jetzt so langsam die gute Laune vertrieb. „Dabei ist es doch ganz normal, dass ich nicht mehr die Figur einer Zwanzigjährigen habe“ versuchte sie, sich zu trösten.
„Und überhaupt, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mir diesen lächerlichen Bleistift unter die Brust zu klemmen, wenn ich nicht ständig daran denken müsste, wie Martin reagieren wird, wenn er mich nach so vielen Jahren demnächst wiedersehen wird.
Nora rechnete zum wohl hundertsten Mal nach, wie lange es her war, dass sie und Martin sich getrennt hatten.
Es blieb wie gehabt bei fast 22 Jahren. Eine lange Zeit, in der keiner vom anderen etwas gehört hatte, ja, - bis vor vier Wochen die Einladung zum Klassentreffen bei ihr eintraf.
Martin war damals ihr Geschichtslehrer in der Abendschule, wo sie schlussendlich mit Müh’ und Not das Abitur abgelegt hatte.
Jetzt wird sie nächsten Monat nach Berlin fahren, und laut Teilnehmerliste wird auch Martin dort sein.
Lächelnd schubste Nora mit ihrem rechten großen Zeh den Badeschwamm durch das Wasser.
Liebe war es damals, - die ganz große Liebe, die sie in dieser Form nie wieder erlebt hatte.
Was wohl aus Martin geworden war, aus diesem Mann, der heute Mitte Fünfzig war? Ist er verheiratet, ist er vielleicht sogar schon Großvater? Möglich wäre es ja ohne weiteres.
Nein, Nora schüttelte den Kopf, er wird nicht verheiratet und schon gar nicht Großvater sein. Irgendwie konnte sie es sich einfach nicht vorstellen. Dieser Mann, der immer den größten Wert auf Unabhängigkeit und seine Freiheit legte, der sich das Leben so facettenreich wie möglich gestaltete, - sie konnte ihn sich einfach nicht im gestreiften Pyjama vorstellen, wie er Abend für Abend in ein und dasselbe Ehebett stieg.
Als Nora ihn kennenlernte, war sie zwar keine Jungfrau mehr, aber auf eine gewisse Art doch unberührt geblieben.
Das mit Martin war, - ja, und es blieb etwas Einzigartiges.
Er hatte ihr seine unabänderliche Geographie der Liebe aufgezeichnet. Berge, Täler, alles, was fließt, in Bewegung bleibt, sich ständig verändert, oder das, was konstant und unverrückbar blieb, - wie seine Grenzen. Martins größte Sorge war immer, dass Nora diese, von ihm bestimmten Grenzen überschreiten könnte.
So jung wie sie damals war, konnte sie das nicht verstehen, denn es gab doch Momente, in denen Martin diese, sonst von ihm so scharf bewachten Grenzen völ-lig ignorierte, - immer, wenn sie miteinander schliefen.
Sex mit ihm waren die Berge, die man lustvoll bestieg, Täler, in die man sich hineinstürzen konnte, stets in der Gewissheit, dort sanft im erfrischend kühlen Gras zu landen. Sex mit Martin war ein Austausch fließender Bewegung und auch völliger Stillstand der Zeit, - aber es gab niemals und nirgendwo eine Grenze, die sie zurückwies.
Nora drehte noch einmal das heiße Wasser auf, sie hatte plötzlich das Gefühl zu frieren, aber selbst, nachdem der Spiegel gegenüber der Wanne beschlagen war, ließ dieses Gefühl nicht nach. Verwundert bemerkte sie, dass sich etwas veränderte. Eine Gänsehaut überzog plötzlich den ganzen Körper, ihre Brüste wurden fest, ja, geradezu prall. Nora beobachtete, wie sich ihre Brustwarzen langsam aufrichteten.
Offenbar schien sich ihr Körper der Erinnerung schneller hinzugeben als ihr Geist.
Aber noch ehe sie sich darüber wundern konnte, liefen die Bilder vor ihrem inneren Auge ab, Bilder, denen sie in all den Jahren nicht erlaubt hatte, aus den Tiefen der Vergangenheit aufzutauchen.
Da war Martin, - sein, mit einem dünnen Schweißfilm bedecktes Gesicht dicht vor ihr. Sie wollte mit ihrer Zungenspitze eines dieser winzig kleinen Tröpfchen aufnehmen, aber es war zu spät, denn sein Gesicht war jetzt in ihrer Halsbeuge verborgen, und sein Kinn kitzelte das kleine Muttermal direkt über ihrem Schlüsselbein. Sie begann schneller zu atmen, und ihre Hände vergruben sich in seinem Haar.
„Dreh’ dich um“, flüsterte er kaum hörbar, wobei der Druck seiner Hand unter ihrer rechten Hüfte fordernd wurde. Sie gab nach, und kaum lag sie auf dem Bauch, fühlte sie genussvoll seine Lippen ihren Nacken liebkosen. Langsam bewegte sich seine warme und herrlich feuchte Zunge abwärts, dabei jeden einzelnen Wirbel umrundend.
Ruckartig setzte sich Nora auf. Der Freesienduft war noch intensiver geworden, die Kerzen strahlten jetzt doppelt in dem mittlerweile wieder klaren Spiegel, und irgendwie glaubte sie auch, Musik zu hören. Ganz von fern, aber sehr vertraut.
„Das kann nicht wahr sein“, schoss es ihr durch den Kopf, „wie kann etwas so gegenwärtig sein, was Lichtjahre zurückliegt?“
Erst jetzt bemerkte Nora, dass sich ihr Schwamm nicht mehr langsam zwischen den Schauminseln hin und her bewegte, sondern von ihren Schenkeln gehalten wurde. Sie war aber nicht in der Lage, ihn loszulassen. Ganz im Gegenteil, sie presste die Beine fester zusammen und gab sich ganz diesem Gefühl hin, - ein sanfter Druck auf jenen kleinen Punkt ihres Körpers, der so viel auslösen konnte.
Nora ließ sich wieder zurücksinken in die angenehme Wärme des Wassers.
Martin, - da war er wieder, und sein Lächeln forderte sie zärtlich auf, sich nicht noch einmal ablenken zu lassen.
Sie betrachtete ihn und war erstaunt, dass ihr alles so vertraut erschien, sein Gesicht mit diesen dunklen Augen, die scheinbar jederzeit in der Lage waren, bis in ihr tiefstes Innere zu schauen, - seine Hände, feingliedrig und so sanft, - sein Körper, der ihr immer so unendlich begehrenswert erschien.
Fast unmerklich zitternd griff Nora nach Martin. Als ihre Lippen ihn sanft umschlossen, stöhnte er leise auf, und Nora begann, mit ihrer Zungenspitze auf dieser seidig glänzenden, leicht zuckenden Vulkanspitze zu tanzen.
Zwischen ihren Schenkeln begann es zu brennen, aber auch ihre Feuchtigkeit konnte ihr keine Linderung verschaffen. Feuer und Wasser, die sich gegenseitig nichts antun konnten.
Millimeterweise bewegte sich Noras Zunge tiefer, und während ihre Hände Martin an den verborgensten Stellen zart massierten, bemerkte sie, wie er sich aufrichtete und ihren Kopf in beide Hände nahm.
„Es ist schön, aber du solltest jetzt besser aufhören, sonst ist gleich alles vorbei.“ Seine Stimme klang gepresst und irgendwie rau.
Langsam zog er sie zu sich hinauf, und als sie in seine Augen schaute, sah sie darin dieses flackernde Licht, das ihr, so wie jedes Mal, auch heute wie ein glühender Pfeil durch den Körper schoss.
Sie benetzte einen Finger mit ihrer warmen Feuchtigkeit und streichelte eine seiner Brustwarzen damit, während sie die andere in den Mund nahm und leicht daran zu saugen begann.
Währenddessen bewegte sich Martins Hand langsam zwischen ihren Beinen. Sie sah an sich herunter, - ihr Schamhaar glitzerte vor Nässe und auch an den Schenkeln war diese nicht zu übersehen. Ihre Augen schlossen sich, und sie gab sich ganz ihrem Empfinden hin.
Tief in Noras Innerem entstand so etwas wie eine Flutwelle, es begann zu rauschen, schwoll an und füllte sie schließlich aus. Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, und Martins Hand, oder war es jetzt seine Zunge, - die ihr Innerstes aufblätterte, hörte nicht auf, die Musik dazu zu spielen.
Nora ließ sich fallen, und das inzwischen tosende Geräusch, Gefühl, - die tausend Finger der Lust drangen durch jede einzelne Pore ihres Körpers.
Verzweifelt versuchte sie, auf dieser Brandungswelle zurückzuschwimmen, aber es war unmöglich, und sie war sicher, jeden Moment zu ertrinken, - in dieser warmen, vertrauten Umgebung.
„Nimm’ mich in den Arm“, sie tastete nach Martin, „halt’ mich fest, bitte“.
Nora öffnete die Augen.
Kerzenschein, der sich strahlenförmig im Spiegel zeigte und ein schwerer Blumenduft umgaben sie.
Die Oberfläche des Badewassers kräuselte sich leicht, so, als hätte nur ein kleiner Windstoß sie in ihrer Ruhe gestört.
Fast automatisch zog Nora den Stöpsel aus der Wanne, und leise gurgelnd verschwand das Wasser im Abfluss.
Sie fror, sie fror plötzlich erbärmlich und hatte nur noch den Wunsch, sich zwischen Decken und Kissen in ihrem Bett zu vergraben.
Langsam trocknete sie sich ab, brachte Blumen und Kerzen zurück ins Wohnzimmer, und als sie dann endlich im Bett lag, konnte Nora ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie jetzt weinte, aber es tat gut, - unendlich gut.